Hyperandrogene Athletin Annet Negesa

Der Kampf um Gerechtigkeit

06:04 Minuten
Annet Negesa beim 800-Meter-Halbfinale der 13. IAAF Junioren-Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Moncton, Kanada (2010).
2011 war Annet Negesa afrikanische Meisterin über 800 Meter, bei den Olympischen Spielen in London 2012 rechnete sie sich Chancen auf eine Medaille aus. © Getty Images / Chris Trotman
Von Jutta Heeß · 19.01.2020
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Annet Negesa ist eine hyperandrogene Athletin, deren Körper mehr männliche Hormone produziert als im Normalfall. Ärzte des Leichtathletik-Weltverbandes rieten ihr zu einer Behandlung, die ihre Karriere und Gesundheit zerstört habe, sagt Negesa heute.
Annet Negesa läuft wieder. Die ehemalige ugandische Spitzenathletin trainiert am liebsten im Treptower Park in Berlin. "Ich trainiere fast jeden Tag, morgens oder abends", erzählt sie.
Laufen ist ihre Leidenschaft. Und war ihr Lebensinhalt. 2011 war Annet Negesa afrikanische Meisterin über 800 Meter, bei den Olympischen Spielen in London 2012 rechnete sie sich Chancen auf eine Medaille aus. Doch sie wurde jäh gestoppt. Die damals 20-Jährige durfte aufgrund ihrer hohen Testosteronwerte nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen. "Laufen bedeutet mir so viel, es war meine Karriere, mein Beruf. Ich war danach so traurig und niedergeschlagen."

Keine Information über die OP

Ärzte des Leichtathletik-Weltverbandes "World Athletics", damals IAAF, untersuchten Annet Negesa 2012 und stellten fest, dass sie innenliegende Hoden hat, die ihre hohen Testosteronwerte verursachen. Kurz darauf unterzog sie sich einer "Behandlung" in Uganda, die – so verstand sie es – ihr wieder die Teilnahme an Wettkämpfen erlauben würde. Die Behandlung stellte sich als chirurgische Entfernung der innenliegenden Hoden heraus. Annet Negesa sagt, dass sie von einer Operation nichts gewusst habe, sie sei von einer medikamentösen Therapie ausgegangen. "Sie sahen in mir ein Objekt für ihre Forschung, ich wusste das nicht. Ich war ihr Versuchskaninchen, mein Leben war ihnen doch egal", so Negesa.
Der Weltverband weist jegliche Verantwortung von sich und teilt mit, dass man Athletinnen nicht zu chirurgischen Eingriffen gezwungen habe. Die Frauenrechtlerin und Sportsoziologin Payoshni Mitra, die Annet Negesa betreut und unterstützt, bekräftigt hingegen, dass die Mediziner des Weltverbandes Negesa unzureichend informiert hätten:
"Annet wusste, dass es im Krankenhaus eine Behandlung geben sollte, aber sie hat nicht realisiert, dass es eine Operation sein sollte. Als sie nach dem Eingriff aufwachte, entdeckte sie große Schnitte an ihrem Bauch. Ihr war nicht klar, was passiert ist."
Nach dem Eingriff wurde Annet Negesa nicht weiter betreut, weder von Medizinern noch von Verantwortlichen des Verbandes. Sie wurde einfach fallen gelassen. Payoshni Mitra:
"Annet wurde nicht informiert, dass sie nach dem Eingriff eigentlich eine lebenslange Hormontherapie braucht. Ihr Körper und ihre Knochen litten sehr darunter. Sie hat diese Hormontherapie nicht bekommen, weil es dem Weltverband egal ist, ob sie gesund ist. Den Verantwortlichen war es wichtig, dass sie nicht mehr an Wettkämpfen teilnimmt. Die Prioritäten des Weltverbandes müssen daher hinterfragt werden."

Nie wieder ein Wettkampf

Annet Negesa hat nach der Operation keinen Wettkampf mehr bestreiten können. Über Sportlerinnen mit erhöhten Testosteronwerten wird vor allem seit den Erfolgen der südafrikanischen Läuferin Caster Semeny diskutiert. 2011 wurde die sogenannte Testosteronregel eingeführt, die hyperandrogenen Läuferinnen vorschreibt, ihren Testosteronwert medikamentös zu senken. Testosteron gilt als leistungssteigernd. Die indische Sprinterin Dutee Chand klagte gegen diese Regelung, der Weltverband musste sie zurücknehmen und hat sie im Mai 2019 in leicht veränderter Form wieder eingeführt. Eine Klage von Caster Semenya vor dem Internationalen Sportgerichtshof wurde schließlich abgewiesen.
Portrait der ehemaligen ugandischen Spitzenathletin Annet Negesa.
Heute setzt sich die ehemalige ugandische Spitzenathletin Annet Negesa für Gendergerechtigkeit im Sport ein.© Deutschlandradio / Jutta Heess
Das Bestreben des Weltverbandes, für Chancengleichheit zu sorgen, mündet in Diskriminierung – und im Fall von Annet Negesa in einer entwürdigenden Körperverletzung sowie der Vernichtung sämtlicher Träume und Perspektiven. Sieben Jahre nach ihrem gewaltsamen Karriereende hatte Annet Negesa im vergangenen Jahr in einer ARD-Dokumentation über ihr Schicksal berichtet. Daraufhin wurde ihr Fall auch in ihrer Heimat Uganda bekannt, in der inter- und homosexuelle Menschen verfolgt werden.

Ein Neustart in Deutschland

Annet Negesa hat Asyl in Deutschland beantragt und erhalten. Hier plant sie einen Neustart, sie will Deutsch lernen und sucht einen Coach. Ihre Offenheit hat sie nicht bereut: "Ich bin glücklich, dass ich darüber gesprochen habe. Ich möchte nicht, dass junge, aufstrebende Athletinnen dasselbe erleben, dass ihre Leben und ihre Körper zerstört werden."
Gemeinsam mit Caster Semenya und Dutee Chand hat Annet Negesa auf den menschenunwürdigen Umgang mit hyperandrogenen Frauen im Sportsystem hingewiesen. Ob sie wirklich Leistungsvorteile haben, ist ohnehin umstritten. Aber sicher ist, dass man Athletinnen nicht mit Gewalt in eine Norm pressen darf. Für dieses Bewusstsein haben Semenya, Chand und Negesa gesorgt.
"Diese Sensibilisierung wird jungen hyperandrogenen Athletinnen helfen, weil sie wissen, es gibt andere Möglichkeiten: Bisher hieß es, sie müssen Medikamente nehmen oder mit dem Sport aufhören. Die Tatsache, dass Dutee Chand und Caster Semenya vor das Sportgericht gezogen sind, zeigt jungen Athletinnen, dass sie legale Schritte unternehmen können. Sie haben das Recht dazu. Sie müssen keine Scham empfinden. Sie haben das Recht, in Wettkämpfen anzutreten so wie sie geboren wurden. Diese Botschaft ist sehr klar für junge Athletinnen", sagt Payoshni Mitra.
Annet Negesa ist eine Kämpferin. Wenn sie schon nicht mehr um olympische Medaillen laufen kann, will sie sich wenigstens für Aufklärung und gegen Diskriminierung einsetzen. Mit der Unterstützung von Payoshni Mitra will sie vor allem eins erreichen: mehr Gendergerechtigkeit im Sport.
Wie soll der Sport auf das dritte Geschlecht reagieren? Darüber hat Thorsten Jabs mit dem Sportphilosophen Tobias Arenz von der Deutschen Sporthochschule Köln gesprochen:
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