Homophobie

Die Männer von Sodom

Ein Aufkleber gegen Homophobie klebt in Frankfurt am Main am 03.04.2012 an einem Laternenpfahl. Foto: Wolfram Steinberg dpa.
Aufkleber gegen Homophobie © dpa/Wolfram Steinberg
Von Janosch Delcker · 31.07.2014
"Bist du schwul, oder was?", Sprüche wie diesen hört man auf jedem deutschen Schulhof. Sie gehören zu verbreiteten homophoben Vorstellungen, die teils Eingang in Recht und Gesetz finden und manchmal sogar zu Toten führen.
Gerichtssaal 82 des Manhattan Supreme Court, Raum 1313. Der Saal ist so groß wie eine Turnhalle, seine Wände sind mit dunklem Holz vertäfelt. Zentral thront am Ende des Raums ein Richter zwischen amerikanischer Flagge und der Flagge des Bundesstaats New York. Daneben: Eine Stenographin, der Staatsanwalt, Gerichtsbeamte. Davor: Sechs Reihen Holzbänke.
Links von der Richterbank öffnet sich eine Tür. Elliot Morales wird in den Saal geführt, der Angeklagte. Seine Hände sind auf dem Rücken gefesselt, er trägt ein graues Sweatshirt. Er sieht anders aus als auf den Fotos in der Zeitung, wirkt kleiner, vielleicht 1 Meter 65 groß. Hier sitzt er nun, mit rahmenloser Brille vor den dunklen Augen; wirkt teilnahmslos, düster. Aus der Untersuchungshaft in Rikers Island, der Gefängnisinsel im East River, haben sie ihn angekarrt.
"Morales in court has appeared thin...I’m not sure he’s said anything. He’s appeared somber, somber and thin."
Andrea Swalec, Lokalreporterin beim Nachrichtenportal DNAinfo:
"Zuletzt lebte Morales an der Lower East Side; zuvor hatte er zehn Jahre lang wegen Raubs im Gefängnis gesessen. Nachdem er verhaftet wurde, sagte er der Polizei, er sei mehr oder weniger obdachlos, er habe Probleme, sei Alkoholiker – im Grunde, dass er ein schweres Leben habe. Er sagte, er habe nichts gegen Schwule. Jetzt sitzt er in Haft, ihm drohen 25 Jahre bis lebenslänglich und er könnte verurteilt werden für ein Hate Crime – ein Verbrechen aus Hass – denn die Strafverfolger sagen, er habe deshalb getan, was er getan hat, weil sein Opfer Carson schwul war."
Elliot Morales auf der Anklagebank
"Strafsache vor dem Supreme Court des Bundesstaats New York. Anklageschrift: Die Einwohner des Staates New York, Anklage, gegen Elliot Morales, Angeklagter:
Die Grand Jury des Verwaltungsbezirks New York erhebt hiermit Anklage (...) wegen Mordes zweiten Grades als 'Hate Crime' – als Verbrechen aus Hass – Verstoß gegen das Strafrecht Paragraph 125.25 (1) und Paragraph 485.05 (a), begangen wie folgt:
Der Angeklagte hat am 17. Mai 2013 und/oder am darauffolgenden Tag den Tod einer anderen Person verursacht, mit der Absicht, die andere Person zu töten, und der Angeklagte hat die Person, gegen die sich der Angriff richtete (...), bewusst ausgesucht (...) wegen der wahrgenommenen (...) sexuellen Orientierung des Opfers, unabhängig davon, ob diese wahrgenommene Identität korrekt war oder nicht." (Übersetzung durch den Autor)
"From what we do know …",
Chai Jindasurat, Organisator beim Anti-Gewalt-Projekt der Stadt New York:
"Homophobie war einer der Beweggründe, warum Morales Mark Carson angegriffen hat, daran haben wir wenig Zweifel. Unter Homophobie versteht man die Unterdrückung von Schwulen und Lesben; sie kann verschiedene Formen annehmen. Strukturell unterscheiden wir die sogenannten 'vier I’s': ideologisch, institutionalisiert, interpersonell, und internalisiert. Auf einer gesellschaftlichen Ebene passiert Homophobie ideologisch, auf einer zweiten Ebene institutionalisiert. Auf ideologischer Ebene stützen kulturelle und gesellschaftliche Vorstellungen homophobe Überzeugungen; zum Beispiel, wenn die eigenen Eltern oder die Kirche sagen, dass es Sünde und falsch sei, schwul oder lesbisch zu sein.
Diese Ideologien beeinflussen die Institutionen: Deshalb gibt es Gesetze, die sagen: 'Wir erkennen eure Beziehungen nicht an – ihr genießt nicht den selben Schutz wie heterosexuelle Beziehungen.' Außerdem findet Homophobie im Interpersonellen statt, also im Umgang von Menschen miteinander. Da äußert sie sich in Schimpfwörtern, in 'Hate Violence' – Hassgewalt – , in körperlichen Angriffen aufgrund von homophoben Überzeugungen. Und schließlich gibt es noch die individuelle oder internalisierte Homophobie."
Homophobie auch in der Montessori-Schule?
"Ich habe jetzt persönlich diese Unterteilung so noch nicht gehört, aber ich kenne diese Unterteilung in die verschiedenen Ebenen, von denen das eine Möglichkeit ist."
Ulrich Klocke, Sozialpsychologe, forscht und lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin.
"Dass man sagt, es geht nicht nur um so eine Art vertikale Aufteilung in Gefühle, Gedanken und Verhalten, sondern es geht auch um eine horizontale Aufteilung sozusagen, von der Makro-Ebene, von der ideologischen Ebene, so was wie 'Was sagen bestimmte Weltreligionen zum Thema Homosexualität' bis hin auf die Mikro-Ebene: 'Was sage ich zu meiner eigenen Homosexualität', was dann eben die internalisierte Homophobie wäre, dass man eben diese Empfindungen bei sich selbst ablehnt. Und dazwischen gibt es die interpersonale Ebene und die institutionalisierte Ebene, in der dann Gesetzte eine Rolle spielen, aber auch inwiefern es im Bildungsbereich vielleicht vernachlässigt wird, also inwieweit wird das Thema sexuelle Vielfalt in der Schule behandelt?!"
"Wir sind auf dem Weg zur Kurt-Schwitters-Schule im Prenzlauer Berg und wir treffen uns heute mit einer achten Klasse."
Anna Lena Schnaars, Projektmitarbeiterin beim Berliner Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, kurz LSVD.
"Es ist schon ne gehobenere Gegend, nicht so eine große Mischung, nicht so furchtbar vielfältig, auch was die kulturellen Hintergründe betrifft. Größtenteils weiße, relativ privilegierte Schüler, aber man kann das jetzt auch nicht über alle sagen."
Anna Lena Schnaars, studierte Sexualwissenschaftlerin: Sie spricht in Berliner Schulen mit Schülerinnen und Schülern über Homosexualität. Oft sieht Homophobie anders aus, als man denkt, sagt sie. Homophobie sei im Alltag oft latent vorhanden – Homophobie abseits der Schlagzeilen. Anna Lena Schnaars besucht Schulen in ganz Berlin. Ob wir nach Neukölln fahren, oder einen anderen der sogenannten "Problembezirke", hatte ich gefragt. Können wir machen, meinte sie. Alle Reporter würden das wollen. Aber: Um zu verstehen, wo die gesellschaftliche Debatte über Homophobie im Endeffekt stattfinde, sollten wir weg von den Brennpunkten.
Also: Prenzlauer Berg. Deutsches Bildungsbürgertum. Die Kurt-Schwitters-Schule ist eine Europa Schule mit gymnasialer Oberstufe. Montessori-Orientierung. Eine Schulklingel gibt es nicht.
Vor der Schule trifft Anna Lena Schnaars eine Kollegin und einen Praktikanten, gemeinsam betreten sie ein Klassenzimmer. Anna Lena Schnaars bittet die Schülerinnen und Schüler, einen Stuhlkreis zu bilden.
"Wisst ihr denn, worum es heute gehen soll?"
Antwort aus Gruppe: "Um den Klapperstorch"
Die größtenteils 13- und 14-Jährigen wirken jung für ihr Alter, fast noch kindlich.
"Heute geht es um das Thema Homosexualität. Also eigentlich geht es mehr grundsätzlich um das Thema sexuelle Orientierung. In wen oder wie oder wo oder warum verlieben wir uns in wen? Oder stehen auf wen, wie, was? Und das ist so unser Grundthema. Aber wir fangen erstmal mit einem ganz leichten Einstieg an, bei dem es gar nicht so viel um Sex geht oder um Verlieben."
Die Jugendlichen stellen sich vor. Nach ersten Übungen schreibt Anna Lena Schnaars die Wörter Mann und Frau an die Tafel und umkreist sie.
"Das Thema ist das Thema Beziehung, zwischen Mann und Frau und ich möchte gerne wissen, was euch dazu einfällt. Was ist für Beziehungen wichtig? Was fällt euch dazu ein? 'Küssen'. Ja, Küssen. Ihr könnt einfach reinrufen. 'Sex', 'Liebe'."
Immer mehr Stichworte kommen zusammen. Am Ende ist die Tafel voll. Neben "Blow Job" und "lecken" stehen da Stichworte wie "Nähe", "Heiraten" oder "Ikea". Sozialarbeiterin Sanja Tilner übernimmt.
Wo fängt Diskriminierung an?
"So jetzt, machen wir Folgendes: Jetzt ändern wir mal unser Thema."
Sie nimmt den Schwamm, wischt die Mitte der Tafel aus und schreibt statt "Mann und Frau" "Mann und Mann" und "Frau und Frau" in den Kreis in der Mitte.
Sonja Tilner: "Unser Thema heißt jetzt: Beziehung zwischen Frau und Frau. Oder Beziehung zwischen Mann und Mann. Jetzt schaut euch mal diese Begriffe an. Jetzt würde ich gerne wissen: Gibt es Begriffe, wo ihr sagt, das passt jetzt nicht mehr so und so?"
Lena Schnaars: "Die Idee dahinter ist im Prinzip aufzuzeigen, dass es gar nicht so viele Unterschiede gibt."
Erzählt Anna Lena Schnaars in der Mittagspause.
"Also im Endeffekt, dorthin zu kommen, und das klappt auch eigentlich immer, dass am Ende nur noch so Sachen wie Ehe oder Familie dort dasteht. Oder Kinder. Dass man dann eben darüber spricht, welche strukturelle Diskriminierung es nach wie vor gibt."
"Dürfen Homosexuelle Menschen ein Kind adoptieren in Deutschland? Du sagst in jedem Fall 'Ja', aber da muss ich leider sagen 'nein'. Also, das mit der Adoption ist ein kompliziertes Thema..."

Nüchtern erklären die Sozialarbeiter den Schülern, inwieweit gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland nicht gleichberechtigt sind – institutionelle Homophobie. Die Empörung der Schülerinnen und Schüler über die Ungleichbehandlung wirkt echt.
Ein homosexuelles Paar, das in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebt, mit seinen zwei Kindern bei einem Familienausflug am 11.04.2013 in Berlin.
Ein homosexuelles Paar, das in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebt, mit seinen zwei Kindern.© picture alliance / ZB / Jens Kalaene
Wenn man diese Prenzlauer-Berg-Jugendlichen sieht, fällt es schwer zu verstehen, warum Anna-Lena Schnaars und ihr Team überhaupt hier sind.
Ich erinnere mich an die Gerichtsanhörung in New York. Der Prenzlauer Berg ist das andere Ende des Spektrums. Offen ausgetragene Homophobie? Gar Hate Crimes? Hier bei den Jugendlichen im Prenzlauer Berg wirkt das sehr weit weg.
Aber was ist das überhaupt: Diskriminierung? Wo fängt sie an? Wie äußert sie sich?
Was sind die Symptome von Homophobie und Diskriminierung?
Ulrich Klocke: "Fangen wir einfach mal ganz unten an, auf dieser internalisierten Homophobie-Ebene. Man kann sagen, bei Lesben und Schwulen selbst ist eine Folge von Homophobie, dass sie sich nicht outen. Dass sie nicht auf der Straße händchenhaltend mit ihrem Partner oder Partnerin laufen. Auch wenn das viele Heterosexuelle um sich herum machen.
Und dann auf der interpersonellen Ebene, in den Schulen, wo wir es uns jetzt angeschaut haben, 'schwul' oder 'Lesbe' als sehr häufiges Schimpfwort. Insbesondere 'schwul' von über 60 Prozent der Sechstklässler und Sechstklässlerinnen als Schimpfwort verwendet, aber auch 'Lesbe' noch von 40 Prozent. Also dass dadurch deutlich gemacht wird, es ist etwas Negatives, indem man den Begriff als Schimpfwort verwendet. Das ist sozusagen diese interpersonelle Ebene, und dann die institutionalisierte Ebene ist einfach eher so ein 'Nicht-Vorkommen'. Also dass das Thema, ohne dass Lehrkräfte oder pädagogische Fachkräfte das merken, es einfach nicht vorkommt, und sie das einfach nicht realisieren aber dass Heterosexualität permanent vorkommt.
Es wird dann gesagt, sexuelle Orientierung hat in der Schule nichts zu suchen. Und das ist natürlich Quatsch. Denn Heterosexualität wird permanent thematisiert. Es gibt permanent Beispiele in irgendwelchen Schulbüchern. Die Menschen merken nur nicht, dass es permanent thematisiert wird.
Und weil sich auf der gesetzlichen Ebene sehr viel tut, entsteht bei vielen der Eindruck, 'Wir haben doch schon einiges erreicht.' Dabei ist das nur eine von vielen Ebenen, die dann vielleicht abgehakt ist."
"Obwohl sich die Situation von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen in den letzten Jahren in einigen europäischen Ländern verbessert hat, halten Vorurteile, Diskriminierung und Hass-motivierte Gewalt an, sogar in Ländern, in denen gleichgeschlechtliche Beziehungen weitgehend akzeptiert sind und wo die Ehe für alle Paare geöffnet wurde, unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung. Immer noch verstecken viele Menschen in Europa ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtszugehörigkeit vor ihren Kollegen, Freunden, Mitschülern oder Familienmitgliedern wegen Diskriminierung, Vorurteilen oder Gewalt." (Übersetzung durch Autor)
So der Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International vom September 2013.
Homophobie im Kopf, Homophobie auf der Straße
Nachrichtensprecherin: "This is a historic political and cultural moment in this country in the issue of gay marriage."
Barack Obama: "For me, personally, it is important for me it is important to go ahead and affirm that I think same sex couples should be able to get married."
Barack Obama, Präsident der Vereinigten Staaten, am 9. Mai 2012. Als erster US-Präsident macht er sich öffentlich für die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare stark.
Ein Jahr später:
"18. Mai 2013, kurz vor Mitternacht. Ein Mann läuft gemeinsam mit einem Freund auf einer New Yorker Straße, im Greenwich Village, einem belebten Stadtteil. Ein anderer junger Mann beginnt ihnen zu folgen. Er beleidigt sie, nennt sie 'Schwuchtel', 'Tunten', 'schwule Wrestler', und er hört nicht auf ihnen zu folgen.",
Andrea Swalec, Lokalreporterin bei DNAinfo.
"Mark Carson, einer der beiden Männer, ist New Yorker; er ist 32 Jahre alt, gerade nach Brooklyn gezogen. Er arbeitet in einem Joghurt-Shop. Familie und Freunde sagten, dass Carson mit homophoben Beleidigungen recht unbefangen umging. Ein Freund formulierte es so: Er begegnete Diskriminierung mit Anstand.
Ihr Verfolger, Elliot Morales, war schon zuvor auffällig geworden: Er war in ein Restaurant gestürmt, ungefähr fünf Häuserblocks vom späteren Tatort entfernt, und hatte dort schwulenfeindliche Bemerkungen gemacht. Danach begann er den beiden zu folgen, die Sixth Avenue hinunter. An der Ecke 6.Avenue und 8. Straße – eine belebte Gegend, dort ist eine Hot-Dog-Bude, viele Restaurants, viele Läden – fragte er die beiden: 'Wollt ihr hier sterben?' Und dann fragte er Carson: 'Are you with him?' – 'Gehört ihr zusammen?'“
Andrea Swalec: "Carson sagte: Ja. Und dann schoss ihm Morales ins Gesicht."
Jetzt sitzt Elliot Morales im holzvertäfelten Gerichtssaal 82 des Manhattan Supreme Court. Seine Pflichtverteidiger treten vor den Richter. Sie bitten um zeitlichen Aufschub; der von ihnen eingesetzte psychologische Gutachter müsse die Aussagen der Augenzeugen kennen, um sein Urteil fällen zu können. Der Richter wiegelt ab. „Das ist alles Show für die Journalisten“, raunt die Gerichtsreporterin der Boulevardzeitung New York Post.
"You know, it’s hard to talk about violence as being typical. Because so many of the cases and the incidents we see are very vastly different or have very different circumstances.",
Chai Jindasurat vom New Yorker Anti-Gewalt Projekt.
"Wir glauben, dass es sich um hassmotivierte Gewalt handelte, denn es wurde schwulenfeindliche Sprache verwendet und dieser Faktor hat zu dem Verbrechen beigetragen – was man oft bei hassmotivierter Gewalt beobachtet. In der Regel gibt es bestimmte Hinweise, dass die Identität des Opfers zumindest teilweise ein Grund dafür war, warum es attackiert wurde.
Die Art und Weise, wie Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transmenschen oder Genderqueers mit Gewalt in Kontakt kommen, ist vielschichtig– unsere Communities sind ja auch sehr unterschiedlich. Grundsätzlich aber müssen wir als Gesellschaft die Art und Weise verändern, wie wir über Geschlechter denken. Und wir müssen gegen Geschlechter-Unterdrückung in jeder Form kämpfen, sei es Homophobie, Biphobie, Transphobie oder Sexismus. Das ist wirklich eine kulturelle Wende: Wir müssen fragen, warum wir so festgefahrene Geschlechterrollen haben."
"Huä, was machen die da?!"
"Also, es gibt sozusagen Ergebnisse dieser Korrelationsstudien, wo man mit Fragebögen die Leute sich anschaut, womit hängt Homophobie zusammen.",
Ulrich Klocke. Sozialpsychologe.
"Da gibt es einmal Bereiche, Ursachen, die spezifisch für Homophobie sind, und dann andere Ursachen, die sind ganz generell für Vorurteile wichtig sind, und dann auch für Vorurteile gegenüber Lesben und Schwulen wichtig. Bei diesen spezifischen ist ein wichtiger Faktor die Einstellung zu traditionellen Geschlechterrollen. Je eher Menschen klassischen Geschlechterrollen anhängen desto, desto negativer ist man gegenüber Lesen und Schwulen eingestellt.
Dann ein zweiter wichtiger Bereich ist Religiosität, und zwar insbesondere fundamentalistische Religiosität. Es ist nicht jede Art von Religiosität automatisch mit Homophobie verbunden. Aber wenn man der Meinung ist, 'Meins ist die einzig wahre Religion, und so wie es in der Bibel, oder im Koran, oder im Talmud steht, ist es 1 zu 1 vom lieben Gott diktiert worden und gilt eigentlich ganz genau so, wie es vor 2000 Jahren gilt, immer noch.' Also wenn man solche fundamentalistischen Einstellungen hat, ist man deutlich negativer eingestellt gegenüber Lesben und Schwulen.
Das sind so die zwei spezifischen Bereiche. Dann gibt es halt die allgemeineren Bereiche, die für Vorurteile generell eine Rolle spielen. Das ist Kontakt: Alles, was fremd ist. Das ist sozusagen auch schon evolutionär in uns angelegt, dass wir erstmal Dinge oder Personen, Personengruppen, die uns fremd sind, erstmal skeptischer beurteilen."
Sozialarbeiterin Lena Schnaars: „Letztes Thema: Heiraten. Dürfen Homosexuelle Menschen in Deutschland heiraten? 'Ja'. Da muss ich euch leider enttäuschen: In Deutschland dürfen homosexuelle Menschen keine Ehe eingehen.“
Die Diskussion in der Schulklasse kommt schwer in Gang. Das sei manchmal anders, erzählt Anna-Lena Schnaars.
"Wenn man sagt, eine Klasse mit 99 Prozent Migrationshintergrund, dann gehen die Leute grundsätzlich davon aus, dass diese Klasse homophober ist. Das glaube ich nicht. Aus der Arbeit heraus habe ich immer wieder festgestellt, dass es Klassen gibt, die eher ihre Vorurteile äußern oder da auch stärker drauf beharren oder auch stärker ein Männlichkeitsbild haben, wo das im Mittelpunkt steht.
Männlichkeit - ein prekärer Status?!
Grundsätzlich merkt man gerade bei Jungs, merkt man ganz stark dieses: Sobald das irgendwie mit sich selbst zu tun haben, werden auch die Jungs, die sagen 'Ach, ist mir scheißegal, wer jetzt mit wem heiratet', werden die auch vorsichtig oder haben auch so ein bisschen die Tendenz, das sehr abzuwerten. Gerade, wenn es um Sexualität geht, dann ist es immer sehr angstbesetzt oder sehr 'Huäh, was machen die da?'. Auch sehr ekelbesetzt. Bei Jungs auch mit dem Thema Schwulsein, das hat viel auch mit einer Angst um sich selber zu tun, oder auch einem Männlichkeitsbild nicht gerecht zu werden. Und das hat man eigentlich überall.
Also es gibt einen Zusammenhang, es ist schon so, wie man auch erwartet, dass Personen mit einer höheren Schulbildung oder einem höheren Bildungsniveau im Elternhaus etwas weniger negative Einstellungen haben. Aber der Zusammenhang ist nicht so stark, es ist nicht der wichtigste Faktor. Das heißt, diese Zusammenhänge zu traditionellen Geschlechterrollen oder zu Kontakt oder zu sozialer Dominanzorientierung oder Religiosität sind alle stärker."
Soziale Dominanzorientierung, das bedeutet ganz grundsätzlich, gesellschaftliche Hierarchien zu akzeptieren: Es ist die Überzeugung, dass es in einer Gesellschaft Minderheiten gibt, die in der sozialen Ordnung tiefer stehen als andere.
„Männlichkeit wird wahrgenommen als prekärer Status, der sowohl schwer zu erreichen, als auch schwer aufrechtzuerhalten ist. Im Vergleich zur Weiblichkeit, die typischerweise als Ergebnis einer natürlichen, durchgehenden und biologischen Entwicklung gesehen wird, muss Männlichkeit verdient und aufrechterhalten werden durch Handlungen, die öffentlich überprüfbar sind. Deshalb erleben Männer öfters Angst davor, ihren Geschlechtsstatus zu verlieren als Frauen, vor allem wenn ihr Geschlechtsstatus unsicher ist oder in Frage gestellt wird. Dies kann eine Vielzahl von riskanten oder maladaptiven Verhaltensmustern hervorrufen.“ (Übersetzung durch Autor)
Das Ergebnis einer Studie der University of Florida aus dem Jahr 2013.
Zurück im Gerichtssaal
Die Klimaanlage kühlt den Gerichtssaal in Manhattan auf unter 15 Grad. Während seine Anwälte vor dem Richter gestikulieren, wirkt Elliot Morales abwesend. Nach seiner Verhaftung hatte er gesagt, so steht es in den Polizeiunterlagen, sein Leben sei problembehaftet: Seine Schwester sei Crack-abhängig, er selbst habe sein Leben auch nicht im Griff und habe deshalb das Leben seiner ganzen Familie zerstört.
Jetzt sitzt der 33-Jährige da, und sagt: Nichts. Den Schuss auf Marc Carson hat er aus nächster Nähe abgegeben. Die Kugel durchdrang Carsons Wange; als er mit Blaulicht ins nahegelegene Beth Israel Krankenhaus gebracht wurde, konnten die Ärzte bei der Ankunft nur noch seinen Tod feststellen.
Andrea Swalec, Lokalreporterin: "Morales said, quote: 'He was acting tough'…“
Der Polizei wird Morales sagen, er habe Carson getötet, weil dieser den harten Kerl raushängen lassen wollte. Marc Carson, der äußerlich den Klischee-Stereotypen eines schwulen Mannes entsprach, auffällig gekleidet war, bunte Schuhe trug und seine sexuelle Orientierung extrovertiert nach außen trug, habe ihn dadurch provoziert, dass er im Moment der Konfrontation den harten Mann raushängen ließ. Deshalb habe er ihn erschossen.
Ob es sich bei Marc Carson tatsächlich um ein „Hate Crime Delikt“ handelt, ob Elliot Morales ihn tatsächlich vor allem deswegen getötet hat, weil er schwul war, wird das Gericht in den nächsten Jahren entscheiden.
Andrea Swalec, Lokalreporterin: "It could be years. Cases like this stretch on for years."
Nach nur wenigen Minuten ist die Anhörung von Elliot Morales zu Ende. Die anwesenden Gerichtsreporter verlassen den Saal.
Am Abend nach dem Gerichtstermin besuche ich den Tatort, möchte mir ansehen, wo Morales Marc Carson erschossen hat. Sixth Avenue, Ecke West 8th Street. Partygänger mischen sich mit Studentinnen und Studenten der nahen Privatuni New York University. Essensboten eilen auf Fahrrädern vorbei, Straßenhändler packen ihre Bücher und DVDs zusammen, gegenüber verkauft "Gray’s Papaya" Pizza für 99 Cent. Alles normal. In dieser Stadt geschehen viele Verbrechen, auch Schießereien auf offener Straße; der Fall Carson-Morales jedoch war besonders.
Fernsehreporter: "A strong police presence on 7th Avenue before a marching rally against violence after five anti-gay attacks in the past two weeks."
Fernsehreporterin: "Fear following a recent rise in anti-gay violence, including a cold-blooded killing over the weekend."
Fernsehreporter: "The crowd is getting bigger here, this rally against violence is scheduled to kick off in just a few minutes, and it comes after five attacks in just this month alone and one cold-blooded murder."
Zwei Tage nach Marc Carsons Tod gehen zahlreiche Menschen auf die Straße um gegen Homophobie zu demonstrieren. US-weit berichten Medien über den Fall.
Jindasurat, Anti-Gewalt-Projekt: "Queere Themen bekommen heute generell mehr Aufmerksamkeit in den Medien. So berichten die Medien auch mehr über Hate Crimes. Es ist nicht so, dass die Gewalt zunimmt oder vorher nicht stattgefunden hat, es ist einfach so, dass die Menschen heute mehr hinsehen. Im Frühjahr 2013 wurde immer wieder über homophobe Verbrechen berichtet. Die Leute fragten sich: Was ist los in New York, warum gibt es so viel Gewalt? Und dann – quasi als Höhepunkt dieser Serie – wurde Mark Carson erschossen. Weil es ein Mord war, weil jemand starb, hat das die Community besonders aufgeschreckt."
Andrea Swalec, Lokalreporterin: "Dieses Verbrechen geschah an einem Ort, der weltweit bekannt ist als historischer Ort für die amerikanische Gay-Rights-Bewegung: Das ist Greenwich Village. Ein Ort, an den die Menschen kommen, weil sie dort sein können, wie sie möchten; weil sie dort Hand in Hand gehen können mit wem sie möchten. Und genau dort passiert dieses furchtbare Verbrechen."
Zwei Häuserblocks vom Tatort entfernt. Vor einem unscheinbaren zweigeschossigen Gebäude mit Flachdach stehen Touristen; daneben unterhalten sich Barbesucher, die für eine Zigarette vor die Tür getreten sind.
In der Nacht vom 27 auf den 28. Juni 1969 begann hier, was später als "Stonewall-Aufstand" in die Geschichtsbücher einging. Der Club "StonewallInn" war einer der wichtigsten Treffpunkte für Homosexuelle. Regelmäßig führte die Polizei dort Razzien durch, nahm die Personalien der Gäste auf und veröffentlichte sie teilweise, um die Besucher zu diffamieren. Nach einer Razzia im Juni 1969 wollten die Menschen das nicht länger akzeptieren; es brachen heftige tagelange Proteste in den Straßen des Greenwich Village aus.
Es war das erste Mal, dass Schwule und Lesben in den USA prominent ihre Stimme gegen institutionelle Homophobie erhoben. Der Stonewall-Aufstand gilt als Beginn der Lesben- und Schwulenbewegung. Seitdem ist viel passiert: Die amerikanische Gay-Rights-Bewegung hat erfolgreich für ihre Rechte gekämpft hat.
Auch das Schweigen ist Teil des Problems
In großen Teilen der USA sind Schwule und Lesben mittlerweile – im Gegensatz zu Deutschland – rechtlich gleichgestellt, einschließlich Ehe und vollem Adoptionsrecht. Auf institutioneller Ebene haben die USA die meisten Länder in Sachen Gleichstellung überholt. Ein wichtiger Schritt. Aber Homophobie, in ihren drei anderen Ausprägungen – ideologisch, interpersonell und internalisiert –, das zeigt die Forschung, verschwindet dadurch nicht zwingend. Das zeigt auch der Tod von Marc Carson.
Auch wenn Elliot Morales nach seiner Verhaftung immer wieder betonte, er habe nichts gegen Schwule.
"Wenn ich einen Jungen habe, der ein ganz, ganz starkes Bild von Männlichkeit hat, also ein sehr patriarchisches Bild von Männlichkeit, was sehr, sehr stark verankert ist, und was auch sehr, sehr stark nach außen getragen werden muss…"
Anna Lena Schnaars vom Berliner Lesben- und Schwulenverband.
"…und der sagt mir: Das finde ich mega-eklig, das geht gar nicht. Dann kann ich besser mit dieser Person diskutieren, als mit jemandem der sagt, der vor mir sitzt und sagt: Die können alle machen, was sie wollen, aber mich interessiert das nicht. Weil das auch ausdrückt, mit mir hat das nichts zu tun. Ist mir egal, was andere Menschen machen, aber mit mir hat das nichts zu tun. Der Ursprung von diesem Gedanken, also das was im Kopf abgeht, ist trotzdem derselbe. Und da muss man sich die Frage stellen, was will ich erreichen? Will ich erreichen, dass sich eine Gesellschaft zu einem Thema nicht mehr äußert, weil es politisch inkorrekt ist. Und weil man so etwas eben nicht ausdrücken darf? Oder will ich, dass sich tatsächlich auch die Einstellung ändert und die Ideen, die man so im Kopf hat?"
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