Hypersensibles Hörorgan

Bildungsbürgerliche Akkuratesse und eine scharf linke Agenda zugleich: Unter dem Pseudonym Jonas Überohr schrieb der 1993 verstorbene Helmut Salzinger seit den 70er-Jahren Musikkolumnen mit faszinierender Verve, die nun neu editiert wurden.
Das Pseudonym ist Programm und ironische Selbstkommentierung zugleich: Überohr. Den extrem verfeinerten Hörsinn hatte Helmut Salzinger (1935-1993) tatsächlich, das für den Zeitgeist und seine Erscheinungen hypersensible Organ. Gleichzeitig hielt er dieses seismographische Talent für Strömungen in Musik und Literatur selbst für fragwürdig. Genau das aber macht den Kritiker aus: dass er seine eigene Haltung immer auch im Kontext der Verhältnisse sieht, in denen sie entsteht.

Als Jonas Überohr schrieb Salzinger Kolumnen ab Mitte der siebziger Jahre in "Sounds", jenem legendären Hamburger Musikmagazin, das - eine Neuheit im deutschen Sprachraum - Pop und Politik zusammenbrachte. Vorher hatte Salzinger bereits im Alleingang einen journalistischen Paradigmenwechsel wenigstens im Kleinen herbeigeschrieben: Für die ehrwürdige "Zeit" verfasste er in den späten Sechzigern Musik- und Buchrezensionen, die den alten ideologischen Grabenkampf zwischen U- und E-Kultur schlicht ignorierten. Salzinger dachte nach über Andy Warhol und Bob Dylan, Frank Zappa und die Stones, aber eben nicht im aufgeregten Stil der Gonzo-Journalisten, sondern mit bildungsbürgerlicher Akkuratesse und zugleich scharf linker Agenda.

Die marxistische Denklogik war die Folie, vor der sich seine feuilletonistische und essayistische Arbeit in Szene setzte, sie grundierte die Einlassungen zu allen möglichen Themen vor allem der Massenkultur mit faszinierender Verve. Heute mag einem das Abklopfen von Rockkonzerten und Unterhaltungsromanen auf ihr subversives Potenzial bemüht bis naiv erscheinen; in der Lektüre von Salzingers Texten zeigt das Verfahren aber gerade in der Rückschau, was in Zukunft wünschenswert wäre: eine leidenschaftliche Popkritik, die sich nicht vor politischer Leidenschaft scheut, zugleich aber offen ist für die Artikulation der eigenen Widersprüche.

Denn dass in den Phänomenen der Populärkultur eine brisante Dialektik waltet, das wusste Salzinger/Überohr: Seine Plädoyers für die Werke Warhols und Timothy Learys, die Platten der Beatles und der Stones suchten im Pop zwar das widerständige Potenzial, leugneten aber nie dessen Abhängigkeit und Zurichtung vom Markt. Insofern war diese Kulturkritik abgebrüht und emphatisch zugleich, scharfsinnige Abrechung und utopisches Programm.

Die großen Popdebatten der letzten zwei Jahrzehnte hat Salzinger nicht mehr erleben können. Er starb 1993, kurz bevor Ulf Poschardt im "Spiegel" den "Abschied von der Popkultur" bei der linken Intelligenz betrauerte. Natürlich hat sich das Feuilleton nie wirklich vom Pop verabschiedet, aber es hat, gerade heute, in Anbetracht der nicht mehr ganz so neuen Unübersichtlichkeit des Web, umso mehr Schwierigkeiten, die Deutungshoheit zu behaupten. An den nun kompakt edierten Texten Überohrs lässt sich noch einmal studieren, was zählt: Genauigkeit in der Exegese, Begeisterung für die Sache.

Besprochen von Daniel Haas

Helmut Salzinger: Best of Jonas Überohr. Popkritik 1966-1982
Hg. v. Frank Schäfer
Philo Fine Arts, Hamburg 2010
367 Seiten, 16 Euro