Hubert Fichtes "Ethnopoesie"

Empfindlich bleiben für das Andere

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Das Foto zeigt einen schwarzen Schauspieler bei einer Performance im Berliner Haus der Kulturen der Welt
Ayrson Heráclito, Künstler und Candomblé-Priester, setzt sich in einer Performance mit dem Werk von Hubert Fichte auseinander. © Haus der Kulturen der Welt / Silke Briel
Von Gerd Brendel · 21.10.2019
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Der homosexuelle Popliterat Hubert Fichte war von der Ferne und dem Fremden fasziniert. Internationale Künstler haben sich jetzt mit dem ethnographischen Blick in seinem Werk auseinandergesetzt.
Zwei Dutzend Journalisten stehen in der Ausstellungshalle im Berliner Haus der Kulturen der Welt, fummeln an ihren Empfangsgeräten herum und demonstrieren ungewollt die Schwierigkeiten beim großen Hubert Fichte-Übersetzungsprojekt. Das ist jetzt in Berlin angekommen, in Fichtes Heimatland – wobei – von wegen Heimatland, wie Dietrich Diederichsen, Poptheoretiker, Kulturwissenschaftler und einer der beiden Ausstellungskuratoren, sagt:
"Es gibt eine Stelle, wo jemand zu ihm sagt: ‚Sie als deutscher Schriftsteller‘ - und er antwortet: ‚Ich bin kein deutscher Schriftsteller, ich bin jüdisch und schwul.‘"
Eine Selbststilisierung, denn als schwuler deutscher Schriftsteller begann Hubert Fichte seine Karriere. 1968 stellte Hubert Fichte seinen dritten Roman "Die Palette" im legendären Hamburger Star-Club vor. "Die Palette" spielt in der gleichnamigen Bar, einem Außenseiter-Treffpunkt mit Prostituierten, Strichern und Schwulen.
Anfang der 70er Jahre gehen Fichte und seine Lebensgefährtin Leonore Mau auf Reisen. "Er hat eher gedacht, er ist auf der Flucht und findet einen Ort, wo etwas passiert, was eigentlich immer schon war", sagt Diederichsen.

Texte über die Größe von Geschlechtsteilen

Diesen Ort findet Fichte in Tansania auf Haiti - und vor allem in Salvador da Bahia. "Ethnopoesie" nennt er seine "teilnehmenden Beobachtungen" in den Kultstätten synkretistischer Kulte wie Candomblé und Vodoo.
"Er hat sich eher nach der Tradition alter romantischer Reisender identifiziert mit dem Ort , wo er hingegangen ist, und hat sich nicht klar gemacht, dass er das als Weißer tut", sagt Diederichsen.
Als weißer, schwuler Mann, der etwa in "Xango" und "Petersilie" nicht nur Riten beschreibt, sondern auch den Sex mit seinen brasilianischen Liebhabern.
"In seinen Büchern erzählt Fichte seitenlang über die Größe der Geschlechtsteile der Jungs in Rio. Das ist auch eine Art von Klischee", sagt Thiago Rosa vom Kollektiv "Bonabando".
In der Ausstellung sind die lebensgroßen Kostüme der brasilianischen Performance-Gruppe zu sehen: Bunte Ganzkörper-Penisse. In denen tanzen Thiago und die anderen Mitglieder in einem Video durch Rio - eine zum Brüllen komische Antwort an alle Sex-Touristen.

Fichtes Fragen sind immer noch aktuell

Dass Fichte bei aller Faszination den Blick für die realen Lebensumstände seiner Liebhaber nicht verlor, zeigen die Arbeiten des chilenischen Künstlers Cristóbal Lehyt. Lehyt erinnert an Fichtes Reportagen über Salvador Allende, den er kurz vor Pinochets Putsch interviewte.

"Ich habe mich in Fichte hineinversetzt und mir vorgestellt, er wäre in Chile geblieben", sagt Lehyt. Seine Zeichnungen wirken wie halb-abstrakte Traumskizzen. In Berlin hat der Tänzer die Figuren nachstellen lassen. Der Anspruch, dem Anderen wirklich gerecht zu werden, erweist sich als unmöglich: "Man kann sich nie in Beziehung zu dem setzen, was man betrachtet", sagt Lehyt.
Das war Hubert Fichte bewusst. Und genau das macht ihn interessant für Künstlerinnen und Künstler – etwa in Brasilien in all seiner Widersprüchlichkeit, meint Julian Fuchs vom Goethe-Institut Sao Paolo. Die Goethe-Institute in Brasilien haben das Projekt maßgeblich mit Ausstellungen und Workshops unterstützt:
"Die Idee des Projekts ist ja nicht, zu sagen: Hier, reagiert mal auf den, der muss jetzt irgendwie relevant sein für Euch, sondern: Der behandelt Fragestellungen, die immer noch da sind - Dekolonialisierung, Queer Theories, die Bedeutung von afro-brasilianischen Religionen."

Europas "Geschichte der Unempfindlichkeit"

Wie sagte Hubert Fichte? "Es bleibt unfasslich, dass ein so unneugieriges Europa entstand, für das Wissen selten etwas anderes war als Macht. Die Kolonialgeschichte Europas bleibt die Geschichte der Unempfindlichkeit."
Gegen diese "Unempfindlichkeit" entwarf Fichte seine "Geschichte der Empfindlichkeit". Der gleichnamige Romanzyklus blieb unvollendet. Der Anspruch, sich vom fremden Anderen berühren zu lassen, in jeder Hinsicht, hat bis heute Gültigkeit.

Liebe und Ethnologie
Die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit (nach Hubert Fichte)
Kuratiert von Diedrich Diederichsen und Anselm Franke
Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin
18. Oktober 2019 – 6. Januar 2020
Eintritt: 7 Euro / 5 Euro

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