"Ich bin kein Verräter"

25.04.2013
Dass Soldaten aus der DDR in den Westen flüchteten, weiß jeder. Dass Nato-Soldaten in die DDR überliefen, ist weitgehend unbekannt. Dabei hatten die Deserteure oft gute Gründe. Der Journalist Peter Köpf hat einige davon in Stasi-Akten aufgespürt und stellt sie in seinem rasant geschriebenen Buch vor.
"Ich bin kein Verräter", schrieb William D. Adkins an die "liebe Mom", daheim im fernen Amerika, im "schwierigsten Brief, den ich jemals schreiben werde". Es war Anfang 1954 und kurz zuvor, sieben Tage vor seinem 23. Geburtstag und 17 Tage vor seiner Entlassung aus der US-Armee in Österreich, war der Leutnant zum Verräter geworden. In der sowjetischen Garnison in Amstetten hatte er politisches Asyl beantragt: wegen der "aggressiven Außenpolitik der USA", wegen Senator McCarthys Kommunistenhatz, wegen der Diskriminierung der Schwarzen. Das erzählte er jedenfalls seinen sowjetischen Vernehmern, die ihn schon bald in die DDR weiter reichten. Im Brief an Mom nannte er auch den vielleicht wichtigsten Grund: Seine Freundin Patricia hatte ihn verlassen und, daheim im fernen Amerika, ein Kind von einem anderen Mann bekommen, so "dass all meine Bande mit der westlichen Welt getrennt waren".

Dafür wurden die Bande mit der östlichen Welt für Lieutenant Adkins umso enger. In Dresden wurde er zu Jack Forster, als Student an der Universität Leipzig zu John Reed, als Informant der Stasi schließlich zu James Duke. Er brachte es bis zum Funkreporter für den Auslandsdienst des DDR-Rundfunks in Berlin und bekam sogar eine Nebenrolle in einem Defa-Film. Eine Ausnahmekarriere, wie sie nur wenigen gelang unter den insgesamt mehr als 200 Deserteuren aus Nato-Armeen, die sich bis zum Mauerbau in die DDR abgesetzt hatten. Der Journalist Peter Köpf hat ihre Spuren in den Stasi-Akten gefunden und präsentiert in seinem rasant geschrieben Buch zehn von ihnen ausführlich.

"Freunde" nannte die Stasi die US-Amerikaner und Briten, die Franzosen und Niederländer – und ihr in den DDR-Medien präsentiertes "erstklassiges Propagandamaterial", wirkte zersetzend "in die feindlichen Armeen, sogar bis in die Familien", wie Peter Köpf schreibt:

"Vollkommen unerträglich war ihnen der Gedanke, ihr Sohn oder Bruder könnte freiwillig zu den Kommunisten übergelaufen sein."

Einige wenige waren von Jugend an Kommunisten gewesen; viele wollten nicht in die Kriege nach Korea oder Vietnam geschickt werden; mancher setzte sich im Suff oder nach einer Schlägerei aus Angst vor Strafe in den Osten ab; schwarze Amerikaner flohen vor dem Rassismus in ihrer Armee. Die meisten, bilanziert Köpf, waren "recht einfache Gesellen, bedauernswerte Existenzen, Opfer ihrer selbst oder der Verhältnisse in ihren Ländern". Und der ein oder andere war einfach nur ein Spion, der aus dem Westen kam – und davor hatte die Staatssicherheit derartige Angst, dass sie 1954 den "Objektvorgang 1835/60" anlegte: "Bearbeitung der Ausländer, Nato-Überläufer und Staatenlosen aus dem kapitalistischen Ausland". So wurden eifrig Informanten angeworben und die Deserteure, die vor allem im sächsischen Bautzen angesiedelt wurden, bespitzelten sich gegenseitig – "diesem verdammten Ort Bautzen", wie einer in einem Brief schrieb.

"Jeder Freund, der bei uns eine neue Heimat findet, ist eine Waffe gegen die Kriegstreiber", mochte einer ihrer Stasi-Betreuer den propagandistischen Wert der Deserteure im Kalten Krieg protokollieren. Doch die Realität in der Oberlausitz sah anders aus, wo sie in der Produktion, etwa beim Waggonbau, arbeiteten. "Die Überläufer kommen", hieß es 1956 in einem Bericht an Stasi-Staatssekretär Erich Mielke, "aus besseren materiellen Verhältnissen, als sie sie hier vorfinden." Den Landkreis durften sie nicht verlassen, manche fühlten sich da wie "Kriegsgefangene kaserniert". Es gab Kneipenschlägereien mit Deutschen, ein Amerikaner kam dabei ums Leben. Mindestens zwei Deserteure brachten sich um, mehrere mussten in psychiatrische Einrichtungen eingewiesen werden. "Knapp die Hälfte von ihnen hatte sich mehr oder weniger erfolgreich eingegliedert", lautete ein Stasi-Resümee im Herbst 1956. Eine positive Bilanz sieht anders aus. "Er verabscheute die Stadt", erzählte ein Amerikaner seinem Landsmann und Stasi-Spitzel Jack Forster alias William D. Adkins, "in der die Männer alle Ausländer hassten, weil ihre ‚Krauthuren‘ es mit jedem trieben, am liebsten sogar mit jedem dahergelaufenen ‚Neger‘." Dutzende setzen sich wieder in den Westen ab – wo Militärtribunale und Haft auf sie warteten. "Nur Falschheit und Lüge ist alles", bilanzierte ein heimgekehrter Franzose seine DDR-Erfahrungen.

Das alles ist gründlich recherchiert und liest sich spannend wie ein gelungener Fortsetzungsroman. Aber: Peter Köpf springt von einem Deserteur zum nächsten, von einem Stasi-Betreuer zum anderen und vermischt und vermengt alle miteinander – so dass der Leser leicht den Überblick verliert. Wie bei einem guten Fortsetzungsroman sollte in einer zweiten Auflage dieses verdienstvollen Buches über ein völlig vergessenes Kapitel des Kalten Krieges entweder zwischendurch immer mal wieder eine Zusammenfassung gebracht werden –oder besser noch ein Personenglossar, das die Lektüre ungemein erleichtern würde.

Und wo blieb Lieutenant Adkins alias John Reed? Der versuchte nach einer Kneipentour 1961, sich mit Schlaftabletten umzubringen, kündigte beim DDR-Rundfunk, verschwand am 4. Mai 1963 mit einem westdeutschen Reisepass über den Grenzübergang Friedrichstraße nach West-Berlin – und "blieb verschollen", so Peter Köpf: "Von John Reed oder William D. Adkins ist keine Spur mehr zu finden". Möglicherweise war er tatsächlich ein Agent der US-Armee.

Besprochen von Klaus Pokatzky

Peter Köpf: Wo ist Lieutenant Adkins? Das Schicksal desertierter Nato-Soldaten in der DDR
Ch. Links, Berlin 2013
224 Seiten, 19,90 Euro
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