Ibsen-Schreber-Inszenierung am Schauspiel Leipzig

Im Kopf eines geistig Zerrütteten

Szene aus "Gespenster oder Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" im Schauspiel Leipzig.
Szene aus "Gespenster oder Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ im Schauspiel Leipzig. © Rolf Arnold / Schauspiel Leipzig
Von Bernhard Doppler · 01.04.2018
Regisseur Philipp Preus verlegt das Theaterstück "Gespenster" in den Kopf eines Nervenkranken, verschränkt Henrik Ibsens Familiendrama mit dem autobiografischen Text von Daniel Paul Schreber "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken". Eine radikale Inszenierung am Schauspiel Leipzig.
Ein riesiger weißer Ballon, auf den als Live-Video ein sprechender Kopf projiziert wird, und in den eine Frau im weißen Kleid allmählich eingesogen und schließlich verschluckt wird, bestimmt das eindrucksvolle surreale Bühnenbild von Ramallah Aubrecht nach der Pause. Vor dem riesigen Ballonkopf Figuren in verschieden knebelartigen Gesichtsbändern und Beißkörben. Mit ihnen wollte der im 19. Jahrhundert angesehene Leipziger Heil- und Turnpädagoge Daniel Moritz Schreber, einer der schlimmsten Vertreter einer Schwarzen Pädagogik, die Körper der Heranwachsenden formen. "Kopfzertrümmerungsmaschinen", wird sie sein Sohn Daniel Paul Schreber, der dreimal in psychiatrische Anstalten kam, später nennen.
Wenn das Schauspiel Leipzig auch diese Spielzeit wieder eine Doppelbefragung zweier Texte macht, dann wird mit der Koppelung der Rechtfertigungsschrift von Daniel Pauls Schrebers "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" und Henrik Ibsens "Gespenster", eine radikale, aber sehr einleuchtende Lesart von Ibsens Familiendrama geboten: Ein Theater-Abend, der im Kopf eines geistig Zerrütteten spielt.

Die Nerven als Verbindungsschnüre zu Sonne und Gott

Ganz im Sinne von Schrebers Vorstellungen sind die Nerven die Hauptakteure. Sie sind bei ihm nämlich als "Seelen" Verbindungsschnüre zu Sonne und Gott. Manchmal bergen die Nerven die Seelen verschiedener Vögel, die den Körper zwitschern lassen, und manchmal zeigen sie - zumindest in Schrebers Wahnvorstellungen - Spuren lange bekämpfter Krankheiten, wie Pest und Lepra. Die Verbindung zu Ibsens "Gespenster", vor allem wenn man das Drama aus der Perspektive des in sein Elternhaus zurückkehrenden zerrütteten Oswald sieht, wird offensichtlich. Auch bei ihm brechen Erbkrankheiten auf und die Gespenster seiner Familiengeschichte tauchen auf und lassen sich nicht abschütteln.
Die Nerven als Akteure: Das vermag die Inszenierung von Philipp Preuss eindrücklich zu bebildern. Es wird unermüdlich geturnt, gezittert, in ständiger ruheloser Anspannung, Sexualität als hektische Gymnastik betrieben, kaum jemand spricht direkt miteinander; es wird halluziniert, endlos ein Satz wiederholt, plötzlich gebrüllt. Der nervenkranke Sohn Schreber hat unter seinen "Seelen" auch den "Brüllmuskel" entdeckt.

Beklemmend und gruselig

Die minimalistische Musik eines Streicherquintetts begleitet dabei gespenstisch melodramatisch diese Verrücktheiten. Das nie aussetzende Streichen an den Saiten klingt wie Zupfen an Nerven. Manchmal verdreifacht sich Ibsens Held Oswald oder wechselt zu Texten von Schreber über. Schon im ersten Teil unterstreicht das Bühnenbild den Wirbel im Kopf. Die dunkle Vertäfelung des Zuschauerraums im Leipziger Schauspielhaus setzt sich in ihm auf der Bühne fort, allerdings in vier Räumen, die fast ständig auf der Drehbühne rotieren.
Ibsens Figuren bleiben dabei durchaus kenntlich, Tilo Krügel als Tischler Engstrand, Markus Lerche als Pastor Manders, der durchaus auch gespenstische einfühlsame Freund des Hauses Alving, Anna Keil als Frau Alving, die schließlich im Kopf ihres Sohnes verschwindet. Das gut eingespielte Schauspiel-, aber auch Musikensemble (Levitation String Quartett) führen aber vor allem eine Choreographie über nicht abzuschüttelnde Familiengespenster und fanatische "Schwarzer Pädagogik" des Körpers vor. Beklemmend und gruselig.
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