„Ihr könnt mich umbringen“

Folge 2: Im Fuchsbau

06:02 Minuten
Ein Kauernder Jugendlicher in einer Gefängniszelle
Höhepunkt der Misshandlungen in Torgau: Der Fuchsbau © Anselm Magnus Hirschhäuser
Von Nathalie Nad-Abonji und Alexander Krützfeldt  · 09.09.2018
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Wenige Monate vor dem Mauerfall planen vier Jugendliche die Flucht aus dem Jugendwerkhof Torgau. Dafür sind sie sogar bereit zu morden. Die Flucht scheitert. 30 Jahre später erzählt ein Zeitzeuge, welche Strafe ihn bis heute quält.
"Ich war in diesem Fuchsbau, aber ich war nicht lange da drinnen, nur ein paar Stunden. Das hat ausgereicht."
Am nächsten Morgen erfahren die Erzieher von dem Mordversuch, trennen die Jungs und bringen Marko und die anderen drei in den Keller. Einzelarrest. Marko muss in den Fuchsbau. Ein Kellerloch, 1 Meter 30 hoch, 1 Meter 60 breit und stockfinster. Der knapp 16-jährige kann darin weder stehen noch liegen oder sitzen, weil der Boden im Keller feucht ist. Er muss kauern.

Immer noch Albträume

"Ich habe heute deswegen noch Albträume. Manchmal wache ich nachts schweißgebadet auf und dann habe ich diese ganzen Zellensituationen – es sind ja verschiedene Zellen, die ich gesehen habe. Es ging ja schon im Spezialkinderheim los."
Pritsche, Hocker und ein vergittertes Fenster in einer Einzelarrestzelle
Eine Einzelarrestzelle in Torgau © Archiv Gedenkstätte GJWH Torgau
Der Fuchsbau im Geschlossenen Jugendwerkhof ist der Höhepunkt der Misshandlungen. Markos Leidensweg aber beginnt viel früher: Marko wird adoptiert, als er drei Jahre alt ist. Schon bald ist die Adoptivmutter überfordert und lässt ihn in eine Kinderpsychiatrie einweisen. Eine genaue Diagnose gibt es nie.

Vollgepumpt mit Medikamenten

Dennoch muss Marko dort bleiben und wird drei Mal täglich mit starken Medikamenten vollgepumpt – insgesamt 10 Jahre lang. Obwohl er unter den Nebenwirkungen leidet. Nach den Jahren in der Psychiatrie beginnt seine Reise durch verschiedene Heime der DDR. Eine exemplarische Kindheit – wird mir klar, je mehr Akten solcher Jugendlicher ich lese.
So ähnlich muss es auch bei Paul, der sterben will, gelaufen sein.
"Er hatte als Kind alle Heime und Einrichtungen durchgemacht, wollte dieses Leben nicht. Ob er Eltern hatte oder nicht, weiß ich nicht. Aber er hat gesagt, die haben ihn auf diese schlechte Welt geschickt, und er will das nicht mehr. Ich wusste sehr genau, wovon er redet. Ich konnte das sehr gut nachempfinden, denn ich hatte auch schon mal solche Gedanken gehabt."
In Markos Akte sind mehrere Suizidversuche vermerkt. Immer mit dem Hinweis, der Junge wolle damit nur Aufmerksamkeit einfordern.
"Tatsächlich war es schlimm. Jemand, der sich nicht umbringen will, schneidet so, quer. Wer sich wirklich umbringen will schneidet so. Sehen sie die Narbe? Da steckt ein ernsthafter Wille dahinter. Da war ich zwölf Jahre oder elf. Genau weiß ich es nicht mehr."

Suizidversuch als Elfjähriger

Marko ist also noch ein Kind und bereits gebrochen. Mit 14 wird er vom Heim für Schwererziehbare in einen sogenannten Jugendwerkhof überwiesen. Statt zu arbeiten würde er lieber zur Schule gehen und protestiert. Daraufhin lässt ihn der Heimleiter in den einzigen Geschlossenen Jugendwerkhof der DDR einweisen. Nach Torgau in Sachsen, rund 50 Kilometer nordöstlich von Leipzig.
Offiziell ist Torgau kein Gefängnis, sondern eine Einrichtung der Jugendhilfe für Mädchen und Jungen zwischen 14 und 18 Jahren.
"Was die mit Menschen gemacht haben, geht nicht, das geht gar nicht. Und deswegen tue ich das hier: um diesem Ossi-Verklärungsdrang etwas entgegen zu wirken."
Marko hat sich für das Gespräch mit mir freigenommen, von seinem Job als LKW-Fahrer. Nun redet er seit Stunden – als habe der mittlerweile 45-jährige darauf gewartet, dass ihm endlich jemand zuhört.
Eine Kaffeetasse und eine Hand, die den Kaffee umrührt
Sich etwas von der Seele reden, befreit auch manchmal© Anselm Magnus Hirschhäuser
"Sich etwas von der Seele zu reden befreit auch manchmal."
Wie groß Markos Bedürfnis auch in den nächsten Monaten sein wird, mir immer neue Details dieser unfassbaren Geschichte zu erzählen, ahne ich bei unserem ersten Treffen nicht. Ich bekomme von nun an immer neue Textnachrichten von ihm. Ein Getriebener. Nachts setzt er sich an seinen Computer und will herausfinden, was aus den anderen Jungs geworden ist, die damals mit ihm fliehen wollen. Nur Paul, den sucht er nicht. Im Gegenteil, er fürchtet sogar den Kontakt. Denn bis heute verfolgt Marko, dass er mit knapp 16 Jahren beinahe zu Pauls Mörder geworden wäre.

Vom Fuchsbau ins Gefängnis

Als die Kriminalpolizei am 10. Juli 1989 im Geschlossenen Jugendwerkhof eintrifft, kauert Marko noch immer im Fuchsbau, diesem dunklen Loch im Keller. Die Polizisten bringen ihn und die drei anderen Jungs ins Gefängnis nach Leipzig. Es ist der Sommer vor dem Mauerfall und auf der Straße wird demonstriert. Marko fühlt sich wohl mit all den politischen Häftlingen. Sie kümmern sich um ihn. Aus ihrer Sicht ist er ein Kind. Weil seine Zellengenossen kaum glauben können, dass dieser Bengel wegen versuchten Mordes angeklagt ist, vermitteln sie ihm einen Rechtsanwalt.
"Mein Rechtsanwalt von damals, das war eine Kanzlei Miehe und Höhne. Das war ein ganz junger, der praktiziert bestimmt heute noch."
Wir möchten möglichst bald mit dem Anwalt sprechen, ihn befragen. Er könnte uns helfen besser zu verstehen, wer tatsächlich Schuld hat, wenn Kinder bereit sind zu morden - auch im juristischen Sinne.
Was damals mit Paul, der sich freiwillig opfern will, passiert, finde ich schon vorher heraus - mit Hilfe der akribisch geführten Belegungsbücher des Geschlossenen Jugendwerkhofs: Paul muss bis Ende September 89 in Torgau bleiben.
Wohin er dann gebracht wird und wie es ihm heute geht, wissen wir auch nach zwei Monaten Recherche nicht. Wir finden lediglich drei Facebook accounts unter Pauls Namen. Dort bewertet er Computerspiele. Sonst nichts.
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