Hörspiel "Im Sommer geht man raus, sagt Mutter"

Eine Freundschaft auf Kassetten gesprochen

04:38 Minuten
Eine junge Frau im Sommer steht an einem See und raucht.
Im Hörspiel "Im Sommer geht man raus, sagt Mutter" bekommt Bettina von ihrer Freundin Anne Nachrichten auf Kassette. © Unsplash / Nima Sarabi
Von Andy Hörmann · 24.06.2019
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Heimliche Zigaretten, Plattenbautristesse, Partys – in einem atmosphärischen Coming-of-Age-Hörspiel, das nach Sommerhitze klingt, erzählt Sabine Salzmann von zwei Freundinnen und einem Sommer im Brandenburg der Nachwendejahre.
"Stell Dir mal vor: In zehn oder zwanzig Jahren findet jemand unsere Kassetten, und wir werden so berühmt wie seinerzeit der Scheiß-Werther mit seinen Briefen."
Gut 200 Jahre nach Goethes Werther bespricht Anne für ihre beste Freundin Bettina Audio-Kassetten. Verpackt in einen Kuvert verschickt sie diese mit der Post.
Sommerferien, Anfang der 1990er-Jahre, kurz nach der Wende in der brandenburgischen Provinz. Zwei Schulfreundinnen im Teenageralter. Anne wohnt mit ihrer Mutter im Plattenbau einer Kleinstadt, Bettina ist mit ihren Eltern ins Eigenheim aufs Dorf gezogen, wo Anne sie immer wieder besucht.
Gemeinsam streifen sie durch die triste Landschaft, tauschen jugendliche Befindlichkeiten aus und rauchen heimlich in den Ruinen russischer Kasernen.
"Die Typen aus der Elften haben mal wieder so einen Affen gemacht am Sprungturm. Und die Tussen haben Volleyball gespielt und die ganze Zeit darauf gewartet, dass sie schön viel Aufmerksamkeit bekommen."

Nachwendesommer in der Provinz

Die Langeweile ereignisloser Sommerferien. Es ist schwül-heiß. Ein Sommer wie immer eigentlich. Doch der Mauerfall lässt gewohnte Strukturen bröckeln. Nichts scheint, wie es war. Und doch ist alles bekannt. Und: Fremdenfeindlichkeit und Neonazis werden plötzlich Thema.
"Ey, Zecke! Was erwartet Dich zuhause?"
"Macht Deine Mutter wenigstens beim Scheißen noch die Klotür zu, oder ist sie selbst dafür zu faul?"
"Im Sommer geht man raus, sagt Mutter" ist ein einstündiges Hörspiel der Dramaturgin Sabine Salzmann – filmisch inszeniert als eindringlich akustische Nahaufnahme an Originalschauplätzen. Als roter Faden dient das Kassetten-Tape.
"Also los! Ich hänge schon den ganzen Abend am Ghettoblaster. Was für eine geile Erfindung!"

Eine Freundschaft bröckelt

Im Grunde wird hier vom Heranwachsen zweier Jugendlicher mit verschiedenen Befindlichkeiten erzählt, eine typische Coming-of-Age-Geschichte. Da ist die ängstliche Anne, die offensichtlich psychische Probleme hat — passend von der 2001 geborenen Schauspielerin Antonie Lawrence zurückhaltend gesprochen.
Während die abenteuerlustige Bettina, der Nell Sophia Korthals ihre selbstbewusste Stimme leiht, mehr Aufmerksamkeit und enge Freundschaft sucht. Als eine Party eskaliert, beginnt die Freundschaft der beiden Mädchen zu bröckeln:
"Ach, geh doch tanzen."
"Hey, bist Du sauer oder so?"
"Glaubst Du eigentlich alles, was man so rumerzählt?"
Als Anne dann auch noch überraschend mit ihren Eltern in den Urlaub fährt, bleibt Bettina allein zurück. Und obwohl sie weiterhin Tapes für ihre Freundin bespricht, erlebt sie fortan eigene Abenteuer.
"Ey, in ein paar Tagen bist Du also wieder da. Die Ferien sind fast rum, und es ist doch noch ein richtig schöner Sommer für mich geworden."

Sehr hörenswert

Am Ende wechselt Anne die Schule und Bettina hat eine neue, beste Freundin.
"Für mich war's das."
"Dann lege ich jetzt auf."
Sinnbildlich toll umgesetzt: Das Ende der Freundschaft kommunizieren sie nicht mehr über Kassette, sondern über das Festnetz: Die Technik schreitet fort, das Leben geht weiter.
Und da sind noch die Atmo-Aufnahmen: Scheinbar willkürlich aneinander geschnitten erzählen sie mehr, als Worte sagen können. So klingt die Tristesse des Teenagerdaseins, die Entfremdung und Vereinzelung. Ein sehr hörenswertes Hörspiel!

Sabine Salzmann: "Im Sommer geht man raus, sagt Mutter"
Lauscherlounge, 2019. 1 CD, 60 Minuten, 12 Euro. Download 9 Euro

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