Holocaust

Die gefährliche Flucht aus den Deportationszügen

Juden im Mai 1941 vor ihrer Deportation nach Auschwitz auf dem Bahnsteig von Pithiviers in Frankreich.
Juden im Mai 1941 vor ihrer Deportation nach Auschwitz auf dem Bahnsteig von Pithiviers in Frankreich. © dpa / picture alliance
Von Michael Hollenbach · 06.12.2013
Der Sprung aus dem fahrenden Zug war lebensgefährlich - doch für viele deportierte Juden die einzige Möglichkeit, den Nazis noch zu entkommen. Eine Historikerin hat dieses Thema nun untersucht.
Vier Jahre lang hat Tanja von Fransecky für ihre Dissertation akribisch das Schicksal der Deportierten aus Westeuropa recherchiert. Die Historikerin hat zahlreiche Quellen ausgewertet und mit vielen Zeitzeugen über die Fluchtversuche gesprochen:
"Ich glaube, dass vor allem diejenigen die Flucht gewagt haben, die sicher sein konnten, dass sie auch auf Hilfe rechnen konnten. Das waren am ehesten die, die Netzwerke hatten, die politisch gegen die Nazis waren, die in links-zionistischen, sozialistischen oder kommunistischen, jüdischen Einwanderungsorganisationen aktiv gewesen sind."
Um eine Flucht zu verhindern, haben die SS-Leute im Vorfeld Druck auf die Deportierten ausgeübt:
"Vor dem Besteigen der Waggons ist allen gesagt worden: 'Wenn jemand fehlt am Ende der Reise, werden die, die übrig bleiben, zur Strafe erschossen.' Die Erschießungsandrohung war sehr wirkmächtig, die hat für viel Streit im Waggon gesorgt, wenn Leute fliehen wollten, weil die Zurückbleibenden um ihr Leben fürchteten."
Diese Drohung hat zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, wenn die Deportierten begannen, mit ihren Werkzeugen Löcher in die Wand zu stemmen.
"Das ist vielfach überliefert und das ist ein moralisches Dilemma, mit dem sich diejenigen, die aus dem Waggon fliehen wollten, natürlich konfrontiert sahen."
"Lasst mich nicht allein"
Die Androhung war eine Taktik der Nazis, die Opfer gegeneinander aufzubringen.
"Das war eine der bei den Nazis üblichen Drohungen. Letztendlich ist das ja eine Technik der nationalsozialistischen Machtausübung, die Opfer gegeneinander in Stellung zu bringen. Die sind ja auch nicht mehr gezählt worden. Diejenigen, die gleich vergast worden sind, sind nicht gezählt worden, daher gab es keine Kontrolle."
Wie innerlich zerrissen viele der Deportierten waren, schildert Rudolf Schmitz. Er war mit seiner Familie von Köln nach Belgien geflohen, wo er und seine Frau am 15. Januar 1943 von der SS in den Zug nach Auschwitz verfrachtet wurden. Rudolf Schmitz wollte auf jeden Fall aus dem Waggon fliehen.
"Ich will nicht eher abspringen, bevor nicht meine Frau es geschafft hat. Sie will aber nicht, sie hat Angst. So zieht sich die Nacht in langsamer Fahrt dahin. Ich überlege, denke an unsere achtjährige Ehe, denke an meine drei Kinder, die ich in Belgien in einem Kloster versteckt habe. Ich möchte sie wiedersehen. So komme ich zu dem Entschluss, alleine abzuspringen. Als meine Frau merkt, dass es mir Ernst ist, fasst sie mich am Bein und bittet: 'Lass mich nicht allein!' Ich antworte ihr, dass sie mir folgen soll. Sie kommt aber nicht. Ich springe ab."
Eine typische Schilderung, meint Tanja von Fransecky, da vor allem die Männer gesprungen sind. Die Frauen hatten einerseits mehr Angst, aber sie waren auch nicht bereit, Angehörige und Freunde allein im Waggon zurückzulassen: In einer Atmosphäre, die geprägt war von Todesangst, aber auch vom Streit um Wasser und Brot, um ein paar Quadratzentimeter Platz.
"Zum Beispiel sind viele Leute verrückt geworden - also dieser Aspekt, dass viele daran richtig kaputt gegangen sind und wie schlimm und laut und aggressiv und verzweifelt die Situation war, das war mir nicht so klar."
Hunger. Durst. Wahnsinn
Paul Chitelman hat diese Atmosphäre in wenige Worte zusammengefasst:
"Drei Tage. Drei Nächte. Hunger. Durst. Wahnsinn. Urin. Exkremente. Wahnsinn. Schläge, Schreie von Wahnsinnigen."
Die Flucht aus dem fahrenden Zug war lebensgefährlich. Dies berichtet auch Willy Berler, der aus dem Deportationszug vom 19. April 1943 fliehen wollte:
"Da sehe ich, dass der Junge, der vor mir gesprungen ist, es nicht geschafft hat. Es ist ein entsetzliches Bild. Der Junge ist am Waggon hängen geblieben, und sein Kopf ist zwischen zwei Stoßdämpfern wie eine Melone zerquetscht worden. Es schwindelt mir vor den Augen, ich will mein Leben nicht riskieren – und lasse mich in den Waggon zurückfallen."
Entmutigt von dem Anblick bleibt Willy Berler in dem Waggon. Er überlebt zwei Jahre Auschwitz.
"Hätte ich auch nur die leiseste Ahnung davon gehabt, was mich im Lager erwartete, hätte ich trotz meiner Todesangst den Sprung gewagt. Wie oft habe ich später im Lager mein Zaudern bedauert."
Die Fluchtversuche blieben lange unerforscht. Einerseits scheuten sich viele Überlebende, angesichts des Holocaust von der gelungenen Flucht zu erzählen; andererseits – so Tanja von Fransecky – passten diese Taten nicht in das Bild der wehrlosen jüdischen Opfer:
"Ich denke schon, dass die Fluchten aus den Deportationszügen zum jüdischen Widerstand gehören. Aber es liegt auf der Hand, dadurch, dass es dieses moralische Dilemma gegeben hat und die anderen befürchtet haben und befürchten mussten, dass sie erschossen werden für die Flucht anderer, dass sie dafür büßen werden, gibt es ein großes Aber bei der ganzen Geschichte."
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