Horror von der Stange

24.10.2006
"Love", der mittlerweile 50. Roman des Horror-Altmeisters Stephen King, wird vom Verlag als sein "persönlichster" Roman angekündigt. Er ist zugleich einer seiner durchschaubarsten: Lisey, die Witwe des bekannten Schriftstellers Scott Landon, räumt das Büro ihres verstorbenen Mannes auf und stößt auf gar schreckliche Geheimnisse.
Das erste, was man nach der Lektüre dieses Buches macht: Man geht zum Fenster, lässt frische Luft herein und bittet die neu gelernten Stephen-King-Wörter, den eigenen Kopf nun wieder zu verlassen. Es war zwar eine spannende (und manchmal nur zäh fließende) gemeinsame Zeit. Trotzdem. Jetzt braucht man Platz für Neues. Also bitte! Worauf "Blut-Bool", "Lecker-Baum", "Bösmülligkeit", das "Purpurne" und "das Ding mit der gescheckten Seite" ein letztes Mal bedrohlich mit den Flügeln ihrer Bedeutung schlagen, bevor sie gehorsam und ohne zu murren in den herbstlichen Abendhimmel flattern.

"Der Raum seufzte. Dann war es still."

Man kann das Fenster nun wieder schließen und hat - kurz gefasst - schon die Geschichte von "Love", dem neuen, ungefähr fünfzigsten Roman von Stephen King nacherzählt: Lisey , die Witwe des bekannten Schriftstellers Scott Landon, räumt das Büro ihres verstorbenen Mannes auf und lüftet. Viel mehr passiert eigentlich nicht. Allerdings wird dieser profane Vorgang dadurch erschwert, dass Scott nicht nur Horrorautor war, sondern durch Erlebnisse in seiner Kindheit auch tief traumatisiert. Und da Lisey - Zeit ihrer Ehe fast symbiotisch mit Scott verbunden - noch immer tief in Scotts Schicksal verstrickt ist, stellen sich die paar Schritte zum Fenster als titanenhafte Aufgabe heraus.

Unter jedem Gegenstand lauern bedrohliche Erinnerungen, Untote geistern herum, die erst besänftigt werden können, nachdem Lisey sich den Dämonen gestellt und vom inneren "Wörter-Pool" getrunken hat. "Schnall's um, wenn's angebracht ist", wie Scott, der Scherzkeks, immer sagte, sobald es ums Ganze ging.

Eine Familienaufstellung bräuchte für den Fall vielleicht eine halbe Stunde, Stephen King gönnt sich für die Geschichte 730 wahrscheinlich sehr einträgliche Seiten. Mit über 400 Millionen verkauften Büchern ist er noch immer einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart, und die Auslieferung seines neuen Werkes erfolgt marketingtechnisch sehr effektiv weltweit am gleichen Tag, also heute.

"Love" soll sich, nach Verlagsangaben, um Kings "persönlichstes" Buch handeln, aber das muss man als Köder und Abgrenzung vielleicht behaupten, wenn der letzte Roman "Puls" - ein schlichter Zombie-Roman - vor gerade mal einem halben Jahr erschienen ist. Die Koketterie mit dem Autobiographischen (der verstorbene Schriftsteller lebte in Maine, hatte Alkoholprobleme und ist mit einer Frau verheiratet, die, wie Kings Frau Tabitha, vier Schwestern hat) ist zumindest alles andere als neu und gehört wohl zur Gruselfaszination dieses Autors.

Ursprünglich war Kings Idee, einen Roman über einen Verrückten zu schreiben, der Jagd nach hinterlassenen Manuskripten eines berühmten Autors macht, wie er der "Times" kürzlich erzählte. Doch beim Schreiben habe sich die Backstory, die Lebens- und Ehegeschichte des Schriftstellers, immer weiter in den Vordergrund geschoben. Zum Glück, muss man sagen. Der besagte Verrückte - Zack McCool genannt - taucht zwar auf, um im natürlich einsam gelegenen Haus die Schriftsteller-Witwe erst zu bedrohen und dann zu verletzen. Aber der versuchte Manuskriptklau dieser comichaften Gestalt bleibt, wie überhaupt der gesamte äußerliche Spannungsapparat, reichlich unmotiviert und lachhaft und hat offensichtlich nur die Funktion, das Buch verfilmbar zu machen.

Interessanter ist das innere Drama Liseys und die Technik, mit der King daran arbeitet, die Grenzen zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt aufzulösen. "Love" ist kein phantastischer Roman, in dem per Genre-Definition alles passieren kann, sondern ein Psychothriller, in dem das Phantastische tröpfchenweise in die Normalität sickert, die logischerweise nie normal war. Das wusste Lisey natürlich. Sie hatte es bloß verdrängt, um ein halbwegs geregeltes Leben mit Scott führen zu können.

King arbeitet langsam. Mit bulldozerhafter Unerbittlichkeit schieben seine konventionellen Sätze einen Verweis an den nächsten, schichten Anspielung auf Anspielung, beschwören die Angst vor dem Verdrängten ("Psst, nicht sprechen") und die Bedeutsamkeit des hinter dem "purpurnen Vorhang" Verborgenen - bis man nach zweihundert Seiten nicht nur die Familie Liseys samt der semiverrückten Amanda und die infantil anmutende Privatsprache des Schriftstellerpaares kennt, sondern auch die Umrisse von Scotts Kindheitsdrama ahnen kann. Es hat etwas mit dem Vater und dem Bruder zu tun, der als Kind die geliebten Schnitzeljagden veranstaltet hat, "Bools" genannt.

Als Schnitzeljagd ("Blut-Bool") ist auch der Roman aufgebaut. An Dingen ("Spaten") und Orten ("unter dem Lecker-Baum") entlang hangelt sich Lisey in wild vor und zurück springenden Monologen durch den Nebel des Vergessenen. Die mittleren, schwebenden Passagen sind die am meisten gelungenen - im Vorraum der Hölle knistert alles vor möglicher Bedeutung, aber nichts genaues weiß man nicht.

Rührend die Szenen, in denen sich die beiden Jungen im Windschatten der väterlichen Gewalt eine märchenhafte Fantasiewelt einrichten. Oder wie Scott und Lisey als Zwanzigjährige mit großer Wucht aufeinander treffen. Doch dann, so will es der Plot, nähert sich die Auflösung, brav im vorhersehbaren Dreischritt, und mit der Eindeutigkeit kommt nicht nur das Böswillige in Gestalt einer Echse, es kommt auch die Langeweile und die Enttäuschung ins Buch. Und die Coelhohafte Heldenreise endet als Porno der Gewalt.

Rezensiert von Andreas Schäfer


Stephen King: "Love"
Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner.
736 Seiten, 22,95 Euro