Hörspiel über Verluste und Leerstellen im Leben

Hafen

In Elsies Straße tut sich ein Loch auf. Auf dem Grund: ein leeres Auto.
In Elsies Straße tut sich ein Loch auf. Auf dem Grund: ein leeres Auto. © picture alliance / dpa
Von Mishka Lavigne  · 20.12.2020
Elsies Mutter, eine Autorin, ist gestorben. In Elsies Straße tut sich ein Loch auf. Auf dem Grund: ein leeres Auto. Darin findet der Ingenieur Matt das Buch "Hafen", geschrieben von Elsies Mutter.
Drei Ereignisse zur selben Zeit: Elsies Mutter, die berühmte Schriftstellerin Gabrielle Sauriol, verunglückt tödlich bei einem Autounfall. Matt, der auf den Spuren seiner Vergangenheit in Sarajevo war, kehrt zurück nach Ottawa: in eine einsame Wohnung. Außerdem hat sich ein riesiges Loch aufgetan, in der Straße, in der Elsie wohnt. Auf seinem Grund: ein leeres Auto. Der Ingenieur, der die Reparaturarbeiten der Straße leitet, ist Matt. Im abgestürzten Auto findet er ein Buch: "Hafen" von Gabrielle Sauriol.
Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste hat "Hafen" zum Hörspiel des Monats März 2019 gewählt.
Die Begründung der Jury:
Das Hörspiel "Hafen" von Mishka Lavigne (SR/Deutschlandfunk Kultur, Regie: Anouschka Trocker), ins Deutsche übersetzt aus dem kanadischen Französisch von Frank Weigand, schildert in ironisch-lakonischer Sprache einen dramatischen Bewältigungs- und Selbstfindungsprozess zweier Protagonisten: Elsies Versuch, den tödlichen Autounfall ihrer berühmten (Schriftsteller-) Mutter zu bewältigen, und Matts Streben danach, sich seiner Herkunft aus Bosnien zu vergewissern. Die perfekt ineinander verschränkten Parallelgeschichten (vor allem das scheinbar zufällige Aufeinandertreffen von Matt und Elsie) mit Sarajevo als Referenzpunkt bzw. Motiv erzählen von unbewältigten Verlusterfahrungen und der tastenden Suche nach einer Zukunftsperspektive.
Metaphorisch geschickt inszeniert die Autorin diesen Prozess über das surreale Mittel eines Kraters, der sich unvermittelt in Elsies Straße aufgetan hat. Das intelligent konstruierte Hörspiel überzeugt durch eine Sprache, die bei aller Dramatik stets unprätentiös-realitätsnah bleibt und deren Inszenierung oft mit Gegenschnittvarianten arbeitet: figurales Ich, Dialoge, Off-Kommentare, Spiel mit Hintergrundgeräuschen zur Verdopplung, harte Gegenschnitte zur Verstärkung von Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die musikalischen Interpunktionen von Bo Wiget beeindrucken einerseits durch ihre idiomatische Selbstständigkeit und unterstützen anderseits die Erzählhandlung in markanter Weise. Die herausragende schauspielerische Qualität der beiden Sprecher hebt zudem dieses Hörspiel auf ein außerordentlich hohes Niveau.

Hafen
Hörspiel von Mishka Lavigne
Übersetzung: Frank Weigand
Regie: Anouschka Trocker
Mit: Tanja Schleiff und Nico Holonics
Musik: Bo Wiget
Ton: Burkhard Pitzer-Landeck
Produktion: SR/Dlf Kultur 2018
Länge: 85’57
Eine Wiederholung vom 07.04.2019

Mishka Lavigne hat Theaterwissenschaft und szenisches Schreiben studiert. Sie lebt in Ottawa-Gatineau (Kanada), schreibt Theaterstücke und übersetzt. Eigene Stücke u.a.: "Cinéma" (2015) und "Vigile" (2017). Mit "Albumen" hat sie außerdem ein erstes Stück auf Englisch geschrieben. "Havre’/’Hafen" wurde im Auftrag des SR ins Deutsche übersetzt und vom Centre des auteurs dramatiques CEAD und dem Conseil des arts et des lettres du Québec CALQ gefördert. Uraufführung als Live-Hörspiel beim Festival Primeurs 2018. "Hafen" ist ein Stück über Freundschaft.