Homophobie in Russland

"Kein Sodom und Gomorrha!"

Ein Plakat mit der Aufschrift "End homophobic laws" zeigt einen wie eine Dragqueen geschminkten Wladimir Putin, im Hintergrund die Regenbogenflagge als Symbol der homosexuellen Bewegung.
Ein Plakat gegen die homophoben Gesetze in Russland © AFP / Philippe Lopez
Von Thomas Franke · 07.01.2015
Während der Olympischen Spiele in Sotschi musste Konstantin Yablotzki jeden Tag mehrere Interviews geben. Der Amateureisläufer ist Vorsitzender des russischen Sportverbands der Schwulen und Lesben. Ein Jahr später interessiert sich kaum ein Sender noch für ihn. Dabei nimmt die Homophobie in Russland bedrohliche Züge an.
Erst seit 1999 gilt Homosexualität in Russland nicht mehr als Geisteskrankheit. Nach einer anfänglichen Normalisierung werden Schwule und Lesben seit zwei Jahren wieder stärker diskriminiert. Das liegt vor allem an dem Gesetz zur sogenannten "Schwulenpropaganda". Demnach ist es verboten, vor Minderjährigen über Homosexualität zu reden. In der Praxis hat das Gesetz einige Menschen motiviert, sich zu Gesetzeshütern aufzuschwingen, um im Alltag gegen Homosexuelle Stimmung zu machen.
Mann 1: "LGBT und Sodomie, raus aus Russland! Sodom und Gomorrha, kennen Sie die? Das waren antike Städte. In Sodom gab es genau solche Beziehungen, wie LGBT. Die Städte wurden zerstört. Und wir wollen nicht, dass unser Land zerstört wird, weil hier so etwas passiert."
Mann 2: "Natürlich soll man niemanden mehr auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Auch keine Schwulen. Aber andererseits darf man auch keine aggressive Propaganda zulassen. Man muss eine Balance suchen."
Frau 1: "Das ist eine ausländische Okkupation. Das wird mit Geldern aus dem Westen, mit Geldern aus dem USA gemacht. Das verdirbt unsere Kinder, das zielt auf die vollständige Vernichtung unserer Nation. Warum sollen wir uns damit abfinden? Das ist unser Land. Ich bin Russin."
Mann 1: "Ich bin auch Russe. Und ich finde nicht, dass das unsere Nation vernichtet."
Mann 2: "Freunde, wir setzen die Vorführung gleich fort. Setzen Sie sich doch schon mal hin."
Ein Saal in einem Restaurant im Zentrum von Moskau. Etwa 150 Leute sitzen auf Stühlen und schauen einen Dokumentarfilm. Er heißt "Deti 404", Kinder 404. 404 wegen der Fehlermeldung im Internet. Es geht um junge Homosexuelle in Russland.
Die Botschaft: Wir sind kein Fehler. My est, es gibt uns - bei Facebook und der russischen Version Vkontakte. Ursprünglich war Kinder 404 eine Internetseite, auf der homosexuelle Jugendliche aus ganz Russland sich melden - teils anonym, teils zeigen sie Gesicht.
Dokumentarfilm "Deti 404" über junge Homosexuelle
Der Dokumentarfilm "Deti 404" ist 2013/2014 entstanden, ohne jede Art von öffentlicher Förderung. Die jungen Homosexuellen erzählen von ihrem Leben und den Problemen, die sie in Russland haben. Die Vorführung ist eine Kooperation der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung und einem russischen Internetportal.
Ein Junge mit blonden langen Haaren erscheint auf der Leinwand. Er sitzt im Speisesaal in der Schule beim Mittagessen. Mitschüler kommen dazu, hänseln ihn.
Mann 3: "Geht bitte weg, lasst mich in Ruhe essen. Im Prinzip bin ich selbst Propaganda. Ich könnte jeden Tag eine Strafe bekommen dafür, dass ich in die Schule komme. Ich bin schwul, ich gehe zur Schule.
Sie haben meine Seite bei Vkontakte gehackt. Die ganze Klasse hat davon erfahren. Sie haben natürlich schlimm über mich geredet, mich beschimpft, im Unterricht haben sie männliche Genitalien auf Papier gemalt und mir zugesteckt, dauernd."
Die Tür zu dem Saal, in dem der Film läuft, ist geschlossen. Die Zuschauer mussten sich anmelden. Eine Vorsichtsmaßnahme. In Russland verbietet ein Gesetz, in Anwesenheit Minderjähriger positiv oder auch nur neutral über Homosexuelle zu sprechen. Es gilt als "Schwulenpropaganda".
Plötzlich steht ein Mann um die 30 auf. Lederjacke, grauer Pullover.
Mann 1: "Was zeigen Sie hier? Sie zeigen Gaypropaganda!"
Mann 1: "Sehr geehrte Bürger, hier geschieht ein Verstoß gegen das Gesetz der Russischen Föderation. Es wird Gaypropaganda gezeigt, die in Russland verboten ist. Und Sie sind ein Teil davon."
Die Organisatoren, das Internetportal Colta.ru, haben mit Störungen gerechnet.
Frau 1: "Wer sind Sie?"
Mann 1: "Wir sind die Nationale Befreiungsbewegung. Wir sind die Aktivsten der erzürnten Öffentlichkeit. Wir haben Informationen, dass hier Gaypropaganda unter Minderjährigen verbreitet wird, was auf dem Gebiet der Russischen Föderation verboten ist."
Die Bewegung steht der Kremlpartei Einiges Russland nah. Das Licht geht an. Der Film wird unterbrochen.
Eineinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes über sogenannte Schwulenpropaganda gibt es in Russland kaum noch öffentliche Aufklärung über Homosexualität. Und die Unwissenheit wird von ganz oben verbreitet.
Mann 2: "Jeder Mensch entscheidet selbst, was er wird. Heterosexuell, homosexuell, asexuell."
... sagt Pavel Astachow, Jahrgang 1966, Kinderschutzbeauftragter von Präsident Putin. Familienvater.
Mann 2: "Sollte so etwas passieren, gibt es heute die Möglichkeit, zu einem Spezialisten zu gehen. Zu einem Psychologen, nicht zum Arzt. Es gab eine Zeit, in der Homosexualität als anormal galt, und die Leute zum Psychiater geschickt wurden. Heute kann sich jeder an einen Psychologen wenden."
Erinnerung an sowjetische Zeiten
Solche Sätze kennt Vladimir. Er ist über 70 Jahre alt, schwul und fühlt sich an sowjetische Zeiten erinnert.
Mann 1: "Das macht mir Angst. Kehren wir etwa zurück in die Zeiten, als das alles verboten war? Heute kann man jedem nachsagen, er sei schwul – es reicht schon, wenn er nur seine Lippen schminkt oder die Fingernägel lackiert. Das reicht, um verprügelt zu werden. Diese Homophobie ist schlimm.
Ich bin verheiratet. Ich versuche, nicht aufzufallen. Wenn du bescheiden bist und nicht besonders auffällst, kannst du machen, was du willst."
In der Sowjetunion wurden zigtausende Homosexuelle, meist Männer, verurteilt und deportiert.
Mann 1: "Damals trafen sich die Schwulen in einem Krankenhaus. Ich weiß noch, es kam sogar eine Ärztin aus der Psychiatrie, die hatten dort vorher immer gesagt, Schwule seien krank, die hätten etwas mit dem Gehirn, die muss man heilen - und die sagte auf einmal: Macht euch keine Sorgen, ihr seid normal."
Erst seit 1999 gilt Homosexualität in Russland nicht mehr als Geisteskrankheit.
In dem Restaurant vor dem Saal mit der Filmvorführung sitzen gut gekleidete Menschen beim Abendessen. Männer in Sakkos, Frauen mit hochhackigen Schuhen. Weiße Tischdecken, gedämpftes Licht, Weinkühler und gestärkte Servietten. Dazwischen stehen etwa zehn Leute, darunter mehrere alte Frauen.
Sie halten Ikonen in den Händen, tragen Schürzen mit Putins Konterfei und der Aufschrift "Erlöser". Ein Kamerateam dreht. Es kommt von dem kremlnahen Fernsehkanal NTW und begleitet die Provokateure. NTW hat schon viele Hetzfilme über angebliche Feinde Russlands gedreht. Die Geschäftsführerin des Restaurants eilt herbei.
Frau 1: "Stören Sie nicht den Restaurantbetrieb."
Mann 2: "Mann: Rufen Sie doch Ihre Wachleute, dass die uns rauswerfen."
Frau 1: "Hier steht man nicht einfach so rum, entweder Sie bestellen etwas, oder Sie gehen. Sie stören den Restaurantbetrieb."
Der Wachmann kommt.
Mann 2: "Im Saal sind Minderjährige. Und wir werden nicht reingelassen, um das zu untersuchen."
"Von welchem Medium sind Sie?"
Er wendet sich zu mir.
Mann 2: "Von welchem Medium sind Sie?"
Vom deutschen Radio.
Mann 2: "Ich kann ihnen das auch noch mal sagen: Dort läuft Propaganda. Dort werden Kinder, die schwul sind, als sehr bewegende, traurige und arme Kinder dargestellt, die niemand versteht.
Wir wissen aber, dass sie der Psychologie nach noch gar keine Schwulen sein können, keine Lesben, weil sie noch zu jung sind. Aber ihnen wird bereits dieses Etikett verpasst. Und die Leute, die traditionellen Werten anhängen, die keine Gaypropaganda machen, die werden als Barbaren dargestellt."
Frau 1: "Gehen Sie weg, Sie stören den Restaurantbetrieb. Gehen Sie weg."
Das russische Gesetz verbietet lediglich sogenannte Schwulenpropaganda – was auch immer das ist – unter Minderjährigen. In der Praxis aber werden alle möglichen Veranstaltungen der LGBT-Bewegung in Russland gestört, selbst geschlossene Veranstaltungen. Die Liste ist lang.
Moskau im vergangenen März. Zwischen den Olympischen Spielen und den Paralympics finden in der russischen Hauptstadt die "Open Games" statt, ein schwul-lesbisches Amateurturnier. 330 Teilnehmer aus sechs Nationen sind angemeldet. Sie spielen auch Basketball. In einer Halle von deren Wänden der Putz bröckelt und die Netze der Basketballkörbe dringend geflickt werden müssten.
Eine Rauchbombe explodiert auf dem Spielfeld. Das Turnier ist vorzeitig zu Ende. Die Spieler kommen mit einem Schrecken davon. Konstantin Yablotskiy hat die "Open Games" damals mit organisiert.
Ein knappes Jahr später sitzt er in einem Selbstbedienungsrestaurant eines Moskauer Einkaufszentrums. Konstantin Yablotzki ist Lehrer, Amateureisläufer und Vorsitzender des russischen LGBT-Sportverbands. Er trinkt Tee. Die Situation sei ein Jahr nach den Olympischen Spielen schlechter geworden, sagt Yablotzkiy.
Mann 1: "Aber nicht in dem Maß, wie man es hätte erwarten können. Nach wie vor werden LGBT-Veranstaltungen, egal, ob sie kulturell, sportlich oder menschenrechtlich sind, von den Mächtigen gesprengt. Schlechter ist sie insofern geworden, als dass sehr viele LGBT-Aktivisten Russland verlassen."
Yablotzkiy hat vor und während der Olympischen Spiele viele Interviews gegeben. Mittlerweile hat er Probleme an seiner Schule.
Mann 1: "Im April hat mein Direktor zwei Mal wegen meiner Entlassung mit mir gesprochen. Und hat dabei offen gesagt, dass das eine Bitte von oben ist. Ich habe abgelehnt.
"Es gibt neue Tabus, die jetzt gerade entwickelt wurden"
Ich bin meinem Direktor dankbar, dass er bei den Konferenzen für mich eintritt. Andere homosexuelle Lehrer wurden leider entlassen oder ihr Vertrag wurde nicht verlängert. Einige sind jetzt ohne Arbeit oder ins Ausland gegangen."
Mit dem Fahrstuhl fährt Yablotzkiy hinauf in die oberste Etage des Einkaufszentrums. Dort ist eine Eisbahn. Junge Mädchen trainieren, wagen Sprünge, drehen sich. Ihre Trainerin steht in der Mitte.
Yablotskiy schaut ihnen eine Weile zu. Er selbst hat eine feste Eistanzpartnerin. Sie trainieren in einer abgelegenen Halle am Stadtrand, meist spät abends. Er würde gern mal mit einem Mann laufen.
Mann 1: "Ich würde es aber nicht riskieren, mit einem Mann in Tanzposition auf eine öffentliche Eisbahn zu gehen und zu tanzen. Ich habe Angst davor."
Zurück zur unterbrochenen Vorführung des Dokumentarfilms "Deti 404" über homosexuelle Jugendliche. Die Störer sind noch immer im Saal und die Moskauer Polizei ist dazu gekommen.
An jedem Ausgang steht ein bulliger Uniformierter mit Maschinenpistole. Sie kontrollieren Ausweise, prüfen, ob jemand unter 18 Jahren ist. Sie kontrollieren jeden, auch Ältere. Sogar eine 45-Jährige. Sie fühlt sich geschmeichelt.
Das Verbot der sogenannten Schwulenpropaganda habe einige Menschen motiviert, sich zu Gesetzeshütern aufzuspielen, meint Michail Ratgauz, Chefredakteur des Internetportals Colta.ru und Veranstalter des Filmabends:
"Es gibt neue Tabus, die jetzt gerade entwickelt wurden, zum Beispiel Homosexualität, die stark tabuisiert wird. Das war noch vor zwei Jahren gar nicht so, das ist absolut neu."
Mann 2: "Freunde, wir setzen gleich die Vorführung fort. Setzen Sie sich."
Und obwohl die Polizei schon da ist, machen die Störer weiter.
Frau 1: "Die Bedrohung besteht darin, dass die Jugend verdorben wird und über die Jugend wird die Nation verdorben. Menschen, die in gleichgeschlechtlichen Beziehungen leben, haben keine Zukunft. Ihr Geschlecht setzt sich nicht fort. Die Nation degradiert. Dieser Film ist mit Geldern aus dem Westen produziert, damit Leute wie Sie denken, dass Homosexualität normal ist. Wir wissen, worauf all diese ausländischen Gelder zielen."
Mann 1: "Schauen Sie doch mal, wie viele Ausländer hier sind. Da ist einer, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Da sitzen die übrigen."
Mann 2: "Lasst uns mit dem Film anfangen."
Der Film läuft dann doch noch weitgehend störungsfrei zu Ende. Irgendwann ziehen auch die Belagerer im Restaurant ab. Veranstalter Michail Ratgauz lächelt.
"Das war ihre Arbeit. Sie hatten absolut kalte Augen. Es war eigentlich ihnen absolut langweilig, was sie taten. Und ich sah da auch keine richtige Aggression, sondern nur eine Aggression, die jetzt quasi berufsmässig ausgeübt wurde.
Ich glaube, es gibt sehr viele Strukturen, die bei der Administration des Präsidenten arbeiten, die eigentlich auch sehr viele Gruppen auch finanzieren die quasi jetzt von unten handeln, die jetzt nicht als staatliche Organisationen, als staatliche Vertreter auftreten, sondern eben den Volkszorn initiieren."
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