"Ich bin kein Mensch, der hasst"

Moderation: Liane von Billerbeck · 01.06.2011
In einem Gespräch aus dem Jahr 2007 beschreibt der jüdische Schriftsteller und Psychoanalytiker Hans Keilson die Deutschen als ein Volk, das in der Nazi-Zeit erleben musste, wie der eigene Hass gegen andere letzlich zur Selbstvernichtung führte.
Ulrike Timm: 101 Jahre alt wurde der Schriftsteller, Arzt und Psychoanalytiker Hans Keilson. Jetzt ist er im niederländischen Hilversum gestorben – ein Jahrhundertzeuge. Geboren in Bad Freienwalde war Hans Keilson 1934 einer der letzten jüdischen Studenten, die das medizinische Examen ablegten. Sein erstes literarisches Werk mit dem Titel "Das Leben geht weiter" schrieb er mit Anfang 20, und er machte darin auch die wachsende antisemitische Stimmung in Deutschland zum Thema. Das Buch erschien 1933, pünktlich um von den Nazis verboten zu werden, so hat es Hans Keilson selbst gern gesagt.

Der Arzt und Schriftsteller immigrierte nach Holland und ging in den Widerstand, seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Nach 1945 arbeitete Hans Keilson als Psychoanalytiker vor allem mit jüdischen Waisen, deren Familien im Holocaust umgekommen waren. Und diese Aufgabe wurde zur Grundlage seiner Doktorarbeit, die er erst mit 70 Jahren vollendete und die bis heute als Standardwerk für die Behandlung traumatisierter Kinder gilt.

Im hohen Alter kam dann auch der literarische Ruhm: Vor ein paar Wochen erst erschienen seine Erinnerungen "Da steht mein Haus". Nach Deutschland kam Hans Keilson gerne zu Besuch, als niederländischer Staatsbürger. 2007 wurde ihm die Moses-Mendelssohn-Medaille verliehen. Und meine Kollegin Liane von Billerbeck hatte die Gelegenheit, mit dem damals 98-jährigen Hans Keilson zu sprechen.

Dieses Gespräch wollen wir Sie noch einmal hören lassen, und damit den Jahrhundertzeugen Hans Keilson würdigen. Und zu Beginn ging es um seine lebenslange Arbeit als Schriftsteller und als Psychoanalytiker und um die Frage, was ihm denn vielleicht doch näher sei.

Hans Keilson: Eine schöne Frage. Ich glaube, das hängt von den inneren Verhältnissen ab, in denen ich mich zurzeit bewege.

Liane von Billerbeck: Und da sind Sie mal das eine und mal das andere?

Keilson: Ja, aber ich bin immer Arzt gewesen, immer, das habe ich nie vergessen.

von Billerbeck: Als Arzt – wie war denn Ihre Diagnose? Hatten Sie noch gehofft, dass Hitler ein vorübergehender Spuk ist?

Keilson: Ich fürchte ja. Ich habe Hitler zwei oder drei Mal gesehen aus nächster Nähe, wo er gesprochen hat, Unter den Linden in Berlin, ich habe seine Reden gehört. Sie wissen, ich bin Psychiater, aber über Leute, die ich nicht als Patienten hatte und untersucht habe, stelle ich keine Diagnosen, auch nicht im saloppen Disput.

Aber meine Frau als Graphologin – ich erinnere mich, wir waren im Kronprinzenpalais in Berlin - Unter den Linden - da hing ein Bild von Hitler. Und ich ging raus, wir gingen raus, meine Frau drehte sich um und zeigte die Handschrift und sagte zu mir: "Der zündet die Welt an." Und höflich, wie ich bin, sagte ich zu ihr: "Du bist verrückt." Je öfter ich daran denke, desto typischer finde ich das für mich eigentlich.

von Billerbeck: Es gibt ja einen inzwischen berühmt gewordenen, geradezu sprichwörtlich gewordenen Satz des Malers Max Liebermann - der hat ja am Pariser Platz 7 gewohnt, also direkt neben dem Brandenburger Tor -, der, als er die Fackelzüge der SA 1933 sah, gesagt hat in drastisch Berliner Art, er könne gar nicht so viel essen, wie er kotzen möchte.

Keilson: Ja, das ist ein sehr bekannter Ausspruch, den habe ich damals auch in Berlin gehört, ja.

von Billerbeck: Wie stark war nach Ihrem damaligen Eindruck die Zustimmung der Deutschen für Hitler?

Keilson: Zu stark. Und ich werde Ihnen sagen, meine Meinung hat sich gebildet, seit ich in den Niederlanden wohne, was ich da erlebt habe. Es sind auch Menschen, militärisch und so weiter, aber die denken anders. Wenn sie etwas unternehmen, rechnen sie mit den Risikos, die ein Unternehmen hat. Und je länger ich in Holland war, dachte ich mir, aber ja, das ist in Deutschland nicht geschehen – so zu provozieren die ganze Welt.

Außerdem habe ich sehr frühzeitig Gedichte geschrieben, als ich nach Holland kam. Die gegenseitige fatale Übereinstimmung zwischen Verfolger und Verfolgten, dass Hitler in seinem Gesicht meine Züge hat und ich in meinem Gesicht etwas von ihm – das habe ich dann ausgearbeitet in dem "Tod des Widersachers", der in Deutschland völlig durchgefallen ist. In Holland war er ein Erfolg, in Amerika war er ein sehr großer Erfolg.

von Billerbeck: Nun ist ja das Dritte Reich vor über 60 Jahren untergegangen. Und wenn man die Debatten in den letzten Jahren verfolgt in Deutschland über die nationalsozialistische Zeit, dann haben die sich auch verändert. Es wird gerade in den letzten Jahren sehr viel über den Bombenkrieg, über Flucht und Vertreibung gesprochen. Und man redet sehr unbefangen auch darüber, welchen Leiden die Deutschen ausgesetzt waren. Irritiert Sie das?

Keilson: Nein, nein, nein. Ich finde es sehr gesund, dass die Deutschen lernen, wie groß das Risiko war, das sie eingegangen sind. Und dass ihre Eltern und Großeltern damit nicht gerechnet haben. Und dass jeder vernünftige Mensch in der Welt mit den Risikos rechnet, wenn er so eine große, aggressive Unternehmung plant wie damals die Nationalsozialisten. Ich finde es nur eine normale Entwicklung.

von Billerbeck: Wenn Sie auf die Nachkriegsjahrzehnte zurückblicken – wie bewerten Sie die Auseinandersetzung der Deutschen mit dem Nationalsozialismus?

Keilson: Habe ich nicht mitgemacht, da weiß ich zu wenig. Ich habe nach dem Kriege eine jüdische Organisation gegründet für die überlebenden Kriegswaisen in Holland, die ich während meiner Untertauchzeit ja schon betreut habe, Sie wissen, ich war Mitglied in einer illegalen Organisation im Widerstand, aber ohne Waffen. Ich hatte nur einen sehr gut gefälschten Pass. Ich konnte mich im Zuge bewegen überall, und habe die Kinder untersucht, und die habe ich … nach dem Kriege dann habe ich geholfen, die dritte traumatische Situation, dass sie sich einbürgern, und darüber bin ich dann später promoviert. Also ich hatte vollauf zu tun, und das interessierte mich mehr.

von Billerbeck: Als das, was in Deutschland geschieht.

Keilson: Ja, ich hatte Frau und wir hatten ein Kindchen, sie war 41 geboren – da sehen Sie unseren Mut. Und das interessierte mich eigentlich ein wenig mehr. Und außerdem war meine Trauer über meine Eltern, die heute noch sehr groß ist, …

Die Problematik in Deutschland habe ich vielleicht aus den Zeitungen verfolgt, aber dass sie mich innerlich so interessiert hätte, … Ich bin kein Mensch, der hasst. Ich habe ja erfahren, dass der Hass, den ich in Deutschland erlebt habe gegen die Juden, dieser Hass war ja ein Selbsthass. Man hat sich ja selbst vernichtet.

Mein Vater ist in Königsberg geboren, das ist ja nicht mehr deutsch, meine Mutter ist in Hirschberg, im Riesengebirge geboren, das ich sehr liebe. Ich war viel auf der Schneekoppe, ich war in Schreiberhau, in Krummhübel, in Hirschberg. Auch das ist nicht mehr deutsch. Und da werden Sie erstaunt sein, wenn ich sage, das finde ich eigentlich schade. Und ich kann nur sagen: Leider haben sich die Deutschen mit ihrem Hass eigentlich nicht positiv ihrem Leben gegenüber verhalten. Aber man muss das lernen, in einem Staat zu wohnen, zu leben, mit Nachbarn, und mit seiner Macht verständig umzugehen. Das hat man in Deutschland leider nicht getan. Deutsche Literatur, deutsche Musik, deutsche Technik - auch die deutschen Juden, die hier gelebt haben, gearbeitet haben – ich habe im Landschulheim in Caput gearbeitet. Ich habe in dem Häuschen gewohnt, das Einstein gehört hat. Tja, das ist ja kein Zufall, Einstein, nicht wahr. Und Liebermann ist auch kein Zufall, und viele andere.

von Billerbeck: Heine, den Sie auch sehr verehren.

Keilson: Heine, ja, auch nicht. Das war Hitlers Problem und ein Problem von Antisemiten, dass sie ihre Fehler, das, was sie nicht konnten, projektiert haben auf einen Sündenbock. Das habe ich ja versucht, "Tod des Widersachers", auch literarisch darzustellen. Und also wenn Sie mich fragen, hoffe ich, dass man in Deutschland so weit kommt, dass man sich nicht mehr durch Leute verleiten lässt - und jetzt sage ich etwas nicht sehr Schönes - durch Leute, die selbst ja keinen Beruf gelernt haben, die es nicht gelernt haben, was es heißt, einen Beruf zu haben, Disziplin zu haben, sich zurückzuhalten, mit Anderen leben zu müssen. Oft ist man mit denen nicht einig – das ist doch das Leben, allemal, nicht wahr?! Und ich hoffe es sehr, dass es in Deutschland gelernt wird.

Ulrike Timm: Die Stimme von Hans Keilson, der Schriftsteller und Psychoanalytiker ist jetzt in Hilversum gestorben, er wurde 101 Jahre alt, zuletzt zu Gast im Radiofeuilleton war Hans Keilson 2007. Mit dem Gespräch, das Liane von Billerbeck damals mit ihm führte, möchten wir ihn würdigen.