Hörspiel - Grenzenlos begehren

Heterotopia

Eine Hand greift in die Haut eines anderen Menschen.
Eine Hand greift in die Haut eines anderen Menschen. © EyeEm / Photo by Stefano DV
Von Luise Voigt  · 11.03.2019
Wider die Normierungen von Sinnlichkeit und Geschlechterrollen: Fünf Menschen berichten über die Suche nach ihrer sexuellen Identität jenseits von gesellschaftlichen Vorstellungen.
Fünf Menschen leben die Utopie eines sexuell befreiten und von Geschlechterrollen losgelösten Miteinanders. Sie sehen und begehren mit ganz eigenen Augen, unabhängig von gesellschaftlicher Konvention.
Fünf Individuen, fünf Perspektiven. Wir begleiten sie und erfahren, wohin sie ihr Begehren lenkt und über welche Stationen sie die Suche nach ihrer sexuellen Identität geführt hat.

"In 'Heterotopia' spricht eine junge Frau, sie fantasiert von einer älteren Frau, der sie einmal in der U-Bahn begegnet ist, sie will Sex mit dieser Frau, ihre Hände sollen fleckig und geadert sein und sie soll Stümpfe und Spitzenunterwäsche tragen.
Von der älteren Frau will sie gezeigt bekommen, wie sie deren Vulva berühren soll. Die junge Frau hat müffelnde Sneakers und wird von der älteren Frau, ihrer Lehrerin, dafür gerügt, so stellt sie sich das vor.
Die ältere Frau wiederum glaubt, dass sie im Stadtbild längst untergegangen ist, niemand nimmt sie mehr als erotisches Wesen war. Sie selbst ist Domina und hat ihre große Liebe verlassen, weil ihre Psychotherapeutin in den Achtzigern dachte, da ist Gewalt in der Beziehung und da muss sie raus. Die schönste Beziehung ihres Lebens.
Ein Mann in der Mitte seines Lebens geht durch die Stadt, affiziert von androgynen Wesen beiderlei Geschlechts, steht an der Ampel, sieht von weitem ein Gegenüber und beide nehmen sich wahr - als Körper, oder als Objekt.
Außer Frage, dass ein anales sexuelles Erleben für den Mann möglich ist, könnte das nicht jedem männlichen Individuum als Erfahrung offen stehen, wenn es nicht so endlos schambehaftet wäre? Nicht dass man es müsste, aber könnte.
Eine ältere Frau trifft sich mit einem muslimisch verheirateten Mann in den Bombentrichtern des Grunewalds, vom Wanderweg aus nicht einsichtig. Dort spielen sie mit dem "afrikanischen Zauberstab", einmal hat er gesagt, er will ihr "die Seele rausficken", das kann sie "schon gar nicht haben".
Ein Sexarbeiter spielt in einem SM-Chat mit den Fantasien und Bedürfnissen seiner Kunden, die glauben, es handle sich um eine reale Person weiblichen Geschlechts. Er schiebt seine Schichten, weiß, wann er was schreiben muss, um sie zum Höhepunkt zu bringen. Währenddessen sitzt er mit seinem PC in der WG-Küche und quatscht mit Freunden.
Allesamt bewegen sie sich zwischen den Geschlechtern, sowohl was ihr Begehren als auch die eigene Geschlechtlichkeit angeht. Sie sind nicht leicht einzuordnen in gender-diskursive Begriffe, noch durch irgendwelche Fetischkategorien direkt zu erfassen.
Gerade darin liegt eine große Kraft, weil es nicht um Verengung und Festschreiben geht, sondern die große Fülle eines spielerischen, lustvollen Umgangs mit Welt offenbart. Dabei geht es weniger um die Individuen an sich, trotz der Tatsache, dass sie Intimes schildern. Es geht darum, was sie alle eint, zum Beispiel die Art und Weise, wie sie über ihr Begehren sprechen, nämlich mit der großen Selbstverständlichkeit, die ihnen zusteht."
(Luise Voigt)

Ursendung
Heterotopia
Hörspiel von Luise Voigt
Regie: die Autorin
Mit: Maria Hartmann, Fabian Kulp, Pirmin Sedlmeir, Anjorka Strechel, Oda Zuschneid
Komposition: Friederike Bernhardt
Ton: Andreas Stoffels
Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2018
Länge: 54‘37

Luise Voigt, geboren 1985, Regisseurin, Autorin, Medienkünstlerin. Studium der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen. Sie inszeniert in der freien Theaterszene, an staatlichen Bühnen und realisiert Hörspiele. 2005 Weimarer Hörspielpreis für ihr Erstlingswerk "Weltall-Erde-Mensch", entstanden im Rahmen eines Hörspielseminars bei Heiner Goebbels im ersten Studienjahr. 2009 Stipendiatin an der Akademie der Künste Berlin in der Sektion Film- und Medienkunst. Hörspiele u.a. "Ausbrennen - Songs von der Selbstverwertung oder Melodien für den Feierabend" (SWR 2013), "The Black Hole Radio" (SWR, Hörspiel des Monats Juni 2015). Zuletzt: "Holzschnitzer – wo ist denn die Sonne direkt über uns?" (Deutschlandradio Kultur 2016). Luise Voigt lebt in Berlin.

Essay von "Heterotopia"-Autorin Luise Voigt über ihr radio-künstlerisches Konzept und einen fragwürdigen Identitätsbegriff:
Hörspiel "Heterotopia" - Wie verborgene Gedanken hörbar werden
(Deutschlandfunk Kultur, Hörspielmagazin, 05.03.2019)