Ian McGuire: "Der Abstinent"

Die Schatten der Gewalt

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Buchcover Ian McGuire "Der Abstinent"
Romane sind nicht dazu da, die Scharniere der Welt mit Schmieröl zu beträufeln: Daran lässt Ian McGuires "Der Abstinent" keinen Zweifel. © Deutschlandradio / dtv
Von Rainer Moritz · 20.05.2021
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Manchester, 1867: Eine irische Geheimorganisation geht in den Kampf gegen die verhassten Engländer. Der Konflikt eskaliert. Ian McGuire erzählt schnörkellos von elementaren Fragen: Kann man sich der oft beschworenen "Spirale der Gewalt" entziehen?
Wenn sich Konflikte nicht beilegen lassen, spricht man gern von einer "Spirale der Gewalt", die sich von niemandem aufhalten lasse. Der 1964 in Hull geborene Ian McGuire, bekannt geworden durch seinen für den Booker Prize nominierten Roman "Nordwasser", macht genau das in seinem Buch zum Thema.

Ein alter Konflikt eskaliert aufs Neue

"Der Abstinent" setzt ein im Manchester des Jahres 1867. In der Industriemetropole breitet sich nicht nur der Kapitalismus auf rüde, kaum gebremste Weise aus. Nein, hier tobt auch der Kampf, den die Fenian-Brüderschaft, eine irische Geheimorganisation, gegen die verhassten Engländer führt.
Ausgangspunkt ist ein historisch verbürgtes Ereignis, als im November 1867 drei Fenians öffentlich wegen Polizistenmordes hingerichtet und danach als Märtyrer gefeiert werden. Der Konflikt eskaliert aufs Neue und um Rache zu üben, heuern die Fenians den amerikanischen Bürgerkriegsveteranen Stephen Doyle an.

Ein Katz-und-Maus-Spiel

Doyles Gegenspieler ist ein irischer Polizist, James O’Connor, der als eine Art Strafmaßnahme nach Manchester versetzt wurde. Er blickt auf eine trostlose Vergangenheit zurück: Frau und Kind sind ihm gestorben, und um ein Haar wäre er dem Alkohol zum Opfer gefallen. Unter seinen englischen Kollegen bleibt er ein Außenseiter.
Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt, in das bald auch sein Neffe Michael involviert wird und das auf einen Zweikampf zwischen O’Connor und Doyle hinausläuft.

Es brodelt unter der Oberfläche

McGuire schafft so einen nicht abbrechenden Spannungsbogen, der die Kämpfe der Zeit stark personalisiert. Dringlichkeit erhält seine Prosa durch das durchgehaltene Erzähltempus des Präsens, das Schritt für Schritt in diese düstere Welt hineinzieht.
Wie Nationalismus und Terrorismus unter der Oberfläche des boomenden Manchester brodeln, zeigt "Der Abstinent" atmosphärisch beklemmend.
James O’Connor scheint der Einzige zu sein, der Doyle zur Strecke bringen kann. Doch es nicht nur der Kampf gegen die Fenians, der O’Connor fordert. Die Vergangenheit, seine tote Frau Catherine, lässt ihn nicht los, und als er sich der Schwester eines erschossenen Kollegen nähert, liegt auf dieser Beziehung kein Segen: Die Gewalt wirft auf das kleine private Glück zu große Schatten.

Eine Spirale der Gewalt

So wenig dieser Roman dazu neigt, die irisch-englischen Auseinandersetzungen jener Jahre zu verharmlosen, so deutlich zeichnet sich im Schlussteil ab, dass zumindest James O’Connor die Spirale der Gewalt nicht einfach akzeptieren mag.
Er gibt nicht klein bei, als Doyle nach Harrisburg entflieht. Auf einer Farm kommt es zu einem erzählerisch prachtvoll ausgeführten Showdown. Wie dieses Duell ausgeht und ob die Exzesse von Manchester noch auf amerikanischem Boden mit gleicher Münze gerächt werden, das macht die bewegenden Schlusspassagen aus.

Schnörkellos erzählt

Romane sind nicht dazu da, die Scharniere der Welt mit Schmieröl zu beträufeln. Doch McGuires "Der Abstinent" schafft es immer wieder, elementare Fragen zu stellen, denen sich kein Leser, keine Leserin zu entziehen vermag: Musste alles so kommen, wie es kam? Und vor allem: Welche Chancen hat der Einzelne, aus Gewalt und Vergeltung auszubrechen?
Dass diese Fragen unausweichlich werden, hat vor allem mit McGuires Stil zu tun: Schnörkellos bis zuletzt wird hier erzählt, vermutlich weil das furchtbare Regiment der Gewalt keine Schnörkel verträgt und braucht.

Ian McGuire: "Der Abstinent"
Aus dem Englischen von Jan Schönherr
dtv, München 2021
336 Seiten, 23 Euro

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