"Ich sehe, also höre ich dich, also bist du"

Helmut Oehring im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 27.09.2011
Die schönsten Momente seien für ihn, wenn er die Welten der Musik und der Gehörlosen zusammenführe, sagt der Komponist Helmut Oehring, der bei gehörlosen Eltern aufgewachsen ist. In seinem Buch beschreibt er seine Kindheit und sein Leben in und zwischen den beiden Welten.
Matthias Hanselmann: Welche Rolle kann ein Popstück wie das hier, "Bohemian Rhapsody", für einen Komponisten neuer Musik spielen? Wir werden es gleich hören von Helmut Oehring. Oehring hat einst als junger Mann beschlossen, Komponist zu werden. Mühsam brachte er sich selbst das Notenlesen und -schreiben bei, ohne je eine Universität von innen zu sehen. Heute ist er einer der gefragtesten Komponisten für Neue Musik in Deutschland, zurzeit arbeitet er an einer Oper, die in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin aufgeführt werden wird. Aufgewachsen ist Oehring in einem Haushalt, in dem das Hören so gut wie keine Rolle spielte. Seine Eltern und sein großer Bruder waren nämlich gehörlos. Jetzt erzählt Helmut Oehring seine Geschichte seine Geschichte in einem Buch. Ich habe mit ihm gesprochen und ihn zunächst gefragt, warum sein Buch den Titel "Mit anderen Augen" trägt, wo es doch fast ausschließlich ums Hören geht?

Helmut Oehring: Ja, also, der Hauptgrund dürfte darin bestehen, dass meine Muttersprache eine visuelle Sprache ist, dass also ich auch sehr viel davon erzähle, woher kommt mein gutes Hören, nämlich von dem wirklich sehr intensiven Sehen. Und meine Muttersprache, die Gebärdensprache der Gehörlosen funktioniert ausschließlich übers Auge, ist eine visuelle Sprache. Und die Geschichte, die im Buch erzählt wird, ist auch eine wie diese beiden Sprachen, die sich im wirklichen Leben nie treffen und eigentlich eher nicht zueinanderfinden, aber doch wirklich im wahrsten Sinne Geschwistersprachen sind, also die Sprache der Musik und des Hörens und die Sprache der Augen, die Gebärdensprache.

Hanselmann: Das Sehen soll ja sogar bei Gehörlosen besonders stark ausgeprägt sein. Wie haben Sie das bei Ihren Eltern festgestellt?

Oehring: Ja, jede Kommunikation läuft in der Tat übers Auge. Also ich sehe, also höre ich dich, also bist du.

Hanselmann: Aber wenn ich jetzt die Augen zumache, höre ich Sie trotzdem.

Oehring: Ja, Sie ja! Aber zwischen meinen Eltern war natürlich ausschließlich vor allem als Kleinkind, als Baby und auch später als kleiner Junge, eine ganz wesentliche Sache der Augenkontakt, alles läuft übers Auge. Und das ist ein ganzheitliches Wahrnehmen auch. Obwohl das Hören ausgeklammert ist, besteht dadurch natürlich immer ein extrem intensiver Kontakt, weil man sieht den Menschen als Ganzes, man nimmt auch, wenn er nicht spricht, wahr, wie es ihm geht.

Hanselmann: Sie haben diese, Ihre Ursprache, Ihre eigentliche Sprache, als erste gelernt, und danach erst die derjenigen, die sprechen können, mit vier Jahren, glaube ich, erst richtig sprechen gelernt ...

Oehring: ... ein Stück später, viereinhalb.

Hanselmann: Wobei, ich eiere schon wieder rum, weil richtig sprechen kann man ja auch nicht sagen, weil die Gebärdensprache ist ja für Sie die richtige Sprache, oder?

Oehring: Ja, für mich ist das jetzt hier die falsche, also meine Zweitsprache.

Hanselmann: Wie war das für Sie als Kind? Sie mussten ja viel übersetzen und sicherlich deshalb auch früh Verantwortung übernehmen. Wie hat man das empfunden?

Oehring: Ich habe das als Kleinkind und als Junge später und dann als Pubertierender als anstrengend empfunden, ein Stück zu früh Verantwortung wahrzunehmen für die Kommunikation zwischen der Welt draußen und meiner Familie beziehungsweise vor allem meiner Eltern. Und dieses Schicksal teilen aber alle diese Kinder, die man Coda-Kinder nennt, also hörende Kinder gehörloser Eltern. Sie sind also quasi Stimme und Ohr ihrer Eltern und vermitteln die ganze Zeit. Und das war dann auch für mich eine sehr, sehr entscheidende und erschütternde Erfahrung, dass ich erlebt habe, sehr früh erlebt habe, dass meine Muttersprache draußen in der Welt nicht funktioniert.

Hanselmann: Da sind wir ganz schnell schon bei dem Thema, das ganz zentral ist in dem Leben, dieses Zusammenprallen von zwei Welten, also der Tauben, der für unsere Ohren stummen Welt Ihrer Eltern, und der sprechenden, Geräusche machenden Welt, die Sie ja selbst erlebt haben. Welche Gefühle hat das in Ihnen von Anfang an hervorgerufen?

Oehring: Also, bis ich etwa vier war, viereinhalb knapp, war ich ja hermetisch aufgehoben und aufgenommen in den Kulturkreis der Gehörlosen, es gab keine hörenden Bekannten. Es gab die Außenwelt natürlich, die wurde wahrgenommen von uns auch, aber auch im Bekanntenkreis meiner Eltern natürlich gab es keine Hörenden. Und die Gehörlosen, die ich kannte, hatten bis auf ein Gehörlosenpaar alle nicht hörende Kinder, alles gehörlose Kinder, also auch meine Altersgenossen, die alle so zwischen eins und drei waren oder eins und vier, waren alle gehörlos. Und ich hatte auch einen Bruder, der war ebenfalls gehörlos in der Zeit. Und das war bis zu diesem Punkt, wo dieser Riss kam, dass ich teilnehmen musste und sollte am Leben der Hörenden, weil ich ja nun mal auch hörendes Kind war, habe ich das als ganz geschlossen und ganz organisch, ein ganz aufgehobener Raum, ein Schutzraum, der wurde aufgebrochen durch das Lernen der Lautsprache. Und das war erst mal sehr anstrengend dann.

Hanselmann: Wer hat Ihnen das beigebracht?

Oehring: Ich bin bei einer Familie untergekommen, einer kinderreichen Familie, die haben mich ganz zauberhaft aufgenommen, und da habe ich sehr, sehr schnell dann Sprechen gelernt, die ersten Worte, wie alle Kinder lernen, Mama, Papa, Kakao, Ball und so weiter.

Hanselmann: Und problemlos gelernt oder mit inneren Widerständen?

Oehring: Ich habe die erste Zeit gehasst dort. Meine Eltern haben mich immer hingebracht. Gut war, dass es privat war und dann auf freundschaftlicher Ebene, auf wirklich sehr liebevoller Ebene passierte, aber für mich war das natürlich völlig unnötig aus meiner Sicht damals. Ich mochte das am Anfang nicht, später dann sehr.

Hanselmann: Wenn man Ihr Buch liest, was ich übrigens wirklich völlig gebannt und manchmal auch fassungslos getan habe, wie Sie sich als Kind, als Jugendlicher entwickelt haben, da liest man, Sie wurden gehänselt, verprügelt, heute würde man sagen, gedisst, wo es nur ging, Sie haben unglaubliche Aggressionen entwickelt gegen Ihre Mitmenschen, auch gegen sich selbst, Sie schreiben irgendwo, Schule ist wie Sterben und das hätte zum Amokläufer oder Terroristen gereicht. Sie schreiben zum Beispiel, Sie haben Tiere in der Zoohandlung gekauft und sie dann stellvertretend für verhasste Menschen getötet. Und da ist nie mal so ein Psychologe im Hintergrund gewesen?

Oehring: Nein. Und ich glaube auch, aufgrund dessen ich eben in zwei Welten aufgewachsen bin, entwickelt man auch Strategien und komplexe Verhaltensmuster, dass das weder der einen, noch der anderen Welt auffällt, dass man da in diesen Situationen alleine sich befindet, weil die Sprache weder nach links, nach rechts funktioniert und man keinen Ansprechpartner hat so richtig.

Hanselmann: Was man schon mal feststellen kann: Sie haben diese Aggressionen zwar in sich getragen, aber Sie haben sie nicht auf das Ziel gerichtet, auf das sie eigentlich gerichtet waren, also nicht gegen die Mitschüler, die Sie gehänselt und verprügelt haben, sondern Sie haben das immer abgeleitet, Sie haben das auf Tiere abgeleitet, Sie haben es auf sich selbst abgeleitet, das ist auch zu lesen in Ihrem Buch. Darüber müssten Sie eigentlich aber schon mal nachgedacht haben, oder?

Oehring: Nein, auch darüber nicht. Also, was mein Werden und Wachsen angeht, ein sehr intuitiver Mensch, und deswegen mache ich diesen Beruf auch so gern: Es ist eine Arbeit des Verwandelns. Ich weiß zwar, was ich in was verwandle und warum ich das tue, aber ich mache das nicht fest an ganz bestimmten Ereignissen in meinem Leben. Und erst, als die Frage kam, wollen Sie bitte mal ein Buch schreiben über das alles, habe ich überlegt, warum eigentlich? Und dann kam der Gedanke, ja, ab einem bestimmten Punkt, als ich versuchte, nachzudenken, über was willst du schreiben, über was kannst du schreiben, über was darfst du schreiben und was geht auch über dasjenige hinaus, was nur mich interessiert vielleicht, was möchte ich den anderen damit eigentlich mitteilen, was möchte ich nach draußen geben?

Hanselmann: Sie schreiben schonungslos – sonst wäre ich nicht darauf gekommen, ich will jetzt nicht den Eindruck erwecken, als sei ich ein Trivialpsychologe oder so was –, Sie schreiben es eben auch und stellen einem selbst sozusagen die Denkaufgabe, was hat in diesem Mann gebrodelt? Und ich habe mir gedacht, vielleicht waren diese Aggressionen auch so stark, dass Sie auch Motivationen, Schub gegeben haben für diese unglaubliche Energie, die Sie dann später aufgebracht haben, Komponist zu werden?

Oehring: Das, denke ich, hat damit zu tun und das stelle ich dann aber auch fest zum Beispiel bei den gehörlosen Menschen, die mich begleitet haben in dieser Kind- und Jugendzeit. Die haben alle aufgrund dieses Spannungsverhältnisses des Nicht-Kommunizieren-Könnens mit der Hauptwelt eine unglaubliche Energie entwickelt, um ganz bestimmte wesentliche Punkte in ihrem Leben bis zur Perfektion zu treiben. Also, ein Beispiel wäre mein Vater, der als einziger Gehörloser in der Oberliga der Hörenden mitgespielt hat und dann auch noch zweimal deutscher Meister wurde.

Hanselmann: Sie reden von Fußball?

Oehring: Von Fußball, ja. Der war Torwart beim Dresdner SC, beim legendären SC, also noch vor Kriegsende zwischen 42 und 44 und hat dann mit Leuten wie Helmut Schön zusammen in einer Mannschaft gespielt. Um das zu schaffen, also auch psychisch zu schaffen und physisch natürlich auch die Leistung zu bringen, das ist, glaube ich, auch zu sehen in diesem Spannungsverhältnis, was daran liegt, dass Gehörlose natürlich ein viel, viel Mehr an Mut, Energie, Kraft und Verwandlung aufbringen müssen.

Hanselmann: Und dann noch nicht mal zu hören, wie der Schiedsrichter pfeift!

Oehring: Genau.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Komponisten Helmut Oehring über sein Leben als Kind gehörloser Eltern und seinen Werdegang zum Komponisten. Herr Oehring, es gibt eine Initialzündung, die kam aus dem Pop-Bereich, und die hieß "Bohemian Rhapsody" von der Band Queen und ihrem Sänger Freddie Mercury natürlich. Was ist denn da vorgefallen, was hat der Song bei Ihnen ausgelöst?

Oehring: Dieses Lied kam zu mir, als ich händeringend nach einem Schutzmechanismus gesucht habe, um über den nächsten Tag zu kommen. Und ja, es hat einfach meine Tage gerettet, ganz schlicht und einfach. Ich kam von der Schule nach Hause und das Erste, was ich gemacht habe: einschließen und "Bohemian Rhapsody" hören.

Hanselmann: Nebenbemerkung: Sie waren fast nie in der Schule.

Oehring: Das ist wohl wahr, es gab eine Zeit, begründet eben darin, weil es eben schwere Auseinandersetzungen gab. Ich muss zugeben, ich war auch in der Zeit verhaltensauffällig. Und die anderen hatten an mir zu leiden, dass ich zwischen diesen Welten verschluckt wurde, und ich hatte darunter zu leiden, dass weder bei den Lehrern, noch bei den Schülern eine gewisse Sozialkompetenz aufzuzeigen war, dass also niemand wusste, wie gehen wir jetzt mit diesem Typen um?

Hanselmann: Noch mal zurück zu "Bohemian Rhapsody": Nicht jeder, der das Stück hört und liebt und immer, immer wieder hört, wird dann später Komponist von Neuer Musik?

Oehring: Also, diese Mischung aus Popsong, Rock, Oper, Klavier, Lied, Gitarrensolo ... Es war in diesen, ich weiß nicht wie lange es dauert, fünf, sechs Minuten, diese Chöre, die die da drin haben, es war auffällig für mich, dass diese redundante Rockmusik, wie sie damals wirklich meist jedenfalls üblich war, aufgebrochen haben, sehr transparent gemacht haben, sich nach allen Seiten geöffnet haben, und da heraus ein Song entstanden ist, der eine unglaubliche Wucht und Kraft hat und Mut, bestimmte Ästhetiken aus anderen Richtungen zu benutzen, zu verfremden und zu einem Ganzen zu bauen. Das fand ich ganz zauberhaft.

Hanselmann: Was dann aber bei Ihnen darin mündete, dass Sie ein erstes eigenes Streichquartett geschrieben haben. Wie kann man denn da den Bogen schlagen, helfen Sie mir?

Oehring: Ich glaube, beherrscht von der Suche nach einer Ausdrucksform, die dem nahekommt, was da in mir schlummerte, was immer das war, habe ich gesucht und völlig zufällig gefunden. Ich war in der Kinder- und Jugendbibliothek und wollte klauen und ich habe eine Schallplatte geklaut. Und das war nicht etwa irgendeine tolle Rockmusik, sondern zu meinem ersten Bedauern handelte es sich um Bartóks Streichquartette 1 bis 4 ...

Hanselmann: ... wovon Sie vorher noch nie gehört hatten wahrscheinlich?

Oehring: Ach, gar nichts, nie! Und ich hörte das und war ebenfalls dann – dazwischen, muss man sagen, liegen gute zehn Jahre, glaube ich, zwischen der "Bohemian Rhapsody" und dem ersten Hören von einem Bartók-Streichquartett –, und ich war genau so erschüttert. Weil diese Sprache hat mich ganz unmittelbar getroffen an einem Punkt, den ich gesucht habe, diese Stilisierung, diese Ästhetisierung von Klang und Sprache und auch das Rhythmische, das Volksmusikhafte, das Liedhafte. Ich fand diese Mischung unglaublich charmant. Ja, und dann habe ich gesagt, gut, wenn das so toll ist, dann schreibe ich jetzt auch ein erstes Streichquartett. Das war, 1987 habe ich das geschrieben. Und dann habe ich natürlich gesucht, wem kann ich das mal zeigen, um mir sagen zu lassen, was ist das eigentlich, was da vor mir liegt als Note? Ich kannte ja kein Streichquartett, die mir das hätten vorstellen können. Und in der Zeit besuchte ich sehr häufig also Konzerte mit moderner Musik, aber auch mit klassischer Musik. Und da heraus stachen also Georg Katzer und Friedrich Goldmann für mich als meine Heros, die Freddie Mercury unmittelbar folgten. Und ich habe mich dann bemüht, einen Kontakt zu finden, und der wurde mir also aufgeschlossen und ich zeigte denen das und dann fingen diese zaghaften, langsamen Schritte sehr viel konkreter ins Zentrum an, diese Art Musik zu schreiben.

Hanselmann: Wir hören mal ein Stück Musik von Ihnen, das relativ aktuell ist. Vielleicht ein Satz vorher von Ihnen?

Oehring: Es ist ein Konzert für Bassklarinette und Orchester, ein Auftragswerk des Ultima-Festivals, Oslo, und wurde im letzten Jahr, 2010, in der Oper dort, in dieser wunderschönen Oper direkt am Wasser in Oslo uraufgeführt und handelt von einem Komponisten, den ich sehr verehre, Brahms. Es gibt ein Lied von Brahms, das heißt "Meere", und so heißt auch mein Stück.

(Musikeinspielung)

Hanselmann: "Meere", komponiert von Helmut Oehring, der unser Gast ist heute in Deutschlandradio Kultur im "Radiofeuilleton". Herr Oehring, Sie haben irgendwo im Buch geschrieben, alles, was sie komponieren, sei Blues. Das war ja nun gar kein Blues, den wir eben gehört haben. – Oder doch irgendwie?

Oehring: Ja, doch, eigentlich schon ...

Hanselmann: ... also, ein Berufsmusiker würde protestieren ...

Oehring: ... das glaube ich jetzt nicht. Welcher? Nein, Blues in dem Sinne, dass ich sehr viel Wert darauf lege und sehr darauf stehe, eine gefühlsbetonte, emotionale und trotzdem gesellschaftlich relevante, auch politische Musik zu komponieren. Und das, glaube ich, beinhaltet auch Blues. Blues hat sich immer auseinandergesetzt mit gesellschaftlichen Strömungen, die also nichts mit Musik zu tun hatten. Und Blues hat auch immer danach getrachtet, Gänsehaut zu erzeugen und direkt ins Herz zu treffen.

Hanselmann: Sie sind der erste Komponist sogenannter E-Musik, den ich jedenfalls kennengelernt habe, der Jimi Hendrix, Frank Zappa, Depeche Mode, Miles Davis und, und, und als wesentliche Einflüsse nennt. Warum haben Sie eigentlich nicht selbst eine Pop-, Rock- oder Jazzband gegründet?

Oehring: Kann ich genau sagen: Ab einem bestimmten Punkt habe ich gespürt, dass mir die Sprache dieser Rock- und Popmusik, die ich liebe über alles, aber nicht reicht, um das ausdrücken zu können, was ich gerne aufschreiben möchte. Und ich habe ja auch sehr früh Bach kennengelernt – was heißt früh, mit 24, 25, also eigentlich spät, aber was das Ins-Verhältnis-Setzen mit dem Komponieren betrifft – und habe natürlich dann auch einen Eindruck gehabt von einer barocken Welt oder klassischen Welt und wie die Sprache dort funktioniert und aufgebaut ist. Und ich habe immer Sehnsucht, diese Komplexität, die man in sich spürt, wenn man mit diesen zwei Sprachen aufwächst, einen Ort sucht in dieser Welt, das zu verwandeln in eine Schrift, in eine Sprache, in einen Klang und dann in eine Bewegung, die da irgendwie mithalten kann. Und das schafft nun leider die Rockmusik wirklich nicht.

Hanselmann: Was Sie auch geschafft haben, das ist Gehörlose in ihren Stücken mit auf die Bühne zu bringen. Sagen wir mal ganz naiv: Eine gehörlose Sängerin, kann es so etwas geben?

Oehring: Ja, bei mir ja.

Hanselmann: Wie geht das?

Oehring: Ja, das sind die schönsten Momente für mich. Wenn ich diesen Ausschnitt, diesen Kunstraum sehe und dann diese beiden Welten zueinander führe und für einen Moment lang eine Gemeinsamkeit spüren lasse und auch ein Infragestellen, weil Musiker leben durch den Klang, die können sich ein Leben ohne Musik nicht mehr vorstellen. Für Gehörlose bedeutet Musik weniger als nichts, gar nichts. Also, beide Welten sind auf völlig andere Muster aufgebaut, auf völlig andere Festen, auf eine andere Plattform. Und das Begegnen, das Infragestellen, dieses Spüren, was bedeutet Sprache uns, das findet in diesem Moment statt. Und gerade dann, wenn die Gehörlosen anfangen zu singen und wenn die Hörenden – das ist der Umkehrschluss, den ich auch oft in diesem Kunstraum auf der Bühne vollziehen lasse und komponiere –, wenn die Hörenden anfangen müssen zu gebärden.

Hanselmann: Herr Oehring, wie ist es eigentlich, wenn man gehörlose Eltern hat und komponiert und die Stücke werden immer komplexer und aus der eigenen Wahrnehmung heraus vielleicht auch immer schöner und die Eltern können diese Stücke nie wirklich hören und erleben?

Oehring: Anfangs war es sicher eine Suche nach dem am weitest entfernten Punkt von meinem Elternhaus und von meiner Muttersprache. Und dass ich da die Musik finde oder sie mich, ist folgerichtig, glaube ich. Und da war das auch schön für mich, dass also aus dieser Welt der Gehörlosen niemand das nachvollziehen konnte, da keinen Eintritt hatte, keinen Zutritt, rein physisch schon nicht. Und später war das dann schon doch eher schwierig beziehungsweise scheiße, dass also ich schon gemerkt habe, vor allem in den Werken, wo ich Gebärdensprache mit einbaue – was ich ja bei Weitem nicht bei all diesen Werken mache, ich habe jetzt etwa 200 Werke komponiert und davon sind vielleicht 20, 25 mit Gebärdensprache –, wenn ich also meine Muttersprache vertont habe und diese Suche nach dem möglichst entfernten Punkt hat mich dann wieder zu meiner Muttersprache geführt, ausgerechnet die Musik, und das zu merken, hing natürlich mit dem Wunsch zusammen, jetzt müssten eigentlich deine Eltern das auch hören können, nicht nur sehen können, wenn ich Gebärden vertone, sondern auch den Zusammenhang verstehen, fühlen, erkennen. Und das war nicht möglich bei meinen Eltern und mir.

Hanselmann: Sie sind 1961 geboren, dürften also jetzt plus, minus 50 sein. Warum muss haben Sie jetzt schon dieses Buch geschrieben?

Oehring: Also, erst mal gab es eine Anfrage, ich selbst wäre nie auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben. Und als ich mir dann Gedanken gemacht habe darüber, warum sollte ich das eigentlich tun – ich habe bisher vor allem Gedichte geschrieben, die ich dann auch in den Opern vertont habe, also ... Der eigentliche Kerngedanke, warum ich überhaupt schreibe, also nicht nur Musik, sondern auch Worte, Gedichte, Lyrik, hängt damit zusammen, dass es für Gebärdensprache, für meine Muttersprache, keine Schrift gibt. Es gibt auf dieser Welt keine allgemein funktionierende Schrift. Der Grund liegt darin, dass die Gebärdensprache, die Mutter aller Sprachen, so komplex ist, also die Grammatik eines Raumes nutzt des Erzählenden, dass das nicht zu fixieren ist auf Papier. Es gibt nicht diese eindimensionale Form des Aufschreibens. Meine Lyrik verwandelt sozusagen die Grammatik und die Syntax der Gebärdensprache in die gesprochene Lautsprache um, in die geschriebene gesprochene Lautsprache um. Und als die Frage kam, wollen Sie ein Buch schreiben, dachte ich, okay, ich kann hier versuchen, der Gebärdensprache und dem Denken, dieser kulturellen Welt auch eine Stimme verschaffen, eine Schrift verschaffen. Aber der wesentlichste Punkt ist eigentlich der, dass ich irgendwann mich mit dem Gedanken angefreundet habe: Wenn ich dieses Buch schreiben werde und möchte, dann nur, wenn ich darin Dinge erzähle, die ich bisher noch keinem anvertrauen konnte. Das war der eigentliche Grund.

Hanselmann: Und das macht das Buch für mich auch so überraschend, so packend und wirklich wunderbar zu lesen. Auch wenn man dabei zum Teil wirklich ja unangenehme Gefühle bekommt, sich fragt, wieso war der so ein aggressiver Jugendlicher, so wie wir unser Gespräch begonnen haben, aber sehr, sehr viel über das Leben des Komponisten lernt und wie es dazu gekommen ist, dass er jetzt einer der erfolgreichsten Komponisten neuer Musik in Deutschland überhaupt ist. Vielen Dank!

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