Hörspielmagazin Extra

Blinde Flecken - Historikerin Gabriele Woidelko über Erinnerungskultur

35:34 Minuten
Ein Panzerfahrzeug der Wehrmacht, gefolgt von Soldaten auf Motorrädern, in der Stadt Minsk während des Rußland-Feldzuges im August 1941.
Die deutsche Wehrmacht in Minsk im August 1941 © picture-alliance / dpa | UPI
Von Anja Reinhardt · 19.06.2021
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In Jochen Langners Hörspiel "Ein paar Dutzend Worte" nach Texten von Swetlana Alexijewitsch verbinden sich belarussische Zeitzeugenberichte aus dem Zweiten Weltkrieg mit Fluchterfahrungen der Gegenwart. Anja Reinhardt sprach mit der Historikerin und Slawistin Gabriele Woidelko über Formen der Erinnerungskultur, über historische Wahrheit und die Last des Schweigens.
Anja Reinhardt: "Anja Reinhardt Guten Abend. Ein paar Dutzend Worte können je nach Betrachtungsweise viel oder wenig sein. Wie viele oder welche Worte die Erinnerung braucht, dafür gibt es keine Regel, das hat das Hörspiel von Jochen Langner gezeigt. Seine Protagonistinnen und Protagonisten kommen aus Deutschland, der Republik Kongo, der Ukraine, Tunesien und Belarus und erzählen ihre Geschichten. Und sie reisen wiederum zusammen mit den Zeitzeugenberichten aus dem Zweiten Weltkrieg, die die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch gesammelt hat, nach Minsk. Dorthin also, wo vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, die Wehrmacht auf einer Nord-Süd Linie die Sowjetunion angriff. Und dorthin, wo das größte jüdische Ghetto auf belarussischem Gebiet errichtet wurde, wo die Deutschen mehr als anderthalb Millionen Menschen ermordeten. Von den Verbrechen der Wehrmacht erzählen in Swetlana Alexijewitschs Buch "Die letzten Zeugen" die, die es erlebt haben. Ein Buch, von dem sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wünscht, dass es gerade in Deutschland gelesen werden solle, wie er bei seiner Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an die Schriftstellerin in dieser Woche sagte. Welche Erinnerungskultur wir haben, wo es blinde Flecken gibt, darüber will ich in dieser Sendung mit der Historikerin und Slawistin Gabriele Woidelko sprechen, die bei der Körber-Stiftung den Arbeitsschwerpunkt Geschichte und Politik leitet. Guten Abend, Frau Woidelko!"
Gabriele Woidelko: "Guten Abend, Frau Reinhardt."
Anja Reinhardt: "Es soll hier auch darum gehen, wie Erinnerung konstituiert werden kann, wenn es um die Fluchtgeschichten der Gegenwart geht. Aber zunächst möchte ich mit Ihnen nochmal auf dieses historische Datum schauen. Warum wird über den Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, die Pogrome und die Gräuel auf belarussischen Gebiet 80 Jahre danach in Deutschland doch relativ wenig gesprochen?"
Gabriele Woidelko: "Naja, ich glaube, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten in Belarus relativ lange ein blinder Fleck waren in der Erinnerungskultur hier in Deutschland. Wir haben ja nach 1989, nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung, nach der europäischen Wiedervereinigung grundsätzlich erst langsam angefangen, uns mit den historischen Ereignissen, mit den Ereignissen rund um den Zweiten Weltkrieg, speziell in Mittel- und Osteuropa auseinanderzusetzen. Und Belarus ist dabei ein Gebiet geblieben, was sehr lange terra incognita war für viele. Abgesehen von einigen Spezialistinnen und Spezialisten unter den Historikern, die sich damit beschäftigt haben, war das nicht Teil des kollektiven Gedächtnisses oder der gesellschaftlichen Erinnerung. Es hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir lange Zeit das Gefühl hatten oder auch das wurde ja auch von den Nachrichten bestätigt, dass es sich in Belarus um - so hieß es ja immer - die letzte Diktatur in Mittelosteuropa handle. Und es hat jetzt erst in den letzten Monaten, als die Proteste in Belarus gegen das Lukaschenko-Regime, gegen die Präsidentschaftswahl aufflammten, die demokratischen Proteste dort, da hat es dann so eine Art Bewusstseinserweiterung gegeben, auch hier in Deutschland. Ich glaube, viele Leute haben da erst ihre mentale Landkarte nochmal neu sortiert und Belarus überhaupt wahrgenommen als ein eigenständiges Land und als ein Land mit einer sehr komplizierten Geschichte und Gegenwart."
Anja Reinhardt: "Das zeigt ja auch schon der Wandel im Bewusstsein für die Bezeichnung von Weißrussland zu Belarus eben."
Gabriele Woidelko: "Ja, tatsächlich haben wir da in den letzten Monaten deutliche Fortschritte gemacht, auch hier in der Diskussion. Es ist tatsächlich so, dass dieser Begriff Weißrussland ein Begriff ist, den auch die Menschen, die in der demokratischen Bewegung in Belarus sich engagieren, auch ablehnen für ihr Land. Also das ist eine Art koloniale in Anführungszeichen Bezeichnung, also eine Bezeichnung, die gewählt wurde, um letztendlich Belarus auch die Eigenständigkeit abzusprechen und es auch semantisch zu einem Teil, zu einem Anhängsel Russlands zu machen. Und insofern hat da sehr viel Bewusstseinsbildung stattgefunden in den letzten Monaten."
Anja Reinhardt: "Wenn wir z.B. über den Holocaust reden, dann haben wir natürlich die Konzentrations- und Vernichtungslager in Polen im Kopf. Wir vergessen dabei aber, dass der Holocaust eben auch in der Sowjetunion stattgefunden hat, eben auch in Belarus. Und das ist, glaube ich auch etwas, was in der Erinnerungskultur gar nicht so präsent ist, richtig?"
Gabriele Woidelko: "Das ist in der Erinnerungskultur hier in Deutschland relativ spät aufgekommen, dieses Bewusstsein dafür. Das hat aber auch damit zu tun, dass es in der Erinnerungskultur der Sowjetunion und später im postsowjetischen Russland auch lange gedauert hat, bis Jüdinnen und Juden, die im Holocaust, in Osteuropa und in der Sowjetunion ermordet wurden, ins Bewusstsein rücken durften. Formuliere ich es jetzt mal, denn es gab lange Zeit die Tendenz, alle Opfer des nationalsozialistischen Überfalls auf sowjetischem Territorium eben als Opfer des Faschismus oder als Opfer des Zweiten Weltkriegs zu, ich sage mal, vereinheitlichen und wenig zu differenzieren. Und dieses Bewusstsein dafür, wie viele Millionen Jüdinnen und Juden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ermordet wurden, das hat sich erst langsam Bahn brechen können. Und das sieht man auch daran, dass es sehr lange gedauert hat, bis die wirklich sehr eindrucksvolle Gedenkstätte in Maly Trostinez, das ist in der Nähe von Minsk ein großer Erschießungsort, wo die Deutschen wirklich viele, viele tausend Jüdinnen und Juden umgebracht haben, bis diese Gedenkstätte dann feierlich eingeweiht werden konnte. Das ist 2018 passiert. Das ist wirklich noch nicht sehr lange her."
Anja Reinhardt: "Denn die Belege, die Dokumente dafür, die gibt es ja. Es gibt zum Beispiel auch Berichte von Wehrmachtssoldaten, die relativ detailliert schildern, wie da Erschießungen stattgefunden haben. Es gibt die Zeitzeugenberichte. Ist das alles so spät ans Licht gekommen?"
Gabriele Woidelko: "Nein, ich glaube, das war alles da. Wie Sie sagen, die Quellen waren vorhanden, aber es gab eben jenseits eines Kreises von Historikerinnen und Historikern, die sich praktisch aus ihrer Fachdisziplin heraus mit diesem Thema beschäftigt haben, kein Bewusstsein und auch, ja, vielleicht auch kein Interesse dafür. Ich glaube, dass wir in gewisser Weise eine asymmetrische Erinnerung hier in Deutschland haben. Diese asymmetrische Erinnerung wurde auch aus meiner Sicht jedenfalls durch die jahrzehntelange Teilung Europas noch befördert. Wir haben in der Aufarbeitung der deutschen Verbrechen im Nationalsozialismus eben doch sehr lange auf den Holocaust, auf die Shoah, vorwiegend in westeuropäischer Perspektive und natürlich, Sie haben es vorhin erwähnt, mit Blick auf die Verbrechen im NS- Vernichtungslager Auschwitz geschaut und das, was dann weiter östlich auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion passierte, was ja durch den Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 begann. Das war sehr lange, doch einem anderen dominierenden Narrativ untergeordnet."
Anja Reinhardt: "Es gibt einen doch bemerkenswerten Satz im Hörspiel, in dem von den freundlichen Deutschen die Rede ist, weswegen niemand eigentlich daran glaubt, dass sie 1941 eine Gefährdung für die Bevölkerung sind. Ein Glaube, der jetzt 1941 in Osteuropa auch gar nicht so unverbreitet war. Man sah die Deutschen auch als die Befreier von Stalins Diktatur. Wie kann man sich das von heute aus erklären?"
Gabriele Woidelko: "Ja, ich glaube, das muss man im Kontext sehen der sehr turbulenten und sehr gewaltbelasteten Geschichte Mittel- und Osteuropas in der Zwischenkriegszeit, also die Zeit zwischen der Russischen Revolution 1917 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs war in dieser Region geprägt von Bürgerkriegen, von viel Gewalt, auch von ethnischen Säuberungen. Und das dann 1941, als die Menschen in Belarus und auch in anderen Regionen der ehemaligen oder auf anderen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion ja bereits zwei Jahre oder mehrere Jahre des stalinistischen Terrors über sich ergehen lassen mussten, finde ich das durchaus nachvollziehbar, dass dann das, was kam, nämlich die Deutschen, die man auch in Erinnerung hatte, das klingt ja auch im Hörspiel an, in Erinnerung hatte aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als die Befreier, als diejenigen, die etwas ermöglicht haben in Mittel- und Osteuropa eine Art, wie sage ich es mal, Nationalstaatsbildung oder eine Art Befreiung von Krieg und Gewalt. Dass das dann positiv konnotiert ist im ersten Moment und dass auch der Unglaube vorherrschte, dass diese Deutschen derartige Verbrechen begehen könnten, das finde ich zunächst mal aus der Lebenswelt der Zeitgenossen damals durchaus nachvollziehbar."
Anja Reinhardt: "Jetzt wissen wir eben und das zeigt auch das Hörspiel nochmal mit den Texten von Swetlana Alexijewitsch, wie schrecklich diese Gräuel waren. Sie haben es eben auch gerade nochmal erwähnt. Wie wirken denn diese Traumata bis heute in der Bevölkerung nach? Kann man das einschätzen?"
Gabriele Woidelko: "Also, jeder und jede, der sich mal auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion länger bewegt hat, mit Menschen gesprochen hat, ob das nun in Belarus ist oder auch in der Ukraine, aber auch in Russland selbst, jeder, der das tut, ist unweigerlich konfrontiert mit ja, einerseits auch mit diesem Stolz auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Das dürfen wir ja auch nicht vergessen, die Rote Armee hat hat die Nationalsozialisten besiegt und diesen Stolz gibt es. Aber es gibt eben auch in fast allen Familien Opfer dieses Krieges und eben auch Opfer der deutschen Gewaltherrschaft. Also, dieses Thema ist unfassbar präsent und es wirkt eben, auch das finde ich, zeigt das Hörspiel ja sehr eindrücklich, es wirkt eben über Generationen hinweg. Also mich hat sehr beeindruckt in dem Hörspiel, dann auch in den Texten von Swetlana Alexijewitsch, wie sehr diese jetzt erwachsenen Menschen, die den Krieg und die Verbrechen als Kinder mit ansehen mussten, die die Verbrechen überlebt haben, wie sehr sie das prägt in ihrer Biografie, in ihren Träumen, in ihrer Wahrnehmung, teilweise ganze Lebenswege, die danach komplett anders verlaufen sind. Also ich glaube, wir dürfen das nicht unterschätzen, wie diese Traumata fortwirken."
Anja Reinhardt: "Bei uns redet man ja immer vom großen Schweigen, was nach der sogenannten Stunde Null, die natürlich keine Stunde Null war, eingetreten ist. Kann man sowas auch feststellen in Osteuropa?"
Gabriele Woidelko: Also ich glaube, wir müssen da, wenn wir über Osteuropa reden, müssen wir sehr differenzieren. Ich bleib mal bei dem bei dem Beispiel Belarus. Belarus ist deshalb besonders kompliziert, weil bis heute die belarussische, na wie soll ich sagen, das staatliche Geschichtsnarrativ in Belarus, was z.B. auch in diversen offiziellen Museen gepflegt wird, weil dieses Narrativ sehr stark noch basiert auf dem Sieg über den Faschismus, auf diesem Terminus der siegreichen Roten Armee und dem wird vieles untergeordnet. Das bedeutet, die Räume, um über traumatische Erinnerungen, die mit diesem Krieg verbunden sind, aber auch über traumatische Erinnerungen, die mit dem Stalinismus verbunden sind, zu sprechen, die sind im öffentlichen Raum sehr, sehr eng. Und das bedeutet, dass es oftmals zivilgesellschaftliche Initiativen waren oder eben sehr engagierte Historikerinnen und Historiker, die diese Traumata mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und ihren Nachfahren aufgearbeitet haben. Also, die Last des Schweigens ist ein Terminus, von dem der israelische Psychologe Dan Bar-On gesprochen hat in seiner Arbeit. Und die Last des Schweigens ist, glaube ich, auch nicht zu unterschätzen, denn wenn es in der Öffentlichkeit keinen Raum gibt für diejenigen, die bis heute traumatisiert sind durch die durch den Krieg und seine Folgen, um über ihr Erleben oder das Erleben, das Leid ihrer Eltern zu sprechen, dann führt das dazu, dass diese Menschen ja nicht nur sich nicht wahrgenommen fühlen, sondern dass eben das, was sie erlebt haben, auch nicht Teil des kollektiven Gedächtnisses oder eines kollektiven Erinnerungsdiskurses werden kann. Und das ist für eine Gesellschaft außerordentlich schädlich.
Anja Reinhardt: Würden Sie sagen, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und vielleicht auch das Ringen darum, an was erinnert werden soll und was nicht, auch bei den Protesten, die jetzt doch relativ von oben sozusagen eingedämmt worden sind, in Belarus eine Rolle spielt? Dass man auf der einen Seite, dass diese Traumata nachwirken und man auf der anderen Seite aber eben auch Stalins Diktatur in der jungen Generation versucht aufzuarbeiten.
Gabriele Woidelko: Also ich glaube, das wäre etwas zu weit gegriffen, wenn man das jetzt generell für die Protestbewegung sagen würde. Die Protestbewegung in Belarus ist sehr divers und sie ist aus meiner Sicht zumindest nicht primär historisch oder vielleicht auch gar nationalistisch oder nationalstaatlich geprägt. Den Menschen in Belarus geht es um ihr Recht auf Selbstbestimmung und das Recht auf demokratische Selbstbestimmung und freie Wahlen. Es geht hier auch nicht darum, sich irgendeinem, sich der Europäischen Union oder irgendeinem anderen Land anzuschließen, einem anderen Staatenbund anzuschließen oder sich dagegen abzugrenzen. Es geht hier um die Frage, ob die Belarussinnen und Belarussen das Recht haben sollen, über ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Natürlich spielt bei diesem Diskurs über die Zukunft diese Frage "Wo kommen wir her? Was ist unsere Geschichte? Was ist die Geschichte in diesem Land?", das spielt sicherlich eine Rolle. Und es spielt eine Rolle, dass eben die Aufarbeitung, die öffentliche Auseinandersetzung mit den Folgen des Stalinismus bis heute, ja, wie soll ich es mal formulieren, eher am Rand passiert.
Anja Reinhardt: Ich frage das auch deswegen, weil es ja doch unter Putin eine Rückkehr sozusagen gibt, die hat sicherlich auch schon ein bisschen früher angefangen, aber dazu, den Großen Vaterländischen Krieg, wie es in Russland eben genannt wird, als durchaus auch irgendwie als Gründungsmythos zu verstehen. Also auch mit der Nachstellung z.B. von Kriegsszenen. Und die 27 Millionen Opfer, die es ja gab, eben durch den Einmarsch der Wehrmacht, die scheinen doch eher eine untergeordnete Rolle zu spielen. Also die Frage ist vielleicht, ob man sich von dieser Inszenierung in der Protestbewegung in Belarus auch distanzieren will.
Gabriele Woidelko: Ich habe kürzlich ein Gespräch geführt mit der belarussischen Philosophin Olga Shparaga, und die hat da eine sehr dezidierte Meinung, die hat erstens nochmal betont, wie divers die Protestbewegung ist und hat aber auch unterstrichen, dass ja natürlich diese Frage, die Auseinandersetzung mit dem Großen Vaterländischen Krieg und mit diesem Narrativ, was damit verbunden ist, natürlich eine Rolle spielt. Wenn wir es mal so wenden wollen, in dem Sinne, dass die Protestbewegung in Belarus die Eigenständigkeit des belarussischen Volkes und des belarussischen Staates betont und um das zu können, natürlich eine Abgrenzung gegenüber Russland erfolgen muss, aber auch gegenüber dem vereinnahmenden historischen Narrativ des Großen Vaterländischen Krieges, der ja letztendlich das Narrativ, was letztendlich alle Völker der ehemaligen Sowjetunion irgendwie vereint, aber dann auch irgendwie gleich macht und eben nicht auf die Differenziertheit der Verbrechen, auf die unterschiedliche Art und Weise, wie das Morden in Mittel und Osteuropa vor sich ging, schaut.
Anja Reinhardt: Wenn wir bei den Narrativen mal bleiben. Da ist vielleicht auch ganz interessant, nochmal den weiblichen Blick in den Fokus zu nehmen. Ich möchte kurz erwähnen, dass Vika Biran, die in dem Hörspiel ja auch eine der Protagonistinnen ist, Vika Biran aus Minsk. Die wurde bei den Protesten nach der Wahl 2020 in Belarus verhaftet. Sie war 14 Tage in Haft. Das war alles nach der Hörspiel-Produktion. Überhaupt kamen ja viele Protestierende aus der Kultur und das Gesicht des Widerstandes, das haben wir ja schon hier doch sehr deutlich wahrgenommen, das war vor allen Dingen weiblich. Und um sozusagen weiblichen Widerstand, kann man sagen, geht es auch bei Swetlana Alexijewitsch. Ist das ein Narrativ, das vielleicht auch durch den Protest mehr in den Fokus gestellt werden soll?
Gabriele Woidelko: Ja, das war tatsächlich auch aus meiner Sicht beeindruckend und auf eine ganz besondere Art beeindruckend, zu sehen, wie viele starke Frauen sich in Belarus für den Protest engagiert haben und bis heute engagieren. Nun ist gerade in Bezug, wenn wir jetzt über den Zweiten Weltkrieg sprechen, dann und über Mittel- und Osteuropa sprechen, dann ist auch da die Rolle der Frauen ja durchaus eine besondere. Also die Frauen blieben zurück und die Frauen waren dann auch diejenigen, die, die letztendlich nach dem Krieg an vielen Stellen sozusagen das Land wieder aufbauen mussten, die also auch Stärke zeigen mussten und letztendlich die Männer ersetzen mussten, die im Krieg geblieben waren oder die ermordet worden waren. Insofern gibt es speziell im postsowjetischen Raum eine gewisse Tradition, wenn ich es mal so vorsichtig formulieren kann, der starken Frauen. Aber in Belarus, da hieß es ja oft, das Gesicht der Revolution ist weiblich. Das war auch so. Und ich denke, dass diese besondere Art der Herangehensweise an Proteste auch die besondere Art, Zeugnis abzulegen und Widerstand zu leisten, ich meine, wir alle waren beeindruckt von diesem und sind beeindruckt von diesem unfassbaren Mut der Frauen, die sich dem Regime, die sich dem Geheimdienst, die sich der Polizei entgegenstellen und die zumindest dem Eindruck nach gar keine Angst haben vor Repressionen und die sich dem aussetzen. Ob das jetzt Maria Kolesnikowa ist, auch Swetlana Alexijewitsch, sie musste das Land verlassen, sie hat das Land verlassen, aber sie erhebt ihre Stimme jetzt von außerhalb und sie lässt sich nicht mundtot machen. Und ich glaube, das ist etwas, was sehr wichtig ist im Kontext der Proteste mit Belarus, dass wir nochmal auf die Stärke dieser Frauen verweisen.
Anja Reinhardt: Wir müssen vielleicht auch nochmal sagen, dass die Bücher von ihr in Belarus verboten sind.
Gabriele Woidelko: Das ist richtig, Swetlana Alexijewitsch darf in Belarus nicht publizieren. Und ich mag sehr, wie sie an ihr eigenes literarisches Werk herangeht. Sie hat es ja auch in der in der Dankesrede zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes gesagt. Sie hat gesagt sinngemäß, ich gebe den vielen, die sonst nicht gehört werden, eine Stimme und ich muss mich beeilen. Ich muss das alles aufschreiben, ich muss zuhören, ich will, dass diese Menschen Zeugnis ablegen können. Und sie sieht sich selbst eher als eine Art Medium, wenn man das mal so formulieren darf, als eine Chronistin. Und das ist eine, wie ich finde, sehr spezielle, sehr notwendige Herangehensweise an Geschichte und Gegenwart. Das ist das, was sie auszeichnet.
Anja Reinhardt: Ja, ich meine die Zeitzeugen, die sterben aus. Es gibt ja auch durchaus die Befürchtung, dass sich Deutschland auf seiner etablierten und durchaus auch von außen gelobten Erinnerungskultur ausruht, dass diese erstarrt. Sehen Sie da auch eine Gefahr?
Gabriele Woidelko: Ja, das ist richtig. Ich meine, wir selbst in der Körber-Stiftung. Wir machen ja in zahlreichen Projekten, vor allen Dingen im Geschichts-Wettbewerb des Bundespräsidenten, seit Jahrzehnten arbeiten wir mit Jugendlichen und Zeitzeugen und Zeitzeuginnen. Und das ist natürlich immer wieder ganz offensichtlich, wie stark dieses direkte persönliche Gespräch gerade junge Menschen beeindruckt. Nichtsdestotrotz, was das Aussterben der Erlebnisgeneration angeht, dem können wir ja nicht entgegen treten. Es gibt Hilfsmittel, die jetzt auch mit Hilfe von virtueller Realität gewählt werden, oder noch vor zehn Jahren waren es die klassischen Videointerview. Ich glaube, um eine Erinnerungskultur lebendig zu halten hier in Deutschland, braucht es eben nicht nur diese virtuellen Welten, die wir uns jetzt erschließen können in der Arbeit mit Zeitzeugen, sondern es braucht auch eine Belebung oder eine Integration der Geschichten und Erinnerungen, die in einer ja zunehmend diverser werdenden deutschen Gesellschaft auch eine Rolle spielen. Auch das hört man ja in dem Hörspiel sehr schön. Also wir können die Erinnerungskultur nur dann lebendig halten, wenn wir unsere eigenen historischen Erfahrungen und die Erfahrungen in Deutschland anreichern oder bereichern mit den Geschichten und historischen Erfahrungen, die durch Menschen mitgebracht werden, die eine Migrationsgeschichte haben und die eben in diesem Land leben und auch Teil dieser Gesellschaft sind.
Anja Reinhardt: Wie konstituiert sich Erinnerung denn, also gerade, wenn wir jetzt auch darüber sprechen, wie heutige Fluchterfahrungen in die Erinnerungskultur einfließen können?
Gabriele Woidelko: Ja, das ist eine eine sehr schwierige Frage. Ich glaube, dass das, was es dringend braucht, dafür, das hatten wir ja im Verlauf des Gesprächs auch mit Blick auf Belarus schon mal thematisiert, es braucht diese Räume, es braucht Räume, wo diese Erinnerungen ihren Platz finden. Erst einmal braucht es Menschen, die zuhören und die ein Interesse für diese Erinnerungen haben. Und Menschen, die diese Erinnerung dokumentieren. Sei es diejenigen, seien es die Geflüchteten selbst, denen einfach mit Interesse gegenübergetreten wird und wo gefragt wird: Sag mal, warum bist du hier? Was bringst du mit? Was ist eigentlich deine Geschichte? So, und dann braucht es gemeinsame Räume. Ob das jetzt eine Begegnung ist, ob das ganz klassisch oder ob das Veröffentlichungen sind oder ob das Diskussionen sind, die auch mit und vor Publikum stattfinden. Es braucht eine aktive Auseinandersetzung, weil man Erinnerung eben nicht, das kann man nicht verordnen von oben. Das ist ja auch der Grund aus meiner Sicht, warum diese politisierte, staatlich gesteuerte Erinnerung, die wir in manchen mittel- und osteuropäischen Ländern jetzt beobachten können in den letzten Jahren und nicht nur dort übrigens, warum das nicht funktioniert, weil Erinnerung immer etwas ist, was von unten wächst, was auch ein bisschen anarchistisch ist. Und je mehr Raum wir geben und je weniger exklusiv wir sind mit Blick auf unser eigenes historisches Narrativ, desto eher wird es uns gelingen, eine wirklich lebendige Erinnerungskultur in diesem Land, in Deutschland zu gestalten.
Anja Reinhardt: Ich finde anarchistisch, das möchte ich kurz aufgreifen, Gabriele Woidelko, eigentlich ein ganz schönes Wort. Denn letztlich ist ja auch die Erfahrung, dass es nicht die eine Wahrheit in der Erinnerungskultur gibt,
Gabriele Woidelko: Absolut die eine Wahrheit in der Erinnerung. Also generell ist das mit der mit der Wahrheit, mit der historischen Wahrheit, unter allen Historikerinnen und Historikern eine sehr umstrittene Sache. Aber in der Erinnerung ist es nochmal viel komplizierter, weil Erinnerung immer subjektiv ist und weil Erinnerung auch vielen Einflüssen unterliegt. Das wissen wir aus der Arbeit mit Zeitzeugen. Je größer der Abstand wird zu dem historischen Ereignis, umso mehr beeinflussen andere äußere Faktoren die Erinnerung. Und deshalb ist auch in der Arbeit mit Zeitzeugen, das versuchen wir immer auch Jugendlichen zu vermitteln, das Interview, das Gespräch mit dem Zeitzeugen kann immer nur eine Komponente sein, weil der Zeitzeuge, die Zeitzeugin, sehr subjektiv über das berichtet, was er zu erleben geglaubt hat. Auch das wird, wie ich finde, in dem Hörspiel sehr schön deutlich, als die eine Protagonistin darüber spricht, dass ihre Erinnerung sehr stark mit Gefühlen, mit Gerüchen verbunden ist. Und das sind sehr subjektive Empfindungen, die sich ganz oft rationalen Kriterien entziehen und insofern ist Erinnerung immer vielfältig, sie ist immer kompliziert und sie muss vielstimmig sein und vielstimmig wahrgenommen werden, damit sie wirklich zu einer offenen und kritischen Debatte über Erinnerung in der Gesellschaft führen kann.
Anja Reinhardt: Oder ein anderer Satz, der mir im Gedächtnis geblieben ist: Der Krieg, wie ich ihn erinnere, in Bruchstücken. Und Jochen Langner, der Hörspielautor und Regisseur, hat von einem Mosaik gesprochen, das er da zusammen, nicht zusammenfügen will, sondern sozusagen gestalten will, zeigen will. Spielt die Kultur eigentlich bei der Erinnerungskultur eine große Rolle, gerade im Hinblick darauf, dass auch verschiedene Positionen, Perspektiven nebeneinander stehen können?
Gabriele Woidelko: Also ich glaube, die Kultur hat einen eine ganz große Bedeutung und eine überhaupt nicht zu unterschätzende Bedeutung in der Auseinandersetzung mit mit Vergangenheit, im Umgang mit Erinnerung. Weil genau das, was sie sagen, in der Kultur, dadurch, dass die Kultur gedankliche und kreative Freiräume bietet, um sich auf andere Art und Weise mit historischen Sachverhalten, mit historischen Ereignissen auseinanderzusetzen, durch diese Kreativität ist eben das möglich, was in - ich sag jetzt mal - einem strengen historischen Fachdiskurs nicht möglich ist, dass man eben verschiedene Dinge zueinander bringt, verschiedene Dinge auch ganz bewusst einmal gegenüberstellt und gar nicht unbedingt immer einordnet und sofort kommentiert, sondern alleine durch das Gegenüberstellen die verschiedenen Positionen mit und gegeneinander wirken lässt. Und das ist etwas, wo die Kultur einen unglaublich großen Beitrag leisten kann und auch leistet. Und das ist nicht von ungefähr, dass auf vielen Ebenen in der Arbeit mit jungen Leuten, mit jungen Erwachsenen. Aber überhaupt im Umgang mit traumatischer Vergangenheit ist es nicht von ungefähr, dass ganz oft künstlerische Formen gewählt werden. Einerseits um diejenigen, die betroffen sind, sozusagen, um es ihnen leichter zu machen, über ihre Traumatisierung überhaupt zu sprechen und andererseits auch, um viel mehr Vielfalt zu ermöglichen, als es sozusagen in einem strengen Umgang mit historischen Quellen möglich wäre.
Anja Reinhardt: Ja, und vielleicht ist in dem Zusammenhang auch nochmal interessant, dass vor allen Dingen die AfD in den Bundesländern, in denen sie an der Regierung beteiligt ist, die Theater angeht und auch gezielt zum Beispiel nachfragt, wie hoch der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund im Theater ist. Also da wird ja auch gezielt versucht, zu intervenieren, solche Geschichten eben zu etablieren. Geschichten, die von z.B. Flucht oder von anderen Erfahrungen berichten.
Gabriele Woidelko: Ja, das ist eine Tendenz, der wir unbedingt energisch widersprechen oder der wir uns unbedingt - wir als Gesellschaft - energisch widersetzen müssen aus meiner Sicht. Denn wir haben ja schon besprochen, wie wichtig diese vielfältigen Geschichten, wie wichtig diese diversen Geschichten für Deutschland heute in seiner gesellschaftlichen Verfasstheit sind. Wir sind ein Einwanderungsland, wir sind ein diverses Land, und wenn wir diese Gesellschaft zusammenhalten wollen und wenn wir dieser Vereinzelung und diese Abgrenzung, die wir ja tendenziell durchaus schon beobachten, wenn wir dieser Entwicklung Vorschub leisten wollen, dann müssen wir die Diversität nicht nur zulassen, wir müssen sie auch aushalten, die ist nämlich nicht immer bequem. Und wir müssen tatsächlich denjenigen, die versuchen, hier sozusagen eine eine nationalistisch, einer nationalistisch geprägte Leitkultur oder wie auch immer man das nennen will, auf aufzuoktroyieren. Denen müssen wir entgegentreten.
Anja Reinhardt: Das Hörspiel ist ja eigentlich auch ein Versuch zu zeigen, dass Identität und Erinnerung grundlegend zusammenhängen. Und auch Swetlana Alexijewitsch hat vor ein paar Jahren darauf hingewiesen, dass wir uns daran gewöhnen werden müssen, mit Geschichten von Herkunft und Anders-Sein uns auseinanderzusetzen.
Gabriele Woidelko: Ja, ich glaube, das ist ganz essentiell, dass wir wirklich dieses Bewusstsein darüber, wo wir herkommen und was unser Herkommen definiert, jede Einzelne, jeder Einzelne von uns, dass wir das im Blick behalten. Und im Hörspiel wird ja sehr schön deutlich, dass diese Frage der Herkunft oder Heimat, das ist ja auch ein sehr umkämpfter Begriff in letzter Zeit geworden, ein sehr politisierter Begriff, dass dieser Begriff von Heimat auch unfassbar vielfältig sein kann. Es geht gar nicht immer um einen Ort, sondern es geht oft um eben auch um Erinnerungen. Es geht oft um sinnliche Erfahrungen, also Gerüche. Geräusche, Dinge, die man assoziiert. Die Heimat ist eben nicht immer, wie es uns oft so von populistischer Seite oder auch nationalistischer Seite suggeriert wird, es hat nicht damit zu tun mit dem Nationalstaat und mit den Grenzen und mit Abgrenzung, sondern es hat ganz oft mit einer ganz unmittelbaren eigenen Lebenswelt und mit Gerüchen, Eindrücken, Erinnerungen zu tun. Ich fand es sehr schön in dem Hörspiel, die Stelle, wo der junge Mann aus Tunesien das Südkreuz mitbringt und anhand des Südkreuzes die Geschichte erzählt der Tuareg und ihre Orientierung in der Wüste. Also eine Geschichte, die ganz offensichtlich etwas mit ihm zu tun hat, die ihn an Tunesien, an sein Herkommen, an seine Familie, an sein Land erinnert. Und das zeigt, dass Heimat ortsungebunden ist und Zugehörigkeit auch. Und das gibt ja auf der anderen Seite auch Hoffnung, wenn ich das noch sagen darf, die Hoffnung könnte ja darin bestehen, dass diejenigen, die jetzt zu uns gekommen sind, in den letzten Jahrzehnten, gekommen, um zu bleiben. Dass es durchaus gelingen könnte, auch diesen Menschen hier das Gefühl zu geben, dass auch hier ihre Heimat sein kann.
Anja Reinhardt: Sie beschäftigen sich ja auch damit, das haben sie eben auch schon einmal erwähnt, in der Körber-Stiftung, wie man Erinnerungen aufrecht erhalten kann, zum Beispiel mit jungen Menschen eben auch. Wie gestaltet man das für gegenwärtige Ereignisse, von denen man annehmen kann, dass sie eine historische Bedeutung haben werden?
Gabriele Woidelko: Ja, ich denke, dass fürdie Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist es sehr, sehr wichtig, dass, wenn wir über Geschichte sprechen wollen und junge Leute dazu ermutigen, dass sie sich mit Geschichte beschäftigen, egal ob das jetzt die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist oder die Geschichte der Umweltbewegung in den 70er, 80er Jahren hier in Deutschland. Das ist für diese Generation heute ist das alles sehr weit weg. Ja, ich glaube, essentiell ist es, dass wir immer den Ausgangspunkt von der Lebenswelt der Jugendlichen her wählen, also die Fragen aus dem Heute heraus stellen. Also zum Beispiel könnte man, um es mal bei dem Zweiten Weltkrieg zu bleiben, eben genau mi jungen Leuten da ansetzen, dass man sagt, okay, wir, wir nehmen uns jetzt tatsächlich einmal die Geschichte eines Geflüchteten, der 2015 oder wann auch immer hier nach Deutschland gekommen ist. Und wir fragen erst einmal nach seinen Erfahrungen, vielleicht jemanden, der in der Klasse, in der Schulklasse mit dabei ist, jemand von der Schule, also jemand aus der unmittelbaren Lebenswelt und den einfach mal zu fragen nach seinen Erfahrungen. Wie ist es dir ergangen? Was ist deine Geschichte? Und von da aus zu starten und dann zu sagen: Okay, welche historischen Bezüge gibt es, was ist eventuell vergleichbar? Vergleichbar ist immer eine schwierige Kategorie in der Geschichte. Aber was ist, wo gibt es ähnliche Muster? Und dann von dort aus die historische Spurensuche zu starten und dann am Ende noch zu fragen: Und wie hilft uns das, was wir herausgefunden haben, dabei, jetzt in unserem unmittelbaren Umfeld, in der Schule, im Stadtteil anzusetzen und vielleicht auch Dinge zu verändern?
Anja Reinhardt: Sagt Gabriele Woidelko, Historikerin und Slawistin, in diesem Hörspielmagazin Extra zur Erinnerungskultur mit Blick auf Belarus und Russland. Das Hörspiel von Jochen Langner, "Ein paar Dutzend Worte", finden Sie übrigens auch in der DLF Audiothek, am Mikrofon dieser Ausgabe des Hörspielmagazin Extra verabschiedet sich Anja Reinhardt.