Identitätspolitik

"Eine anti-aufklärerische Mode"

04:23 Minuten
Hände recken bunte Strohhalme in die Höhe.
"Aufklärung und Emanzipation bestehen ja gerade darin, dass Differenz anerkannt wird, aber politisch und rechtlich unerheblich ist", sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer. © imago images / fStop Images / Malte Müller
Ein Einwurf von Harald Welzer · 02.08.2019
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Statt um soziale Gerechtigkeit dreht sich die Debatte derzeit vor allem um symbolisches Unrecht: um die Beleidigung und Diskriminierung von Minderheiten. Und dieser Diskurs gilt dann auch noch als "links" und "progressiv", wundert sich Harald Welzer.
Neulich habe ich mal wieder "Ein Fisch namens Wanda" angesehen, gedreht 1988 von John Cleese. Da werden unter anderem jede Menge Witze auf Kosten eines Menschen gemacht, der stottert. Kaum vorstellbar, dass man so etwas heute in einem Kulturbetrieb noch machen könnte, in dem jedes einzelne Werk primär nicht mehr auf seine künstlerische Qualität hin betrachtet wird, sondern auf die emotionale Verletzungs- und Irritationsmöglichkeit, die in ihm liegen könnten.
Auch die Warnungen in Kunstmuseen und Ausstellungshäusern, dass man sich wegen expliziter Sprache oder Bilder in Acht nehmen solle, nehmen beständig zu. In all dem kommt zum Ausdruck, dass man jede für die Bildung von Urteilsfähigkeit notwendige Differenzerfahrung für schädlich hält und auf eine Art anästhetischer Kultur besteht, in der nichts Irritierendes mehr gespürt werden darf.

Schnelle Empörung verhindert sinnvolle Irritationen

Wenn, um nur ein bekanntes Beispiel zu nennen, eine Parteivorsitzende sich wegen schlechter Witze im Karneval heftiger Empörung und dringenden Aufforderungen ausgesetzt sieht, sich bei allen Queer- und Transgender-Menschen zu entschuldigen – was möchte man mit solcher Empörung eigentlich erreichen? Dass ausnahmslos alle Menschen sich nur noch in einer gleichsam klinisch reinen, hinsichtlich jeder denkbaren Mikroaggression bereinigten Weise artikulieren, obwohl sie möglicherweise etwas ganz anderes denken und fühlen? Politisch ist es doch weit aufschlussreicher, wenn man sieht und hört, welche Witze jemand ohne die Reinheitszensur macht, wie er oder sie andere Personengruppen betrachtet, welche Ressentiments er oder sie hegt – kurz, wes Geistes und Vorurteils Kind er oder sie ist.
Was wüssten wir über die Gefährlichkeit eines Donald Trump, wenn er seine Verachtung von Minderheiten sprachlich kaschieren würde? Was vom Menschenbild Annegret Kramp-Karrenbauers, was vom Rassismus eines Andreas Scheuer, wenn alle sich vorab einer identitätspolitischen Zensur unterwerfen würden, deren oberstes Ziel darin besteht, dass niemand sich verletzt fühlen darf?

Skandalisierung symbolischer Ungleichheit

Interessanterweise sehen solche Reinheitswünsche übrigens regelmäßig davon ab, wie verletzend objektive Ungleichheiten in der Gesellschaft sind – wie demütigend es etwa ist, als Kind armer Eltern nicht am Klassenausflug teilnehmen zu können, als Sozialleistungsempfänger noch die intimsten Details seiner Lebensumstände offenbaren zu müssen, oder seine Wohnung zu verlieren, weil man die erhöhte Miete nach der Sanierung nicht mehr bezahlen kann. Die Skandalisierung symbolischer Ungleichheit tritt in der antiaufklärerischen Mode der Identitätspolitik an die Stelle der Bekämpfung sozialer Ungleichheit – eine politisch kostenlose Empörung, mit der man anstrengungslos ohne eigene Urteilskraft immer schon auf der richtigen Seite steht.
Merkwürdigerweise gilt diese Verschiebung vom sozialen auf das symbolischen Unrecht sogar als "links" oder "progressiv", obwohl sprach- und einstellungspolizeiliche Ermittlungen doch genauso dem totalitären Formenkreis angehören wie die Figur des eifrigen Sammlers von Verfehlungen anderer, also des Denunzianten. Welcher gesellschaftliche Fortschritt sollte aus solcher selbstgemachter Repression in einer freien Gesellschaft entstehen?
Das zivilisatorische Projekt der Moderne zentriert sich doch um die Herstellung von Verhältnissen, in denen man Menschen keine materielle Not leiden lässt und in denen man, mit Adorno gesprochen, ohne Angst verschieden sein kann. Dabei liegt die Betonung auf der Verschiedenheit und eben nicht auf einer symbolisch behaupteten Unterschiedslosigkeit. Aufklärung und Emanzipation bestehen ja gerade darin, dass Differenz anerkannt wird, aber politisch und rechtlich unerheblich ist. Gegenaufklärung ist, wenn jede Differenz symbolisch nivelliert wird, politisch aber kein Interesse an der Beseitigung von Ungleichheit besteht.

Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer (*1958) lehrt seit 2012 als Honorarprofessor Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg. Daneben lehrte er als Gastprofessor an anderen Hochschulen, so etwa als ständiger Gastprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Sankt Gallen. Welzer ist Mitbegründer der gemeinnützigen "Futurzwei Stiftung Zukunftsfähigkeit", die alternative Lebensstile und Wirtschaftsformen bekanntmachen und fördern will. Durch seine zahlreichen Publikationen und Medienauftritte ist er einem breiten Publikum bekannt.

© Deutschlandradio - Bettina Straub
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