Iberoamerikanisches Festival in Heidelberg

Über die Zerrissenheit eines Kontinents

Szene aus "Die lateinamerikanische Tragödie" von Felipe Hirsch. Mit dem Stück wurde das Iboamerikanische Theaterfestival Adelande in Heidelberg eröffnet.
Szene aus "Die lateinamerikanische Tragödie" von Felipe Hirsch. Mit dem Stück wurde das Iboamerikanische Theaterfestival Adelande in Heidelberg eröffnet. © Deutschlandradio / S. Burkhardt
Von Susanne Burkhardt · 14.02.2017
Kolonialisierung, Gewalt, fehlende Bildung: Der brasilianische Regisseur Felipe Hirsch zeigt in seiner Produktion "Eine lateinamerikanische Tragödie" die Probleme eines Kontinents. Das Stück ist eine von 13 Inszenierungen beim "Adelante"-Festival für iberoamerikanische Theaterkunst in Heidelberg.
Man könnte die Tragödie des lateinamerikanischen Kontinentes in vier Stichworten umreißen: Kolonialisierung, Gewalt, fehlende Bildung und ein korruptes politisches System.
Der brasilianische Theater- und Filmregisseur Felipe Hirsch nimmt sich in seiner Festival-Eröffnungsproduktion fast vier Stunden Zeit für seine Version der "Lateinamerikanischen Tragödie". Deren Komplexität spiegelt er in der Collage von Texten junger Autoren: ein bisschen nummernrevue-artig auf die große Heidelberger Bühne gebracht von elf Akteuren, die im Laufe des langen Abends Dutzende matratzengroße Styroporblöcke zu Mauern, Flächen oder Ruinenlandschaften umsortieren - begleitet von vier tollen Live-Musikern, die den Darstellern mitunter die Show stehlen.
Wie viele Autoren braucht es, fragt Hirsch, um die Geschichte eines Kontinents zu schreiben - und wie viele Diebe, ihn zu zerstören?
Ungewöhnlich für die sonst so experimentellen Arbeiten Hirschs fokussiert dieser Abend stark auf den Text – weniger aufs Spiel. Wer wach bleibt und aufmerksam Übertitel liest, erfährt viel über die Entstehung und die Ursachen von Gewalt, sehr oft im sexualisierten Kontext, über die Zerrissenheit eines ja vergleichsweise jungen Kontinents, der sich erst vor 100 Jahren von den Kolonialmächten befreit hat. Ein sehr kritischer, teilweise poetischer Abend – den brasilianische Politiker nicht sehen werden – denn:
Ilona Goyeneche: "Ich würde sagen grundsätzlich gehen die lateinamerikanischen Politiker nicht ins Theater."
So Ilona Goyeneche, Kuratorin des Festivals. Warum also hat Kultur dann doch einen so hohen Stellenwert in den lateinamerikanischen Ländern?
Ilona Goyeneche: "Das ist der Ort, an dem man Sachen sagen kann, die sich im normalen Umgang niemand traut zu sagen."
Hirsch: "Es ist eine Ironie."
Sagt der Regisseur Felipe Hirsch, dass ausgerechnet jetzt Theater in Brasilien eine so wichtige Rolle spielt.
"Vor drei Monaten wollte die Regierung das Kulturministerium abschaffen. Künstler haben deshalb öffentliche Gebäude besetzt, und protestiert – mit Shows, Performances, Konzerten. Und sie haben die Schließung verhindern können. Auch wenn es traurig stimmt – aber Theater ist heute wichtiger als vor 10 oder 15 Jahren. Ich würde viel lieber über Poesie sprechen, über Humanität und Gott. So ein bisschen im Birdman-Style – aber im Moment ist es wichtig über Politik zu sprechen …"
Auch die Theatermacher in Chile greifen in fast allen Produktionen politische Themen auf: "Wer sind die Barbaren?" Diese Frage stellt zum Beispiel das Theaterkollektiv Bonobo im gleichnamigen Stück.
Was, wenn das Fremde gar nicht das Bedrohliche ist, sondern nur eine Ausrede, um von den eigenen Ängsten abzulenken? Eine willkommene Strategie rechtsnationaler Stimmungsmacher?
Andreina Olivari: "Das Bild der Barbaren ist eine Erfindung von uns Weißen, die im Zentrum der Macht stehen."
So Andreina Olivari die junge Regisseurin:
"In unserem Stück untersuchen wir, wie wir als Bürger das Bild des Anderen gestaltet haben, um unsere Feinde zu definieren."

Stücke zeigen den Umbruch des Kontinents

Entwickelt hat das freie Schauspielteam den unglaublich aktuellen und starken Text durch Improvisation. Drei Cousins im Gespräch – in dem nach und nach verdeckte Aggressionen zum Vorschein kommen. Das Ergebnis: Schnelle präzise Dialoge, in unaufwändigen Bühnenbild. Kluges Theater mit einfachen Mitteln. Ein Stück, das man sich auf allen Bühnen dieses Landes wünscht – weil es so gut gebaut ist, subtil, intelligent und dabei extrem komisch aufzeigt, dass die Barbaren natürlich in uns selbst stecken. Das Publikum ist begeistert.
Wie sehr der junge Kontinent Lateinamerika im Umbruch ist, wie sehr er sich mit der eigenen Vergangenheit befasst - zeigen auch Arbeiten wie die kubanische Produktion "Backstreet Boys" - über das Leben männlichen Sexarbeiter in Kuba oder "Die Gefangene" inszeniert von der peruanischen Regisseurin Chela de Ferrari.
Darin geht’s um ein 14-jähriges Mädchens, das in einer Leichenhalle aufwacht und dem Bestatter ihre Geschichte erzählt. Er sollt die vermeintlich Tote zurechtmachen, für die Soldaten, die vor der Tür warten, um die Leiche zu vergewaltigen. Eine Aufarbeitung der Zeit um die 1980er-Jahre - also so etwas tatsächlich in Peru passierte. Nach der Premiere des Stücks in einem reichen Viertel von Lima stand die Polizei vor ihrer Tür - es drohte eine Klage wegen "Verherrlichung des Terrorismus". Für das Team eine überraschend heftige Reaktion:
De Ferrari: "Wir haben gehört, dass es einen Bericht über uns gibt, dass die Kommission für Wahrheitsfindung dieses Theaterstück ablehnt. Politische Kräfte in Lima, Parteien, Regierung und Teile der Bevölkerung waren absolut gegen die Darstellung in unserem Stück."
Das Bedürfnis, die Vergangenheit zu verdrängen ist groß. Doch die peruanische Regisseurin will die mentalen Strukturen aufbrechen.
De Ferrari: "Wir sind der Meinung, dass wir uns als Land nur weiterentwickeln können, wenn wir auch die schmerzhaften Prozesse unserer Geschichte aufarbeiten."
Nach massiven Protesten durch Intellektuelle und Künstler wird auf eine Anklage verzichtet. Jetzt darf "Die Gefangene" wieder in Peru gezeigt werden. Ein Beispiel der starken wiederbelebten peruanischen Theaterszene, die über Jahre vom Terrorismus lahmgelegt worden ist.
Am Deutlichsten an diesem Auftaktwochenende wurden Chancen und Probleme eines Kultur- und Wissenstransfers in der Produktion "Not in my backyard" – und das gleich doppelt: in der Inszenierung und in der Realität: erarbeitet von zwei Schauspielern des Heidelberger Theaters mit dem chilenischen Colectivo Zoológico in nur sechs Wochen.
Im Stück erscheinen die zwei Deutschen als Besserwisser aus der ersten Welt – sie sollen einer Öko-Kommune helfen, ihr Areal gegen den Neubau von Sozialwohnungen verteidigen. Einer Kommune, die in sich gespalten ist – aber Kommissionen gründet mit lustigen Namen wie "Dialog und Begegnung", "Zukunft" oder "Stärkung der Liebe" .

"Adelante heißt vorwärts"

"Wir sind die Guten" - ein Slogan, den die Deutschen den Ökos einpflanzen, Skrupel ausgeschlossen. Die zweisprachige Inszenierung ist derart amüsant und leichtfüßig geraten, dass es nicht stört, wenn der Blick immer wieder nach oben rutscht, auf die deutschen Untertitel. Wie schwierig die internationale Zusammenarbeit aus unterschiedlichen Gründen war, wird erst später im Publikumsgespräch deutlich:
Publikumsgespräch: "Es dauert alles länger - man muss sich wahnsinnig konzentrieren - aufpassen dass man keine Missverständnisse hat."
Chilenin: "Ich glaube es es einfacher ist, wenn man die Ideen sehr klar im Kopf hat - man muss sehr offen sein und sich genau auf die andere Sprache einstellen."
Es sind diese Publikumsgespräche, die die Arbeiten der geladenen Gäste noch zugänglicher machen. Das Heidelberger Publikum erweist sich als extrem neugierig, offen und aufnahmefähig: Nicht nur die Vorstellungen sind immer voll, auch die Diskussionsrunden, die das Festival flankieren – sind bis auf den letzten Platz besetzt.
"Adelante" - so erklärt der Intendant Holger Schulze bei der Eröffnung des Festivals – heißt "vorwärts" – aber auch "herein". Über die Unterschiede sprechen und sich dennoch verständigen. Empathie als politische Übung. Darin liegt der Wert dieses Festivals. Er ist nicht hoch genug zu schätzen in diesen Zeiten der Intoleranz.
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