"Ich bin ein Orakel geworden"

Von Jochen Stöckmann · 26.04.2006
Die Hamburger Deichtorhallen präsentieren mit "mama jonny" derzeit die erste Werkschau von Jonathan Meese in Deutschland. Der 35-jährige Meese gehört zur Elite der hiesigen jüngeren Künstler. Zu sehen sind Gemälde, Skulpturen, Fotografien und Installationen. Im Zentrum der Schau steht die "Black Box", ein für Frank Castorfs "Kokain"-Inszenierung entworfenes Bühnenbild.
Das Märchenschloss heißt "Moa", und über seine rosafarbenen Zinnen schaut grimmig Rainer Werner Faßbinder, der Filmemacher, daneben posieren Bill Clinton und Yoko Ono. Hinter den Mauern lauert eine halbe Hundertschaft bizarrer Papp- und Punkskulpturen, der "Erzrunengott" oder ähnlich seltsame Heilige, mit denen Jonathan Meese 1998 auf der Berlin Biennale bekannt und wenig später dann berühmt geworden ist.

Nun, da es gilt, für eine Retrospektive die gigantische, 18 Meter hohe Hamburger Deichtorhalle zu füllen, kommt neben dem Schloss auch der gut sechs Meter hohe Nachbau eines Flakbunkers aus dem Jahr 2000 wieder zu Ehren: Im Innern wartet die "Jenseitskutsche" mit der üblichen Meese-Puppe – diesmal trägt sie nicht das Fotoporträt des Künstlers, sondern eine lederne Sado-Maso-Maske. Auf einem Rost mit gleißenden Neonröhren ist der Holzschlitten in die Unterwelt immerhin so effektvoll arrangiert wie die Lamborghini-Luxuskarren in der Autostadt von VW.

Aber wer bemerkt schon ironisch-feine Seitenhiebe, wenn zwischen Schloss, Flakbunker und einer dreißig Meter langen "Black Box" mit Drehbühne für Frank Castorfs "Kokain"-Inszenierung ein ganzes Universum bewältigt sein will: Ölgemälde und Fotocollagen, Büsten aus Lehm und Bronze, Relikte der ob ihres Stimm- und Körpereinsatzes berüchtigten Künstler-Performances und eine Bibliothek aus Blindbänden im Kroko-Imitat hat Meese aufgefahren.

"Ich befinde mich ja in einer totalen Hysterie. Das muss man mir nachsehen, denn das gehört dazu und das ist wichtig für die Sache. Ich bin ein Orakel geworden, ich bin so körperlich erschöpft, dass ich nur noch die Wahrheit sagen kann. Ich kann gar nichts anderes mehr sagen – und deshalb muss man mich absolut laufen lassen."

So lautet Meeses Mission, und diesem fast schon überirdischen Auftrag hat sich Kurator Robert Fleck willig gefügt. Denn wehe, wenn ein kopflastiges Konzept den unaufhaltsamen Aufstieg zu höheren Graden spiritueller Erleuchtung kreuzt:

"Kunst ist ein diffuser Status, genauso wie der Künstler. Und das muss auch so bleiben. Es ist nebulös, niemand weiß, keiner weiß was Kunst ist. Es gibt keine Rezepte. Kunst ist ihre eigene Theorie, ihr eigenes Rezept, ihr eigenes Gedankengut, ihr eigener Traum."
Oder auch Alptraum: Der Starkult um blutrünstige Diktatoren wie Stalin und Pol Pot ist bestenfalls mit Naivität zu entschuldigen. Doch weder politische oder soziale, ja nicht einmal ästhetische Kategorien zählen für Meese, wenn die Kunst über ihn kommt:

"Sie soll mir etwas zeigen, was noch nie ein Mensch gesehen hat. Ich will etwas sehen, was ich noch nie zuvor gesehen habe. Das ist das, was ich von der Kunst verlange. Ich möchte die totale Revolution sehen, total und absolut. Ob ich dann Täter oder Opfer bin, das ist mir scheißegal. Ich will das absolut offene Spiel, ich will es einmal sehen und dann will ich sterben."
Sterben mit Blick auf die antiken Stätten Italiens wollte man schon zu Goethes Zeiten. Doch mit der "attischen Anmut" – da muss man Meeses Hausgott Ezra Pound recht geben – ist es vorbei. "Die Zeit", so sprach der Skandaldichter am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, "verlangt ein Abbild ihrer zuckenden Grimasse."

Und dafür sorgt Meese immerhin. Nicht, indem er an der Form feilt, sondern indem er im Furor seines einzigartigen Schaffensrausches Formate füllt: Meterhohe Leinwände oder Plastikplanen, auf denen neben der krakeligen Kinderhandschrift Figuren aller Jahrhunderte auftauchen. Kaiser Caligula mit mächtig erigiertem Penis, der Pariser Revolutionär Saint-Just oder die mittlerweile bekannte Legionärstruppe mit den Huren im weißen Kübelwagen – sie alle dienen dem Künstler als Spielmarken. Und lassen den Kurator Robert Fleck ehrfürchtig staunen:

"Dass Meese es schafft mit einem Panoptikum aus lauter gescheiterten Helden die Geschichte wieder in die Hand zu bekommen – für Generationen, denen der Griff auf die Geschichte völlig abhanden gekommen ist."

Ob allerdings die Starparade von Meese das Geschichtsverständnis fördert, darf bezweifelt werden. Denn das mit wildem Pinselstrich hingehauene Porträtpotpourri aus Feingeistern von Heidegger bis Klossowski und raubeinigen Leinwandhelden wie Burkhard Driest oder Steve McQueen ließe sich gar zu beliebig strecken und erweitern:

"Tom Cruise ist okay! Ich meine, dass er in dem letzten Stanley-Kubrick-Film mitgespielt hat, adelt ihn zutiefst, weil er von einer wirklichen Instanz den Ritterschlag erhalten hat. Stanley Kubrick ist ein Gesetz der Kunst."

In der Politik würde das die Diktatur eines Einzelnen bedeuten, aber für die Sphäre der Kunst verfügt Meese eine, seine Ausnahme:
"Wir müssen anmaßend werden. Anmaßung gehört in die Kunst, Literatur, ins Theaterwesen, in die Musik und in die Philosophie. Sie gehört nicht auf die Straße. Mich werden sie niemals auf der Straße finden, ich habe Angst vor der mickrigen Realität da draußen und vor meiner eigenen Mickrigkeit. Ich habe sie doch niemals zum Gesetz erhoben – aber das tun die meisten simulierten Radikalen."

Die Eisernen Kreuze an der schwarzen Kubuswand, die Rufe nach Stalin und eine Verherrlichung von Hitlers Bayreuth-Kult um Richard Wagner – sind die etwa keine Simulation, keine provozierende Künstlerattitüde?

"Ich bezeichne mich als Links-rechts-Extremisten. Und das Schlimme an Bayreuth ist ja, dass es gar nicht mehr reaktionär ist. Es wäre ja wunderbar, wenn es das wenigstens noch wäre. Aber da gehen nur noch Mitläufer hin, da muss mal was Radikales passieren, in jeglicher Hinsicht. Das Publikum möge abgeschafft werden, da muss Gesichtskontrolle her. Das Publikum ist das Grauen."

Dagegen helfen nur die Schreckensmänner. Aber so etwas traut man dem freundlichen Dreißigjährigen mit langer Mähne, in Trainingsjacke und schwarzer Schlaghose kaum zu. Und genau deshalb wird er weitermachen, ganz wild und entschlossen, als ein von Kunstsammlern hoch geschätzter und gut bezahlter Einzelkämpfer:

"Der Künstler hat der gefährlichste Mann und Mensch zu sein, den es gibt. Das finde ich in der Kunstszene überhaupt nicht mehr. Also: Hingabe, mal was riskieren – davon haben die noch nie etwas gehört."

Service:
Jonathan Meese, geboren 1971, ist einer von den jüngeren deutschen Künstlern, die international Anerkennung finden. Er wuchs in der Nähe von Hamburg auf und studierte bis 1998 an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste. Nach Auftritten in Tokio und der Turbine Hall der Londoner Tate Modern im Februar dieses Jahres präsentiert er nun die erste große Ausstellung in seiner Heimatstadt.

Jonathan Meese "mama johnny”, Deichtorhallen Hamburg, 30. April bis 03. September 2006