Hörspiel in Japan

Wie ein Kirschbaum sein

15:34 Minuten
Kirschblüten in Hiroshima: Die Kirschblüten, oder "Sakura", wie sie genannt werden, haben in Japan eine große kulturelle Bedeutung. Sie stehen für den Neubeginn und das Vergängliche. Jedes Jahr zur Kirschblüte versammelt man sich unter dem Baum zum Hanami, eine Art Picknick mit Freunden, Familie oder Kollegen.
Kirschblüten in Hiroshima, Japan © picture alliance / zb
Von Julia Shimura · 28.07.2020
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Fast wäre das Radio aus Japan verschwunden - die App "Rajiko" hat dem Hörfunkgenre aber im letzten Moment noch einmal neues Leben eingehaucht. Und damit einer Hörspielszene, die zugänglich, storygetrieben und traditioneller Hörspielästhetik verpflichtet ist.
Ein neues Jahrzehnt ist angebrochen. In den 20er-Jahren des neuen Jahrtausends treibt ein Trend die japanische Hörspielwelt genauso um wie die deutsche: die Digitalisierung. Ein Unterschied ist jedoch: Wer digital und unterwegs Radio hören will, tut das im Inselstaat meist über die eine App, es gibt keine vergleichbare: Rajiko.
"Eigentlich war das Radio schon tot. Aber mit der Mediathek, die 2016 bei Rajiko, eingeführt wurde, fingen immer mehr Leute an, wieder Radio zu hören. Auch zum Beispiel Teenager."

Das sagt der Radiojournalist Yakisoba Kaoru, der regelmäßig über das Radiogeschehen in Japan berichtet. Die Mediathek ist übrigens kostenpflichtig, umgerechnet etwa 3 Euro im Monat. Rajiko wurde 2010 gegründet, inzwischen kann man dort fast alle Sender finden, private wie öffentliche-rechtliche. "Öffentlich-rechtlich" heißt in Japan: NHK. Anders als in Deutschland gibt es nur einen Sender, der gleichzeitig auch ein Fernseh- und Radioprogramm hat.
Auf hohem Niveau konventionell
Fragt man in Japan nach Hörspiel, bekommt man wie selbstverständlich NHK zur Antwort. Man findet dort professionelle Hörspiele mit oft berühmter Besetzung. Es gibt insgesamt drei Formate für verschiedene Altersgruppen. Das sind: Ein Format für junge Zuhörer, die "Jugend-Adventures", das Format für ältere Zuhörer, "Die neue Bühne am Sonntag für Meisterwerke", und dann das "FM-Theater", das für alle dazwischen ist.
Ich stelle exemplarisch ein Stück aus dem FM-Theater vor: Vor Kurzem erst hat NHK den japanischen Longseller "Konbini ningen" (in der deutschen Übersetzung "Die Ladenhüterin") von Sayaka Murata adaptiert. Es geht um die nicht empathiefähige soziale Außenseiterin Keiko, Mitte Dreißig, die ihr Heil darin findet, die übergenauen Regeln der japanischen 24-Stunden-Kioske zu den Regeln ihres Lebens zu erheben. Alles was normal ist, findet sie erstrebenswert. Und jedes Mal, wenn sie etwas "Normales" tut, ist es natürlich alles andere als "normal".
Die Inszenierung ist heiter und unbeschwert. Die Verve im Stück entsteht sicher auch durch die Stimme der Hauptfigur Keiko, die von Kuriyama Chiaki gesprochen wird - einige dürften sie aus "Kill Bill: Volume 1" oder "Battle Royale" kennen.

Trotzdem muss man sagen: Auf hohem Niveau produziert, aber ein wenig konventionell. Japan hat eine lange Tradition an wirklich hervorragenden Hörspielen, angefangen bei Terayama Shuji und Uchimura Naoya, die alles andere als konventionell sind - also warum finde ich nicht mehr Spielerisches und Experimentelles?
Viele Jobs gleichzeitig sind normal
Um das zu erfragen, habe ich mit einem der Radio-Regisseure bei NHK gechattet, Okubo Atsushi. Er unterstreicht im Gespräch mehrmals, dass den Hörspielmachern bei NHK vor allem die Themenwahl wichtig ist. Als öffentlich-rechtlicher Sender könne die Redaktion Themen aufgreifen, die sonst marginalisiert würden, zum Beispiel LGBTIQ+-Themen, alles um Katastrophen und Stigma, oder Geschichten über eine Fehlgeburt. Also Geschichten, die sonst nicht erzählt werden und damit unterrepräsentiert blieben. Kurz gesagt: Es geht ihnen also vornehmlich um das "was". Aber ist das genug?

Was ich jedenfalls überraschend fand, war, wie die Hörspiele produziert werden. Von außerhalb der NHK-Redaktion kommt meistens nur das Drehbuch - egal bei welchem Format. Regisseure und Produzenten hingegen kommen gleichermaßen aus einem Pool von Festangestellten bei NHK, die abwechselnd mal Radiohörspiele und dann wieder Fernsehserien machen.
Herr Okubo meinte, das sei eine Entwicklung der letzten Jahre. Und nicht nur das: Für ihn ist es normal, dass man im Medienbereich sehr viele verschiedene Jobs macht. Okubo Atsushi selbst ist bei NHK nicht nur Radioregisseur, sondern beim Fernsehen auch Koordinator, Castingchef und auch mal Produzent.
Experimentelle Ästhetiken werden eher belächelt
Etwas Ähnliches schilderte mir Mareike Maage, Hörspielredakteurin beim rbb, im Gespräch. Vor 14 Jahren war sie zusammen mit dem freien Radio-Regisseur Kai Grehn für die Hörspielproduktion "Das Leben eines Narren" in Kooperation von NDR und NHK nach Tokyo gereist und hatte dort Eindrücke von der japanischen Machart sammeln können.

"Ich bin nach Japan gegangen und hatte mich früher schon viel mit Hörspiel beschäftigt, also kannte irgendwie auch die aktuellen Produktionen, was damals in Bayern gemacht wurde, die Ammer-und-Einheit-Sachen, Ulrike Haage, und all diese Geschichten, Rene Pollesch und Rimini Protokoll und Paul Plamper. Das war ja alles in Deutschland gerade zu dieser Zeit, das war ja alles passiert. Ich war dementsprechend auch sehr interessiert an diesen Bewegungen in Japan und als ich dann mit den Redaktionsmitgliedern darüber sprach, da sagten sie, ach, das hätten die alle schon hinter sich. Sie wären jetzt eher zu traditionellen Formen zurückgekehrt. Die hatten das eher so ein wenig belächelt und abgetan, als ich vielleicht erst umgekehrt deren traditionelle oder 'schlichtere' Herangehensweise."

Als ich Okubo Atsushi nach Medienkunst frage, tut er das tatsächlich ein wenig ab: Sie spiele eher keine Rolle, denn es würden sich schlicht nicht genügend Hörer dafür finden. Nur Geschichten mit einer guten Storyline seien für die NHK-Redaktion interessant. Vielleicht eifert hier NHK eher amerikanischen Vorbildern nach? Die Produktion in Zusammenarbeit mit Kai Grehn fällt jedenfalls ziemlich aus dem Rahmen hinsichtlich des sonstigen Programms bei NHK.
"Künstlerisch kann man das nicht nennen"
Was hören also die Menschen in Japan, wenn sie Hörspiel hören? Kann man eine allgemeine Verschiebung zu eher unterhaltenden Formen feststellen? Diese Vermutung bestätigt mir der renommierte Hörspiel-Drehbuchautor Kitasaka Masato, der etliche Preise für seine Drehbücher erhielt und in so vielen Produktionen mitwirkte, dass man sie kaum zählen kann.

"Die Verbreitung von Smartphones und Internet hat eher Formen des Entertainments befeuert als solche Hörspiele, wie ich sie gerne schreiben würde. Es geht um Stücke, die man überall hören kann, da bleiben die Geschichten und Charaktere eher eindimensional. Künstlerisch kann man das zwar nicht nennen, aber man kann sich entspannen und auch einmal ein wenig lachen. Das sind die Trends gerade in Japan."


Kitasaka muss die Trends kennen. Sein Portfolio ist in der Tat sehr bunt und er hat sich fast so etwas wie ein Autorenmonopol in Japan erarbeitet. Er hat zum Beispiel neben anspruchsvolleren Produktionen mit NHK auch mit den japanischen Popikonen AKB48 zusammengearbeitet, ein Girl-Group-Franchise mit derzeit 360 Mitgliedern allein in Japan.
Mitglieder der japanischen Girlgroup AKB48 treten während des Asia Festivals in Shanghai auf.
© picture alliance / dpa / Ye Liangjun
Die wechselnden Mädchen sind in Teams eingeteilt und gehören zu den erfolgreichsten Bands in Japan überhaupt, die auch schon in andere Länder exportiert wurden. Aus einigen ihrer Musikvideos wurden in einem Crossover-Projekt längere Hörspiele produziert, die die Bandmitglieder als Sprecherinnen begleiteten. Seit 2011 bis März letzten Jahres lief die Serie regelmäßig auf NHK.
Hörbeispiel
"Wie ein Kirschbaum sein" ist eine Allegorie dafür, den Verlust eines geliebten Menschen ertragen zu können. In der Trauer soll man seine Tränen vergießen wie ein Kirschbaum seine Blüten verliert, bevor der Frühling kommt. Alle Stücke der Mädchengruppe sind sehr emotional und richten sich - wie die meisten wahrscheinlich schon vermuten - an Teenager.
"Office Ladies" und "Salarymen"
Zurück zu Herrn Kitasaka. Zu seinem umfangreichen Portfolio zählt auch eine erfolgreiche Reihe mit Liebesgeschichten für sogenannte "Office Ladies" (so nennt man in Japan weibliche Büroangestellte). Die Hörspielserie ist so konzipiert, dass man sich diese abends im Bad anhören kann. Das abendliche Bad gehört zu den vielen Ritualen für Japaner*innen.
Kitasaka Masato war auch Chefautor bei einem der erfolgreichsten Radio-Hörspiele in Japan überhaupt - die Hörspielreihe "Nissan's 'Ah, Abe Reiji - Beyond the Average'". Die Serie war 2006 zu ihrem Start ein totaler Überraschungserfolg, niemand hatte beim totgesagten Hörspiel damit gerechnet.
Die Hauptfigur Abe Reiji, ein sogenannter "Salaryman" (so nennt man männliche Büroangestellte in Japan) ist ein Durchschnittsmann ohne große Ambitionen oder Neugier. Sein Name klingt auf japanisch wie "Average".
Ein Hörspiel, das Stadien füllt
Der profillose Durchschnittsmann ist natürlich so etwas wie eine Projektionsfläche, durch die man humorvoll gesellschaftliche Umbrüche und neue Trends in Japan vermittelt bekommt. Dass auch viel Werbung darin vorkommt, scheint den Hörern der sehr erfolgreichen und von dem Autohersteller Nissan gesponserten Hörspielserie ziemlich egal zu sein.
Es gibt Veranstaltungen, bei denen Fans die Geschichten des Abe Reiji gemeinsam hören, zuletzt waren unglaubliche 20.000 Menschen auf einem solchen Treffen, zeitweise hat Abe Reiji auch mal die größten Stadien in Tokyo gefüllt. Zum Vergleich: Die erfolgreichste Hörspiel-Serie in Deutschland, "Die drei Fragezeichen", schaffte es in Wuppertal auf 1.000 Besucher. Hören wir kurz rein, wie Abe Reiji sich im Homeoffice schlägt:
Hörbeispiel
Als mediales Crossover-Hörspiel vernetzt sich Abe Reiji jüngst zunehmend mit der Offline-Welt: Läden aus dem Abe-Reji-Universum sind echten Geschäften aus dem Stadtteil Jimbocho in Tokyo nachempfunden, es werden echte Geschäfte genannt, in denen man Süßigkeiten oder andere Leckereien kaufen kann. Das ist nicht ungewöhnlich für Varieté-Formate in Japan. Fans, meist in ihren Dreißigern, auf den Spuren von Abe Reiji, finden sich in Cafés, Restaurant oder ähnlichem ein, um ihren Antihelden zu feiern.

Dazu kommen zum Hörspiel noch populäre Gäste aus allen Kulturbereichen, vor allem Comedians, Schauspieler und Musiker, die die Beliebtheit noch mal kräftig befördern. Hörspiele in Japan leben oft nicht nur von den Geschichten, sondern auch von Prominenten.
"Diese Menschen wünschten sich eine Sprache"
Das Hörspiel, das ich als letztes vorstellen möchte, ist zwar eines ohne ein prominentes Gesicht, aber eines das ich sehr gelungen fand: "Das Flüstern des Feuerzeugs: 5 Jahre Kahoku Zeitung". Es ist eine Kooperation zwischen FM Tokyo und dem lokalen Sender FM Sendai und spielt in der Präfektur Miyagi, Nachbarpräfektur von Fukushima. Natürlich hat es Kitasaka Masato geschrieben.


Das Stück hatte von Leuten aus dem Katastrophengebiet viel positive Resonanz erhalten. 2012, also ein Jahr nach der Katastrophe, wurden 15.000 Menschen vermisst. Für viele Menschen entstand durch das Hörspiel eine Form der Verarbeitung. Es gab Feedback von Hörern, die meinten, dass sie durch das Hörspiel endlich den Verlust der Vermissten akzeptieren konnten. Kitasaka Masato:

"Es war 2016. Fünf Jahre lange wusste ich wirklich nicht, wie ich (über die Katastrophe) schreiben könnte, wie Fiktion überhaupt möglich war, weil die Realität so furchtbar und groß war. Ich fragte mich, warum überhaupt Fiktion? Aber als ich die Leute interviewte, bemerkte ich, wie sehr diese Menschen sich eine Sprache wünschen. Aber sie selbst waren nicht dazu imstande, sie zu finden. Und da wurde mir klar, dass das Fiktion leisten kann und ich konnte anfangen zu schreiben. Das Ergebnis war 'Das Flüstern des Feuerzeugs'."
Eine Frau betet und legt Blumen nieder an der Stelle an der ihr Haus stand, das durch den Tsunami, der auch das nahegelegene Kernkraftwerk Fukushima beschädigt hat, zerstört wurde. 
© dpa / picture alliance / Koichi Kamoshida
Fukushima ist noch lange nicht verheilt
Viele dachten immer noch im Stillen und meist auch unbewusst, dass Vermisste einfach wieder zurückkämen, als wäre nichts geschehen. Es gibt Berichte darüber, dass Hinterbliebene im Katastrophengebiet den Verlust eines Vermissten erst dann akzeptieren können, wenn sie ihnen noch einmal begegnen können - auf die eine oder andere Weise. Oft zum Beispiel in Träumen - oder manchmal auch als Geist. Und das konnte das Hörspiel "Das flüsternde Feuerzeuge" leisten.
In dem Hörspiel taucht eine rätselhafte Frau auf, die dem Protagonisten ein Feuerzeug gibt, das er lange vermisst hatte. Die Frau deutet an, dass sie ein Geheimnis hat. Es stellt sich heraus, dass sie ein Geist ist. Und sie hat eine Bitte, die sie an die Hauptfigur richten möchte. In diesem Ausschnitt hört man, wie die Stimme des Protagonisten zur Stimme des Geistes wird.
Hörbeispiel
"Das Flüstern des Feuerzeugs" steigert sich in eine aufgeladene Abschlussszene, in der man die Katastrophe akustisch wiedererlebt. Die Katharsis des Stückes liegt vor allem in den nachdrücklichen Abschiedsworten des Geistes. Diese mögen es gewesen sein, die die Hinterbliebenen hören wollten, Worte, die sie nicht aussprechen konnten und die ihnen durch das Hörspiel abgenommen wurden.




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