"Ich arbeite nicht, ich schreibe"

Von Tobias Wenzel · 02.01.2008
Am Schreiben liebt Kiran Desai vor allem, dass man sich Zeit lassen kann. So vergingen zwischen ihren beiden letzten Büchern immerhin acht Jahre. Und trotz oder gerade wegen ihres beschaulichen Tempos erhielt sie für ihren Roman "Erbin des verlorenen Landes" den Booker Preis 2006.
"An einigen Tagen denke ich besonders an Indien. Oder ich höre ein Lied und fühle mich zutiefst indisch. Dann wieder überhaupt nicht, wenn ich mich mit Freunden in einem Café in New York unterhalte. Aber ich brauche den Blick von außen auf Indien. Wenn ich andere indische Schriftsteller in England oder in den USA treffe, dann spüre ich eine emotionale Verbundenheit."

Kiran Desai, eine schlanke Inderin mit braunen Augen und Sommersprossen auf der Nase, sitzt in einem roten Sessel im Foyer eines Berliner Hotels. Ihre schulterlangen schwarzen Haare sind noch vom Duschen nass. Denn sie hat das Interview vergessen. Macht nichts, sagt sie. Die Haare würden auch ohne Föhn trocknen. Kiran Desai ist ein unbefangener Mensch. 1971 wurde sie als Tochter eines Angestellten und einer erfolgreichen Schriftstellerin, Anita Desai, in Neu-Delhi geboren.

"Meine Mutter sagte uns vier Kindern immer: ‚Schreibt bloß nicht! Ein Schriftsteller führt ein so schwieriges, einsames und hartes Leben!’ Ich wusste aber schon damals, dass sie jeden Morgen so schnell sie nur konnte zu ihrem Schreibtisch lief, die Tür schloss und bestenfalls gar nicht mehr aus dem Zimmer kam. Als ich schließlich mit 19 oder 20 Jahren zu schreiben anfing, hatte ich das Gefühl, in ein warmes Bad zu steigen. Schreiben erschien mir so vertraut, weil es der Rhythmus meiner Kindheit war."

Ihre Kindheit verbrachte Kiran Desai bis zu ihrem 14. Lebensjahr in Neu-Delhi, ganz ohne Religion, völlig untypisch für Indien. Dann zog die Familie nach England und kurz darauf in die USA nach Massachusetts. In ihrem Debüt-Roman "Der Guru im Guavenbaum" schildert sie die Geschichte eines Jungen, der auf einen Baum klettert, um die Kindheit nicht verlassen zu müssen. Kiran Desai selbst wollte aber erwachsen werden:

"Die Idee einer idealen Kindheit habe ich durch Bücher erlebt. Ich brauchte Bücher, um zu erfahren, was es heißt, im schönsten Sinne des Wortes, indisch zu sein. So wie ich in Astrid Lindgrens Büchern sehe, wie man auf die schönste Weise schwedisch ist. Mit meinem ersten Buch wollte ich die Schönheit Indiens beschreiben. Mit meinem zweiten Buch wollte ich Argumente gegen die Schönheit liefern. Ich trampelte auf der Schönheit herum."

Mit diesem literarischen Herumtrampeln, mit dem Roman "Erbin des verlorenen Landes", gewann Kiran Desai 2006 den renommierten Booker Preis und wurde international bekannt. Es ist ein nachdenkliches Buch mit einer Liebesgeschichte, die traurig endet:

"Ich liebe Bücher, die einen wunderschönen, romantischen Schluss haben. Ich liebe Bollywood-Filme, dieses Gefühl, die Liebe würde alles erobern, die Probleme der Welt lösen, und jede Art von Grenzen und Hass überwinden. Aber in Wirklichkeit entfernen wir Menschen uns doch voneinander durch Kräfte wie Nationalismus und Klassenunterschiede. So etwas überwindet man nicht so einfach. Die große Tragödie der Welt ist, dass wir diesen Kräften erliegen."
So scheitert im Roman "Erbin des verlorenen Landes" die Liebe des Mädchens Sai, weil sich ihr Geliebter Rebellen anschließt. Sai lebt mit ihrem Großvater, einem ehemaligen Richter, an den Hängen des Himalayas. Jedes Jahr verbringt Kiran Desai einige Monate in Neu-Delhi, um dann wieder nach New York zurückzukehren.

"Als ich das Buch schrieb, hatte ich das Gefühl, als Immigrantin in den USA nur die Hälfte meines Lebens zu kennen und somit nur die Hälfte meines Buches schreiben zu können. Ich kehrte deshalb nach dem Tod meiner Großeltern in ihr Indien zurück."

"Mein Großvater väterlicherseits verließ einst sein indisches Dorf, um in England Richter zu werden. Meine Großmutter mütterlicherseits war Deutsche und ihr Mann war ein Flüchtling aus Bangladesh. Meine Großeltern sind in ihrem Leben viel gereist. Dass auch ich Indien verlassen habe, war also kein Zufall."

Schriftsteller zu sein, sei eine großartige Sache, erzählt die unverheiratete Kiran Desai lachend und streicht sich eine nasse Haarsträhne hinter das Ohr. Beim Schreiben könne man so schön trödeln. Zwischen ihren beiden Romanen vergingen acht Jahre. Ihr Agent hatte sie und den Roman schon längst abgeschrieben. Einen gewöhnlichen Beruf auszuüben, das kann sich die 36-jährige Autorin nicht vorstellen:

"Natürlich habe ich während des Studiums gejobbt, in einer Cafeteria und in einer Bibliothek. Allerdings erfuhr ich in der Bibliothek, dass ich die langsamste Mitarbeiterin aller Zeiten war. Ohne unser Wissen hatten unsere Vorgesetzten unser Arbeitstempo gestoppt. Ich war so langsam, weil ich zwischen den Regalen las, einschlief und gar nicht mehr hervorkam."