Ich will vermessen sein

Von Frieder Reininghaus · 27.04.2012
"IQ" widmet sich dem vor hundert Jahren entwickelten Verfahren zur Messung des Intelligenzquotienten (IQ). Mit der Oper haben Autor Marcel Beyer und Komponist Enno Poppe im unmittelbaren Sinn des Wortes experimentelles Musiktheater auf die Bühne gebracht.
1952 wurde im Nordbadischen der Seitenflügel eines verwaisten Residenzschlosses der Pfälzer Kurfürsten neuerlich in Betrieb genommen – im Herzen des US-amerikanischen Besatzungsgebiets und ganz offensichtlich wenigstens ein bisschen im Zuge der kulturellen Mobilmachung, die der mit voller Wucht ausbrechende "Kalte Krieg" mit sich brachte. Seitdem steuert der Süddeutsche Rundfunk beziehungsweise der SWF als dessen fusionsbedingter Erbe das kleine Festival auf halbem Weg zwischen Mannheim und Heidelberg.

Es hat in sechs Jahrzehnten einen langen und gewundenen Weg zurückgelegt und erstaunlich viele Uraufführungen von Stücken zu Wege gebracht, die dann zumindest eine gewisse musik(theater)geschichtliche Bedeutung erlangten.

Der Romancier Marcel Beyer spürt seit Langem den Konditionierungsprozeduren nach, die den modernen Menschen zugemutet werden. Dieses Mal hat er sich dem vor hundert Jahren entwickelten Verfahren zur Messung des Intelligenzquotienten (IQ) zugewandt.

Aus den Erwägungen und Reflexionen der mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden Testveranstalter wie aus den von Beyer protokollierten (beziehungsweise unterstellten) Reaktionen von "Testpersonen" wurde ein Opernlibretto destilliert.

Enno Poppe, 1965 in Hemer (Sauerland) geboren, hat neue Musik hinzugesellt – durchaus gestützt auch auf mathematisches Kalkül. Und mit gewissen sozialen Konsequenzen: Mit der Arbeit Poppes, der die Uraufführung auch selbst dirigierte, mutieren die Instrumentalisten des Klangforums Wien (wie auch das Publikum) zu integralen Bestandteilen eines hermetischen Versuchssystems. Anna Viebrock sorgte für die Ausstattung und Inszenierung, konnte sich bei den Video-Zuspielungen auf eine Kooperation mit dem ZKM Karlsruhe stützen.

Das Projekt, mit dem die Schwetzinger Festspiele heuer eröffnet wurden, erscheint insgesamt als Beleg für die generell gegebene, aber selten eingelöste Verheißung der Festivals: Dass sie Besonderes bieten und zuvorderst Projekte, die im "Normal"-Betrieb so nicht möglich wären.

Im Rokokotheater haben Beyer, Viebrock und Poppe im unmittelbaren Sinn des Wortes experimentelles Musiktheater auf die Bühne gebracht – sie erinnerten an eine Versuchsanordnung aus den frühen Jahren der Psychologie, die sich als Wissenschaftsdisziplin im Vorfeld des ersten Weltkriegs und während der Kriegsjahre herausbildete (1912 gilt als "Geburtsjahr" der Intelligenztests).

Ein gutes Dutzend Menschen beiderlei Geschlechts findet sich zunächst in der Bühneninstallation ein, die aus Büromöbeln und Monitoren arrangiert wurde, wie sie späten 80er oder die frühen 90er-Jahre up to date waren. Die Leute sehen sich wartend um. Die meisten von ihnen ziehen dann weiter in den kleinen Orchestergraben, wo sie auf die im Wesentlichen gewohnte Weise an der Aufführung mitwirken (nämlich "ihre" Instrumente traktieren). Die Mitglieder des Klangforums Wien stellen die meisten Probanden, die in den folgenden acht Akten mit ansteigender Ausdauer den Befragungen unterzogen und getestet werden. Die Musiker kommen gleichsam als repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung zum Einsatz. Indem ihnen scheinbar die Sonderrolle der Spezialisten genommen wird, qualifizieren sie sich in besonderer Weise als Spezialisten für Neues Musiktheater.

Marcel Beyer hat einen ziemlich hinterhältigen Text entwickelt. Der führt die Rituale des Testens und die Täter/Opfer-Relationen der offensichtlichen Zumutungen wie selbstverständlich vor, auch das weitgehende Einverständnis der dem Experiment Unterworfenen. Bei denen kristallisieren sich Selbstbewusste und Eingeschüchterte heraus, Test-Routiniers und Prüfungsangsthasen. Beyers Arbeit entzaubert die "Wissenschaftlichkeit" der vorgeführten Testverfahren ebenso wie die Sprache, mit der Manipulationszusammenhänge verkleistert werden.

Die Produktion zieht aufmerksame Zuschauer wie zwangsläufig in ihren Bann. Sie sind gehalten, über Termini wie "Intelligenzbestie" nachzudenken, und ertappen sich immer wieder dabei, dass sie die von den Testerinnen gestellten Aufgaben auch rasch im Kopf zu lösen suchen. Mit Rosemary Hardy tritt eine Versuchsleiterin in Aktion, die – ganz im Sinn der Produktion – bemerkenswerte Kälte im Dienst an der Sache ausstrahlt, der sie sich verschrieben hat, stellt am Ende aber auch Trost bereits für die, denen kein besonders hoher IQ zugemessen wird: Es gäbe ja schließlich auch "testferne Begabung". Katja Holm präsentiert sich neben ihrer Vorgesetzten als Testerin und bringt den Glücksanspruch ihrer Arbeit auf die Formel: ihr seien die "Tage am Testgenerator doch die allerliebsten Tage".

Enno Poppes genau fixierte kleingliedrige, stark sprachgeprägte Kammermusik eignet sich als ungemütlicher Kontrast des permanent um "Vertrauensbildung" bemühten Bühnengeschehens nicht schlecht. Noch besser freilich (und womöglich auch für ein sehr viel größeres Publikum) könnte das Projekt funktionieren, wenn die Dialoge und Monologe gesprochen würden und die Musik wie beim Melodram (oder bei Kinomusik) nur als Folie und Rahmen hinzuträte, um sich dann doch immer wieder einmal auch auf der Bühne aktiv einzumischen, also unmittelbar theatral zu werden. Sie wird dies zum Beispiel bei der Gehörbildungsprobe, bei der die Delinquenten Töne nachspielen müssen, die ihnen vorgespielt werden.

Als bleibende Gewissheit nehmen die Zuschauer jedenfalls mit nach Hause, dass der Erfolg bei dieser Folgsamkeitsübung eines der "wissenschaftlich" klar bemessbaren Kriterien von Intelligenz ist – für eine Wissenschaft, die im strengen Sinn keine ist, sondern Ideologie.
Mehr zum Thema