Hohe Erwartungen, große Illusionen

Von Alexander Gauland · 01.01.2007
Mut hat Frau Merkel. Da streitet die Große Koalition über die weitere Behandlung der Türkei, mühen sich die bisherigen 25 EU-Länder verzweifelt ein wenig Freude über die nun erfolgte Aufnahme Bulgariens und Rumäniens zu verbreiten, und führen Polen wie Zypern vor, dass ein Mitglied, sei es nun groß oder klein die europäische Handlungsfähigkeit gegen Null tendieren lassen kann. Doch die Bundeskanzlerin will den Verfassungsprozess neu beleben, was nur heißen kann, die Menschen in den Ländern, in denen das möglich ist, so lange abstimmen zu lassen, bis aus der Ablehnung Zustimmung geworden ist.
Abgesehen davon, dass es keinen Erfolg verspricht, zäumt es auch das europäische Pferd vom Schwanz auf. Denn Franzosen und Holländer haben nur stellvertretend für viele Nein gesagt, die längst nicht mehr wissen, was Europa ist oder künftig sein soll. Die Engländer wollen eine Freihandelszone soweit das Auge reicht, die Franzosen ein handlungsfähiges Europa, notfalls auch gegen Amerika und die Polen ein möglichst starkes Polen, gestützt auf die USA, dem die anderen Europäer helfen, die Ukrainer drinnen und die Russen draußen, also möglichste weit weg von Polen zu halten. Und während das alte Kernland der Habsburger Monarchie, Kroatien, noch immer keine Beitrittsperspektive hat, wird über die Ukraine und Georgien spekuliert, nicht um Europa zu stärken, sondern um Russland zu schwächen.

Nicht diejenigen irren, die die Verfassung für ein solches Gebilde verworfen haben, sondern diejenigen die glauben, 20 oder 22 unterschiedliche Zielvorstellungen mit einer Verfassung sinnvoll überwölben zu können.

Es ist eben ein Irrweg immer neuen Ländern eine europäische Perspektive zu eröffnen, gleichgültig, wie lange sie historisch von Europa getrennt waren und wie tief der kulturelle Graben inzwischen geworden ist. Europa hat sich aus einem abendländischen Gedanken in eine technokratische Wirtschaftsgemeinschaft verwandelt, der auch Japan oder mit etwas mehr Recht Israel, Ägypten oder Marokko angehören können. Und da die europäischen Völker das Gefühl nicht loswerden, bei nächster passender strategischer Gelegenheit auch mit diesen Beitrittskandidaten konfrontiert zu werden, reagieren sie störrisch auf jeden Neuzugang. Längst werden Bulgarien und Rumänien nicht mehr als Bereicherung, sondern als Belastung empfunden. Die Taktik der politischen Klasse, die Grenzen Europas je nach Interessenlage fließend und die Möglichkeiten offen zu halten, hat das Gegenteil bewirkt, eine große Lustlosigkeit, eine tiefe Europamüdigkeit und -skepsis. Zu groß ist das Gebilde, zu bürokratisch sein Auftritt, zu vage seine Ziele und Begrenzungen. Und so verbinden sich mit Europa heute die unterschiedlichsten Vorstellungen und Begründungen, die sich kaum noch zusammenfügen lassen.

Ist es europäische Politik, mit Amerika zu konkurrieren oder auf Dauer mit ihm in einer Wirtschaftsgemeinschaft zu verschmelzen, um gegen die Heraufkunft Chinas und Indiens gewappnet zu sein? Hat Europa einen christlichen, kulturellen Kern oder ist es ein fließendes Gebilde, das auch islamische Staaten aufnehmen kann? Ist es europäische Aufgabe, Russland möglichste weit nach Asien abzudrängen und die Unabhängigkeit der neuen, kleinrussischen Abspaltungen zu sichern, oder ist nicht gerade das orthodoxe, imperiale Russland wie zu Bismarcks Zeiten ein natürlicher Verbündeter der Europäischen Union?

Mag sein, dass solche Fragen nicht zu klären sind, weil die europäischen Nationalstaaten zwar zu schwach für souveränes Handeln, aber noch nicht schwach genug für den Verlust ihrer historischen Erinnerungen und Ängste sind. Doch dann bleibt nur der Status Quo, eine Wirtschafts- und Rechtsgemeinschaft mit ein paar politischen Handlungsfeldern, ganz ähnlich dem alten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation in seinen besseren Tagen. Doch dafür bedarf es keines neuen Verfassungsvertrages, er kann nicht ersetzen, was die Völker nicht oder eben noch nicht wollen: ein Europa mit einer Staatsräson. Und so werden die Engländer wie die Polen weiter versuchen, die Türken drinnen, die Russen draußen und Deutsche wie Franzosen, die Europäer der ersten Stunde, möglichst bewegungsunfähig zu halten. Nur ein kleines homogenes Kerneuropa könnte hier Abhilfe schaffen, doch Chirac ist müde, Schäuble Innenminister und Lamers Vergangenheit. Die deutsche Ratspräsidentschaft wird nichts bewirken, es ist nicht Frau Merkels Schuld, die Zeiten sind nicht danach.


Dr. Alexander Gauland, geb. 1941 in Chemnitz, lebt als Publizist und Buchautor in Potsdam. Mehrere Jahre lang war er Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung. Von 1987 bis 1991 war er Staatssekretär und Chef der hessischen Staatskanzlei. Anfang der 70er Jahre hatte Gauland im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gearbeitet. Als Publizist hat er zahlreiche Artikel und Beiträge zu gesellschaftspolitischen Fragen, zur Wertediskussion und des nationalen Selbstverständnisses veröffentlicht. Letzte Buchveröffentlichung: "Anleitung zum Konservativsein".