Hommage an den Vater

17.05.2010
Javier Marias schreibt mit "Dein Gesicht morgen" eine Hommage an seinen 2005 verstorbenen Vater. Julian Marias war ein spanischer Philosoph, der Republikaner war und dafür mit einer Haftstrafe büßen musste.
Alles dreht sich um Jacobo Deza. Er ist Übersetzer, im übertragenen Sinn: Interpret Deuter. Er wird als "Psycho-Agent" vom Geheimdienst MI6 eingesetzt, denn er hat die seltene Gabe, Gesichter auszudeuten, wie andere aus der Hand lesen können. Aus dieser Annahme zieht sich der rote Faden durch das Romangewebe: der ständige Verdacht und die stete Ungewissheit. Selbst der Vorname Jacobo ist nicht sicher, wechselt ständig.

Die Grundfrage lautet: Was wissen wir schon von dem Menschen, dem wir begegnen, mit dem wir zusammenleben, selbst vom Freund? Wie wird er sich morgen mir gegenüber verhalten, wird er mir treu sein oder wird er mich verraten?

Diese Unsicherheit schlägt sich auch im Stil nieder. Marias beschreibt kaum etwas direkt, sondern umschreibt die Ereignisse, setzt immer zwei, drei Möglichkeiten oder Varianten ein. Er durchlöchert so die Realität.

"Dein Gesicht morgen" ist eine Hommage an den 2005 verstorbenen Vater des Autors, Julian Marias. Ein spanischer Philosoph, der Republikaner war und dafür mit einer Haftstrafe büßen musste. Im wirklichen Leben konnte er nicht voraussehen, dass ihn sein bester Freund am Ende des Spanischen Bürgerkriegs 1939 verraten und bei der franquistischen Polizei anzeigen würde. Er hätte erschossen werden können. Seine Karriere wurde verbaut. Der Vater wollte auch nach dem Tod Francos 1975 nicht an diese Episode erinnert werden. Darüber kommt der Sohn als Erzähler im Roman nicht hinweg.

Damit trifft Javier Marias auch den wunden Punkt der spanischen Nach-Franco-Zeit. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie war nur möglich aufgrund eines stillschweigenden Paktes. Einer Amnestie, die auf Amnesie beruhte. Alles, was während Franco und vor allem während des Spanischen Bürgerkriegs an Schrecklichem passiert war, sollte erst einmal vergessen werden. Erst Ende der 80er-Jahre erinnerten Romanciers wie Rafael Chirbes an die Grauen des Bürgerkriegs und des Franco-Regimes. Erst heute gräbt man die Leichen aus.

Durch Zeitsprünge, durch die Dehnung der Zeit bis hin zur Überdehnung, durch Überdrehung, Wiederholung, Wirbel, ständigen Umschreibungen schafft Marias seinen ureigenen Stil. Das führt aber auch zu beträchtlichen Kollateralschäden. Man weiß oft nicht mehr an welchem Punkt der Geschichte man ist. Der Leser wird verunsichert und der Autor dürfte sein Ziel erreicht haben.

So entsteht ein handlungsarmes aber umso umschreibungsreicheres Romangeflecht, aus dem der Leser, einmal gefangen, nicht mehr herausfindet. Ein stetes Ritartando, verbunden mit weit ausholenden, langatmigen Sätzen, an dem der geübte Leser sofort erkennt, dass es sich wieder einmal um einen Roman von Javier Marias handelt, dem inzwischen zehnten.

Manche Umschreibungen ziehen sich dermaßen in die Länge, dass man fast den Mut verliert, weiter zu lesen. Aber dann wird man wieder entschädigt und gebannt durch manche Folter- und Liebes-Szenen und vor allem durch den langen Atem im Satzbau von Javier Marias.

Besprochen von Ruthard Stäblein

Javier Marias: Dein Gesicht morgen
Romantrilogie
Aus dem Spanischen übersetzt von Elke Wehr. Ab Band 3 ab S. 278 Luis Ruby
Klett & Cotta
725 Seiten, 24,50 Euro