Ihme-Zentrum in Hannover

Wohnen über bröckelndem Beton

30:29 Minuten
Ein Ruderboot am Ihme-Zentrum auf dem gleichnamigen Fluss.
Idylle neben Verfall: Ein Ruderboot auf dem Ihme-Fluss am gleichnamigen Zentrum in Hannover. © Marietta Schwarz
Von Marietta Schwarz · 02.12.2019
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Ein 700 Meter langer Sockel, darauf Wohn- und Bürohochhäuser: das Ihme-Zentrum in Hannover. In dem maroden Beton-Bau aus den 70ern wohnen noch immer Menschen, das Geschäftsleben im Sockel ist jedoch lange passé. Nun soll die spannende Architektur wiederbelebt werden.
Wenn man auf einen gestrandeten Wal trifft, geht es diesem Tier nicht gut. Es liegt da, wo es nicht hingehört, es müsste ins Wasser zurück. Doch das Tier ist so groß, dass keiner ihm dabei helfen kann. Der Wal befindet sich in einer aussichtslosen Situation.
Häufig greift man aber auch in der Architektur, im Städtebau nach dem Bild des gestrandeten Wals: Wenn es um gescheiterte Großprojekte geht, oder Entwicklungen, die man nicht mehr im Griff hat. Da liegt diese Kongresshalle, dieses Einkaufszentrum, dieser Soziale Wohnungsbau…. Da liegt dieses Stück Stadt wie ein gigantisches totes oder fast totes Tier. Und keiner weiß, was damit geschehen soll.
"Tauben sind Felsenbewohner, und die sitzen überall, wir haben ein dickes Taubenproblem, weil die sich überall einnisten und überall noch Ecken finden", sagt Detlef Reuleke.
"Und jetzt stehen wir hier aber an einem Ort, der dem Begriff der "Ruine" zumindest auf der Ebene, auf der wir stehen, ziemlich nahe kommt." Das bin ich, Marietta Schwarz, die Autorin.
"Ja genau."
"Wir stehen hier quasi auf so ner Art Teilrückbau, ja?"
"Ja."

Projekte mit utopischem Charakter

Meistens handelt es sich um Projekte aus den 1960er-, 70er-Jahren. Als man hierzulande noch mutig im großen Maßstab dachte, so wie es heute nur noch in asiatischen Megacities geschieht. Als man baulich etwas wagte und dafür auch keine finanziellen Risiken scheute.
"Ich glaub man hat damals auch den neuen Menschen als solchen einfach überschätzt."
Projekte mit utopischem Charakter, die nicht nur, aber auch, durch den Einsatz eines Materials erst möglich wurden, das heute als schwer recycelbar viel kritischer betrachtet wird als damals: Beton.
"Beton hat ne ganz komplizierte Bedeutungsgeschichte hinter sich", erklärt Felix Torkar. "Es ging schon im späten 19. Jahrhundert los. Für die ersten Generationen hatte das noch eher was Mystisches, und auch was Natürliches, weil es eigentlich gegossener Stein ist. Man hat flüssigen Stein, und wenn das ausgehärtet ist, hat man eigentlich wie die Natur einen Felsen geschaffen.
Das hat sich dann irgendwann erledigt und es ist dann als Ingenieursmaterial groß geworden. Und gerade so in den 50er-, 60er-, 70er-Jahren war die Zeit, wo man das Material als solches richtig zelebriert hat, auch im Stile des Brutalismus, wo es richtig darum ging, offen das Material zu zeigen, aus dem das Haus wirklich ist. Also nix zu verstecken, sondern irgendwie auch die ästhetischen Möglichkeiten auszureizen und mit Beton kann man ja auch oberflächenmäßig so viel Unterschiedliches machen, dass man da auch ganz verschiedene Effekte dadurch erzielen kann."

Schnell geplant, schnell gebaut, schnell gescheitert

Wir wollen uns einem solchen Projekt heute nähern und fragen, wie es zu ausweglosen Situationen von Walen kommt. Warum solche baulichen Riesenunternehmungen im Allgemeinen abgelehnt werden – ein Wal ist doch ein schönes Tier! Und wie man den Wal vielleicht doch wieder ins Wasser befördern kann.
Wir, das sind der Architekturhistoriker und Brutalismus-Experte Felix Torkar und ich, Marietta Schwarz, und wir sind den Bauten dieser Zeit gegenüber grundsätzlich positiv und neugierig eingestellt. Der Wal, um den es geht, ist ein stattliches Exemplar: Das Ihme-Zentrum in Hannover. Ein Stück Stadt aus den 70er-Jahren. Schnell geplant, schnell gebaut, schnell gescheitert – zumindest in Teilen.
"Wenn wir uns hier umgucken, … sehen wir, wie der Beton quasi wieder naturnah zurückgeführt wird in dem Moment, wo das Ganze so einen ruinösen Anschein gewinnt, und wir hier quasi zur Steinoptik zurückkommen, ne?!"

Eine riesige Ruine

Die Bewohner des Ihme-Zentrums wohnen auf einer Ruine von erheblichem Ausmaß: Diese Ruine besteht aus einem 700 Meter langen und 200 Meter breiten Sockel, der zwei Parkgeschosse in die Tiefe wächst und drei Geschosse in die Höhe. Früher war hier ein Einkaufsparadies. Jetzt sind die fünf Sockelgeschosse verlassen und baufällig. Wo sich das Wasser auf dem rohen Beton sammelt, wachsen Moose und Flechten.
Blick auf die Hochhäuser des Ihme-Zentrums.
Über dem maroden Fundament fühlen sich viele Bewohner auch heute noch wohl.© Marietta Schwarz
Es ist nicht alles kaputt. Über dem Sockel erheben sich Wohn- und Bürohochhäuser, bis zu 23 Geschosse hoch, in denen es sich immer noch wirklich gut leben und arbeiten lässt. Viele Eigentümer sind Erstbezieher und denken nicht daran, wegzuziehen. Andere kamen aus Überzeugung hierher, kauften später oder mieten. Detlef Reuleke zum Beispiel.
"Es ist ganz viel nicht mehr da. Hier war ein wunderschönes Café oder ne Gaststätte, die quasi über dem Weg hing, sehr luftig, über dem Ufer. Wir hatten hier eine Rolltreppe, da sieht man noch den Ausschnitt. Und dies war halt mit der Fußgängerbrücke zusammen der Zugang von der Calenberger Neustadt, von dem Stadtteil da drüben, und war hier eigentlich recht einladend."
2011 zog Detlef Reuleke hierher, damals war der Zustand nicht besser. Das Ihme-Zentrum hat über 500 Eigentümer und einen ganz großen, der 80 Prozent der Anteile hält. Seit dem Frühjahr ist das der Finanzinvestor Lars Windhorst, der in den 1990er-Jahren noch minderjährig zur Medienfigur wurde: Helmut Kohl nahm ihn mit nach Asien, Windhorst war so etwas wie das Rolemodel der Jungunternehmer.
Inzwischen hat er allerdings auch mehrere Investitionsprojekte in den Sand gesetzt. Geht es nach ihm und der Stadt Hannover, soll in diesem gewaltigen Sockelbereich wieder ein Einkaufszentrum erstehen. Der Deal sieht so aus: Der neue Großeigentümer verpflichtet sich zur Sanierung und zum Abschluss von Mietverträgen. Im Gegenzug mietet die Landeshauptstadt 20.000 Quadratmeter Büroflächen. Viel Zeit bleibt nicht mehr, dass alles soll bis zum 31. Dezember 2021 geschehen.

Führungen, auch dorthin, wo es wehtut

"Das ist auch interessant", sagt Detlfef Reuleke. "Diese Gitter sind hier davorgeschraubt worden, hier noch weniger als oben, weil es ne Zeitlang ein beliebter Ort war für Leute, die sich das Leben nehmen wollten.
Detlef Reuleke liebt die Siedlung, er interessiert sich für Architektur, macht Führungen, auch dorthin, wo es wehtut. Und das tut es an vielen Stellen, erzählt Detlef Reuleke im Gespräch mit mir…
"Und hier war ne Apotheke."
"Jetzt nur noch ein Podest."
"Genau."
"Es ist einfach nichts mehr da. Es ist einfach ein harter Flecken. Und man kann wahrscheinlich sagen, dass es an ganz vielen Ecken, wir sind ja jetzt quasi in direkter Umgebung von deiner Wohnung, in ganz vielen Ecken so aussieht, ja?"
"Ja."
Wir durchqueren den maroden Sockel. Die Ebene auf Straßenniveau gehörte dem motorisierten Verkehr: An- und Zulieferung der Gewerbeflächen. Und darüber, also 4 bis 5 Meter über der Straße, war die Fußgängerzone. Man erreichte sie über Fußgängerbrücken und Rolltreppen von der umgebenden Stadt, sehr technoid, sehr futuristisch. Von hier betrat man die Geschäfte und die eigene Wohnung. Jetzt: gähnende Leere. Die Tauben gurren.
Das Ihme-Zentrum wurde 1972 bis 1975 gebaut. 285.000 Quadratmeter Nutzfläche türmen sich über Europas größtem Betonfundament, 100.000 davon sind ungenutzt leer.

Via Airbnb in einer Kuriosität wohnen

Detlef Reuleke ist auch Vermieter. Ich habe mich bei ihm über Airbnb einquartiert, damit ich den Ort auch nachts nicht verlassen muss…
"Hier darf ich übernachten?"
"Das ist unser Wohnraum."
"Riesig groß!"
"Unser Eigentümer hat die Wand rausgenommen. Ja 11. Stock, wir haben einen schönen Ausblick, hier mit originalen Fenstern."
"Groß!"
"Ja, die meisten Balkone sind relativ groß. Einige Wohnungen haben auch mehrere Balkone. Das ist damals in den 70er-Jahren höchster Standard gewesen."
Ihme-Passage 2. Die Wohnung ist licht und weit, der Ausblick gigantisch. Weit über Hannover und das Messegelände hinweg…
"Und dahinter haben wir, wenn die Sicht besonders gut ist, sehen wir am Horizont den Brocken. Also das ist 120 Kilometer, das ist schon was…
Und wie läuft das mit dem Airbnb, frage ich Detlef, der mich gleich zum Abendessen eingeladen hat. Bewirbt er das Ihme-Zentrum, wenn er es so toll findet? Zum Beispiel mit dem Label "Brutalismus"? Oder sind die Gäste erstmal abgeschreckt?
"Wir sagen, dass es ein Gästezimmer mit einer prächtigen Aussicht über Hannover ist, und ich denke, das ist nicht zu viel versprochen."
"Stimmt, absolut."
"Die Leute von Auswärts … sind dann erstmal bisschen verwundert, wie es da unten aussieht und wo sie hingeraten sind… und sind dann umso begeisterter, wenn sie hier oben sind, und sehen, dass alles wunderbar gepflegt und in Ordnung ist. Und so ist es dann eben ne tolle Überraschung, wenn die Leute, die hier übernachten, sehen was es hier gibt, und in was für einem kuriosen Zustand dieses Zentrum ist."
"Stimmt, es hat etwas Kurioses."

Wie in einem Kriegsgebiet

"Ja – wie im Kriegsgebiet, so sieht es aus", sagt Erika Winger. "Und Freunde von mir fragen immer: Hast du keine Angst. Ich bin kein ängstlicher Typ, ich mach mir da nix draus. Aber ich finde es schlimm, dass das Kapital keine Ehre mehr hat. Die Stadt kann ja nix machen. Ist ja Eigentum hier.
Erika Winger wohnt seit über 40 Jahren im Ihme-Zentrum. Ihme-Platz 8 ist ihre Adresse, von Detlef Reuleke fünf Gehminuten am Ihme-Ufer entlang entfernt. Der Weg am Fluss ist bei gutem Wetter fast romantisch, und er führt an architektonisch interessanten Wohneinheiten vorbei: Dreigeschossige Maisonette-Wohnungen zum Beispiel, von außen schindelverkleidet. Man ahnt, dass sich hinter der biederen Fassade aufregende Räume verbergen. Mit sozialem Wohnungsbau hat das nichts zu tun.
Blick von außen durch ein Fenster in einen der Flure des Ihme-Zentrums.
Blick von außen in einen der Flure des Ihme-Zentrums.© Marietta Schwarz
Unten im Haus von Frau Winger ist ein Kung-Fu-Zentrum, durch die Scheibe sieht man kleine Jungs auf Ledersäcke einwirken. Dann geht’s hoch ins erste Wohngeschoss: sechs Etagen über Straßenniveau.
"Einen schönen Flügel haben Sie! Und ne tolle Aussicht! – die Wohnungen sind alle schön! – Das Ufer…"
Der Blick durch das riesige Fenster ist gigantisch: Unten die Ihme mit dem grünen Uferbereich, seitlich 20-geschossige Hochhausfassaden.
"Wenn es im Sommer heiß ist, liegen die Leute hier massenweise und gucken auf das vielbelästerte Ihme-Zentrum und sind glücklich", erzählt Erika Winger.
Die Einrichtung bei Frau Winger stammt unverändert aus den 60er-Jahren. "Midcentury" würde man heute sagen. An der Wand neben dem Flügel mehrere Quadratmeter Setzkasten mit einer Sammlung von silbernen Pillendöschen. Gute Möbel. Viel Holz. Designklassiker.

Die Idee der Stadt in der Stadt

Die Wingers haben sich damals beim Einzug ganz bewusst gegen das Häuschen im Grünen und für die verdichtete städtische Lage entschieden. Sie fanden die Idee, dass man hier in einer "Stadt in der Stadt" lebt, modern: Einkaufen, Wohnen, Verwaltung, Soziale Einrichtungen – alles vor der Wohnungstür, ohne Auto zu erreichen.
"Und das fanden wir toll. Und wenn Sie sich heute umgucken in der Welt, ist das ja auch das Modell. Wir waren einfach 40 Jahre zu früh hier, denke ich mal."
Diejenigen, die zum Shoppen von außerhalb kamen, verschwanden mit ihrem PKW unterhalb der Fußgängerebene.
"Also das war Kaufhof, Apotheken, Schreibwarenläden, alles, richtig schön."
Und dann HUMA. Der Name wird bei meinem Aufenthalt immer wieder fallen…
"HUMA war ja hier. Der ging so, das können Sie sich nicht vorstellen, die Straßenbahnen fuhren die Leute an, die dann zum Einkaufen gingen. Das war der Lebensmittelladen. Das war alles preiswert, das war der Laden. Die wollten sich erweitern. Die sind mit einer Mannschaft hierhergekommen und wollten mit einem privaten Flugzeug zurück, und die sind alle abgestürzt."
... 1982 - sieben Jahre nach Fertigstellung.
"Und das war das Ende von HUMA?", frage ich.
"Das war das Ende von HUMA! Das waren ja alles Führungskräfte, die da hops gingen…"
Von da an ging‘s bergab, sagt Erika Winger. Mit HUMA verließen auch andere Einzelhändler das Ihme-Zentrum. Leerstand, Verfall, Stigma…

Ein ruinöser Sockel und Taubenschissecken

"Haben Sie denn das Gefühl, dass die Hochhäuser der Makel sind?"
"Das war damals so. Damals hat man gesagt: Wegsprengen."
"Weil es zu hoch, zu dicht war?"
"Ja, und dann hieß es: Da wohnen nur die Reichen, was ja nicht stimmte."
"Ahhh, im Ihme-Zentrum?"
"Ja, Linden ist ja ein Arbeiterbereich, und im Ihme-Zentrum war es teuer."
"Würden Sie denn sagen, das war so bürgerliches Klientel, das hier eingezogen ist?"
"Ja, vielleicht, die konnten sich es am ehesten leisten."
Und was soll nun mit dem ruinösen Sockel unter ihr passieren? Frau Winger zuckt mit den Schultern. So viel Platz!
"Das sind keine menschenfreundlichen, auch nicht präparierten Durchgänge – das sind halt Taubenschissecken … puhhh und wenn Sie diese Gullis sehen, das Ungeziefer muss schon sehr bewacht werden – das riecht auch, nach Taube – ja natürlich. Schiete riecht immer!"
Draußen regnet es. Wir treffen Gerd Runge, er ist Stadtplaner und Architekt in Hannover und beschäftigt sich schon seit Jahren mit dem Ihme-Zentrum. Die Stadt hat den Zustand heute mitverantwortet, sagt er. Denn damals wurde viel viel dichter geplant, als im ersten Entwurf vorgesehen. Ein Generalunternehmer hatte die Sache in die Hand genommen, quetschte mehr und mehr Mieter und Nutzer hinein.
Die Kommune sah nur die große Nachfrage nach den Flächen und Läden und nickte das Vorhaben ab. Damit entstand praktisch ein ganzes Stück Stadt, das ihr nicht gehört. Das machte sie erpressbar. Mit den Folgen kämpft sie bis heute. Denn auch die Privaten haben sich immer wieder ihrer Verantwortung entzogen. Der Geist, sagt Gerd Runge, war damals natürlich auch ein anderer. Alles schien möglich.
Eine historische Entwurfszeichnung vom Ihme-Zentrum, die das ganze Areal zeigt.
Architektentraum aus den 70ern: Eine historische Entwurfszeichnung vom Ihme-Zentrum.© Büro KK+P, HD Keyl
"Also die Architekten hatten ein ganz anderes Sendungsbewusstsein. Die haben gesagt, wir reißen hier ganze Stadtteile ab, weil wir viel besser wissen, wie wir bauen müssen. Und warum die auch gegen diese Verdichtungsentscheidung nicht vorgegangen sind… Das war ja so ein Paradigmenwechsel. Man hat gesagt, man braucht keine langweiligen Vororte mehr, die funktionsentmischt sind, und dass die eben damals auch schon die gewaltigen Probleme mit dem Autoverkehr gesehen haben. Und die wollten halt eben wieder alle Nutzung an einer Stelle, und das ist eben auch der tolle Gehalt. Aber sie haben halt ne sehr technische Lösung gewählt."

Technische Lösungen für Alles

"Genau, es ist der Vorsatz fußgängergerecht zu sein in einer autogerechten Stadt," sage ich zu Felix Torkar.
"Genau, und sobald man sich auf die Auto-Ebene begibt, wird’s gruselig."
Technische Lösungen hatten in den 1960er-, 70er-Jahren Hochkonjunktur. Der Geist des Fortschritts war durch nichts beeinträchtigt. Und Bund, Länder und Kommunen bereit zu großzügigen Investitionen. Viele Hochschulgebäude im Stile des Brutalismus zeugen davon, allen voran die "Wissensmaschine" Uni Bielefeld, die Ruhruniversität Bochum oder das Klinikum Aachen als riesige "Gesundheitsmaschine". Ganz zu schweigen von vielen Wohnsiedlungen aus dieser Zeit. Nicht alle sind beliebt, aber gescheitert sind sie auch nicht alle.
"Konzeptionell ist das absolut ne Stadtmaschine. Es ist ne ganze Stadt in einem Haus", sagt Felix Torkar. "Was aber interessant ist, dass es gestalterisch nicht so wirken soll. Man merkt auch, es ist nicht alles rechtwinklig ins Raster reingehauen, sondern es wird alles so ein bisschen aufgelockert, die Fassaden schauen unterschiedlich aus, und es ist stilistisch ein totaler Wolpertinger. Mal ein Stückchen Brutalismus, bisschen High-Tech, bisschen Spätmoderne, mit den Schindeln hat man sogar noch ein bisschen New Regionalism, und das soll eher ne gewachsene Struktur abbilden, obwohl es eigentlich aus einer großen Hand geplant wurde."
"Und hat man die Vielfalt angestrebt, damit es lieblicher wird?", frage ich.
"Es war bisschen die Zeit des Pop. Und Pop hat auch in der Architektur seine Spuren hinterlassen, und da geht es darum, dass so ne Konsumästhetik ganz offensiv auch wieder aufgenommen werden kann, wenn also die McDonalds-Verpackung knallbunt ist, warum dann nicht auch ne Straßenlaterne? Und wenn wir uns eh in der Warenästhetik bewegen, dann ist es ja auch ein bisschen unterhaltsamer gerade vor dem Hintergrund der großen Betonmassen, wieder ganz starke Farbigkeit mit reinzubringen", erzählt Felix Torkar. "Und dabei muss man sich auch vergegenwärtigen, dass die Materialien damals noch etwas anders angesehen waren, und so Dinge wie Plastikpanels ultramodern waren und im öffentlichen Raum mal wieder so ein bisschen Futurismus mit reingebracht haben. Und dann läuft man durch so eine Ladenpassage, die so ein bisschen nach Raumstation aussieht und ein bisschen nach archaischen Großstrukturen, und das hat dann schon so ein ganz eindrückliches neues Gefühl."

Zeit der Konsumästhetik in der Architektur

"Und weil wir vorhin über dieses Utopische gesprochen haben: Wenn wir bei der Massenkultur sind, spiegelt sich in der Ästhetik ja auch dieses Niederschwellige!", sage ich.
"Da ist der Konsum dann anscheinend das Bindeglied, aus heutiger Sicht auch etwas kritisch zu sehen, das die neue offene demokratische Gesellschaft zusammenhält. Man trifft sich in der Einkaufszone, wo sich dann auch jeder trifft, und das sind dann eben so die öffentlichen Räume für den neuen Bürger einer neuen Demokratie. Man kauft ein", erläutert Felix Torkar.
"Und man sollte nicht vergessen, dass solche öffentlichen Räume für eine Gesellschaft ja auch ganz wichtig sind. Da gibt es die sogenannte "Third Place Theory", wo der erste Raum, wo sich jeder immer aufhält, ist zuhause, der zweite ist der Arbeitsplatz. Aber der dritte Raum, wo Gemeinschaft passiert, sind ganz oft konsumnahe Umgebungen. Das klassische Beispiel ist der Frisör. Und dieser Third Place, dieser Ort, der die Gesellschaft zusammenbindet, den sollte das hier schon auch abbilden."
Zwei ältere Männer stehen auf einem der Balkone im Ihme-Zentrum.
Manfred Peter Hinz (li.) mit dem Architekten Hans-Dieter Keyl auf dem Balkon seiner Wohnung im Ihme-Zentrum.© Marietta Schwarz
"10 – gut wir fahren rauf, danke"… "erstmal orientieren."
Wir sind im Fahrstuhl.
"Aber Sie kennen sich doch hier aus?"
"Ach, hier doch nicht."
"Haben Sie das nicht gezeichnet hier?"
"Ach, wir waren zig Leute!"
Eine Begegnung mit Hans-Dieter Keyl. Er war damals als Architekt an der Planung beteiligt. Für unser Treffen hat er eine Wohnung an der Spinnereistraße am nördlichen Ende des Zentrums bei Manfred Peter Hinz ganz oben organisiert.
"Wir sind vor 11 Jahren hierher gezogen", sagt der. "Keiner verstand das, aber für mich ist es einfach die tollste Wohnung, die wir je hatten, und um nichts in der Welt würde ich hier ausziehen wollen."
"Hier kommt ja einiges zusammen: Wasser, Landschaft, Panorama, Industrie, Verkehr, ne ziemlich große Straße da unten. Und dann stehen wir jetzt hier, wo, im 10. Geschoss?", sage ich.
"Auf dem Klingelschild steht 10, aber physisch ist es der 15. Stock."

Verbindung von italienischer Piazza und Autozeitalter

Auch diese Wohnung ist großzügig, gut geschnitten und hell. Hans-Dieter Keyl beginnt zu erzählen.
"Wir waren die jungen Leute, die seinerzeit die Städte liebten, enttäuscht darüber, dass alles, was nach dem Krieg entstanden war aus der Not, zu monoton entstanden war. Immer an den Rand gedrängt und immer so schön funktionsgetrennt, dass man nicht das Leben, was man in der Stadt gerne hätte, erfahren konnte. Statt eine kleine Stadt neu mit allen Atmosphären zu erhoffen, hat man viel Masse, aber in Gleichmäßigkeit entstehen lassen."
Herr Keyl spricht von Italien, von der Kleinteiligkeit der europäischen Stadt. Die Qualität, wenn alles zu Fuß erreichbar ist – eben nicht wie in den Entwürfen der Moderne, wo der menschliche Maßstab fehlt und dem Fußgänger kein Platz eingeräumt wird. Das Ihme-Zentrum sollte eine Verbindung von italienischer Piazza und Autozeitalter – nämlich in der Ebene darunter – werden.
Das Problem war nur, dass der Stadtteil am Ende viel dichter wurde als zunächst geplant. Und das führte letztendlich auch zu den Problemen von heute.
"Die Stadt hatte keinen Kommerz in dem Umfang vorgesehen, wie heute tot ist. Um es mal plump zu sagen."

Gewerbezone im Sockel wurde dichter und dichter

Damals wurde in Hannover gerade die U-Bahn gebaut. Viele Geschäftsleute sahen in dem neu entstehenden Einkaufszentrum im Stadtteil Linden eine gute Alternative zu dem von Baulärm belasteten Standort in der City. Der Generalunternehmer konnte so schon im Voraus unzählige Mietverträge abschließen. Die Gewerbezone im Sockel wurde dichter und dichter. Am Ende waren es 66.000 Quadratmeter für den Handel…
"Für zwei Kaufhäuser, drei mittelgroße Textilkaufhäuser, und dazwischen all das, was so ein Einkaufsbereich braucht. Nämlich liebliche kleinteilige Geschichten, die das Geschäft dazwischen belebt haben", ergänzt Keyl.
"Kiosk, noch einer, Apotheke, Café, ne Bierkneipe und Gastronomie. Diese Sachen aufgereiht in einer nicht überdeckten Ladenzeile, an einem Ende mit Kaufhof, am anderen Ende mit einem Laden, der Huma hieß."
HUMA! – die Geschäftsleute, die mit dem Flugzeug abstürzten…
"Alles war gut geplant, nur: Dieser Sockel musste ja bedient werden von Fahrzeugen, die die ganzen Waren an die Leute brachten, und entsorgt werden mit tausenden Kubikmetern von Müll. Und daraus ist entstanden: Der Klotz mit einer schleifenförmigen Anfahrt unter der angehobenen Fußgängerzone."
"Fußgängerzone ist angelegt auf +1?", frage ich.
"Auf +1, angelegt durch 2 Brücken mit schönen Rolltreppen, zur Ihme hin über eine Flussbrücke mit Rolltreppe und einem Aufzug."
"Aber jetzt würde mich nochmal interessieren: Wenn die ganzen Geschäfte aus der Innenstadt hierher ins Ihme-Zentrum wollten, wie sah denn dann die Innenstadt von Hannover aus? War das nicht eine totale Konkurrenz? Und ist das nicht vielleicht auch ein Problem, dass die aus dem Ihme-Zentrum in die Innenstadt zurückgegangen sind?"
"Ja das ist es ja. Die Innenstadt war abstoßend durch zu viel Baubetrieb."

Der Abstieg des Ihme-Zentrums

... aber sobald die Baustellen in der City abgeschlossen waren und die Mietverträge im Ihme-Zentrum ausliefen, kehrten die Gewerbetreibenden in die Innenstadt zurück. Zu viele Gewerbeflächen. Der Abstieg begann Mitte der 1980er-Jahre, sagt der Architekt Hans-Dieter Keyl. Mitte der 90er war das Einkaufszentrum vollständig leer.
Ein historisches Foto vom Ihme-Zentrum und Blick in eine Einkaufspassage.
Brutalismus-Experte Felix Torkar spricht im Zusammenhang mit dem Ihme-Zentrum von "Konsumästhetik".© Büro KK+P, HD Keyl
Anfang der Nullerjahre stieg ein neuer Großeigentümer ein, verkaufte 2006 an die US-amerikanische Carlyle-Gruppe. Eine überdachte Shoppingmall sollte entstehen. Doch dann kam die Finanzkrise, Insolvenz und sechs Jahre Zwangsverwaltung. 2015 übernahm die Firma Intown, wieder passierte nichts. Wäre es nicht eine Lösung gewesen, dass die Kommune anstelle von Lars Windhorst zum Großeigentümer wird?, frage ich den Architekten Gerd Runge.
"Ich bin sehr dafür, dass das Ihme-Zentrum saniert wird, aber ich finde, die Stadt kann das nicht machen, weil die Eigentums- und Haftungsfragen so weit ungeklärt sind, dass man nicht weiß, wie man da wieder rauskommt. Angesagt wäre, dass die Stadt sich erstmal ne Entscheidungsgrundlage schafft, das heißt rechtlich und wirtschaftlich ein Konzept entwickelt, wie das für den Steuerzahler finanzierbar ist. Und das tun sie aber seit 20 Jahren nicht. Und die jetzigen Investoren, das sind ja so global organisierte Leute, die nicht was entwickeln wollen, sondern die wollen immer nur aufteilen und weiterverkaufen."
Die Stadt, sagt Gerd Runge, halte den unbefriedigenden Schwebezustand sogar aufrecht, indem sie als Mieter im Ihme-Zustand den Status Quo sichere und den Eigentümern dreieinhalb bis vier Millionen Euro Miete einspiele.
"Aber ich sehe jetzt nicht, wie eine Stadt da hineinwirken kann, wenn ihr nichts gehört?", überlege ich.
"Wenn überhaupt jemand Möglichkeiten hat, Eigentumsrechte neu zu strukturieren, dann ist es die Stadt", meint Gerd Runge. "Die Eigentumsordnung, die 1971 für dieses Einkaufszentrum beschlossen wurde, die ist total festgelegt und ich glaube, das ist ein ganzer Stadtteil, der kann sich nur regenerieren, wenn es eine funktionierende Eigentumsordnung gibt. Ein 1971 gebautes Einkaufszentrum wird es in dem Komplex nicht wieder geben, das wird keine Lebensfähigkeit haben, und deswegen muss man an dieses Eigentumsproblem ran."
Aber die Kommune, so habe ich inzwischen erfahren, sieht sich nicht in der Pflicht. Man ist Mieter, man hat Gelder vom Bund akquiriert, einen einstelligen Millionenbetrag, um ein Kulturzentrum einzurichten, sagt Baustadtrat Bodemann. Der Rest ist Eigentümersache, und man vertraue da auf den Neuen: Lars Windhorst.

Können Künstler und Kreative das Projekt retten?

"Es gibt sehr viel Fläche, aber mittlerweile sehr wenig Räume, weil mittlerweile die Wände links und rechts fehlen, von daher bringt einem erstmal die Fläche, diese Geschäftsfläche an sich nichts. Das ist halt auch ne Sache, die solvente Gewerbemieter irgendwann in Angriff nehmen müssen. Da kann jetzt keine Künstlergruppe um die Ecke kommen und irgendwas groß machen außer das temporär bespielen."
Jan-Philippe Lücke ist Künstler und gehört zu den jüngeren Bewohnern des Ihme-Zentrums.
"Ja, hier wohn ich schon…"
"Warum wohnst du hier?", frage ich ihn.
"Das war ne ganz bewusste Entscheidung. Das Ihme-Zentrum hat mich fasziniert, als ich es das erste Mal gesehen habe, da war es schon gar nicht mehr in Nutzung. Und ich mag Hochhäuser, und ich mag Beton. Und es war gleichzeitig 2010 auch ein wunderbarer Große-Jungs-Spielplatz. 2012 ist dann meine WG auseinandergegangen, und ich hab mich dann auch nur im Ihme-Zentrum umgeschaut. Gut war, zu dem Zeitpunkt war auch noch viel mehr, und die Leute haben einen angeschaut, als hätte man gesagt, man hat Magenkrebs."
"Was ist denn hier möglich?"
"Also grundsätzlich ist hier alles möglich, weil wir haben hier Flächen, die neutral gemacht wurden, man sieht nur noch die Stützen, die wären so oder so da.
Ich bin so realistisch, dass man hier auch Gewerbe wieder reinbringen muss, das dafür sorgt, dass es sich hier wieder finanziell trägt. Aber dennoch gibt es hier so viel Platz, der den Bedarf an kommerziellen Flächen übersteigt, so dass man hier auch Kulturflächen fordern kann, die auch hier gebraucht werden. Und meine Erfahrung aus den letzten drei Jahren Kulturarbeit ist, dass das auch angenommen wird."

Schlimmer baulicher Zustand im früheren Zentrum

Auch das noch! Wir gehen nochmal eines dieser vernachlässigten Treppenhäuser hoch und landen auf dem zentralen Ihme-Platz. Früher war das der Knotenpunkt des Einkaufszentrums, die Stadtmitte quasi.
"Hier sind wir so am Tiefpunkt", bemerke ich.
"Und Broken Window Theory. Wenn einmal ein Fenster kaputt ist, dann verlottert alles andere auch ganz schnell. Wenn man einmal den Müll nicht wegräumt und den Unrat, dann müllt es gleich noch schneller zu", sagt Felix Torkar.
"Hier wird alle zwei Wochen saubergemacht. Das kann man gar nicht mehr erkennen. Weil der bauliche Zustand so schlimm ist. Also ob man diesen Boden nun putzt oder…", seufzt Jan-Philippe Lücke.
Wir schauen uns um. Können wir uns hier ein modernes Einkaufszentrum oder doch lieber einen riesigen "urban garden" vorstellen? Kreativmenschen, die ein- und ausgehen? Ateliers, Co-Working-Spaces? Flüchtlingsunterkünfte? Wer soll hier im großen Stile einkaufen? Und wer, andersherum, die marode Struktur instand setzen, um sie an Künstler und Start-ups zu vermieten?
Würde sich ein Großinvestor jemals darauf einlassen, kleinteilige Strukturen für unterschiedlichste Nutzungen zu entwickeln? Und gibt es überhaupt genügend Tageslicht, frage ich mich ständig, während ich durch den Taubendreck wate.
"Gestern hab ich mich gefragt, welche Tiere es hier noch gibt außer Tauben? Ratten?", frage ich.
"Ja Ratten. Und was wir halt auch haben, sind Hunde", sagt Jan-Philippe Lücke.
"Fledermäuse?", überlegt Felix Kropek.
"Ja, auch Fledermäuse!", sagt Jan-Philippe Lücke.

Regie: Stefanie Lazai
Ton: Alexander Brennecke
Redaktion: Martin Hartwig

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