Hörspiel

Die apokalyptische Glühbirne

Zeichnung eines Mannes, der eine mit Glühbirnen besetzte Jacke trägt.
Zeichnung zu "Die apokalyptische Glühbirne" © BR / Frank Witzel
Hörspiel von Frank Witzel · 09.06.2018
Frank Witzel beherrscht ein einzigartiges Verfahren, um unserer leicht flüchtigen Realität Herr zu werden: er ver-rückt sie in seinem Hör- und Sehspiel "Die apokalyptische Glühbirne" im geradezu wörtlichen Sinne.
Im Zentrum seiner Geschichte steht die schriftliche Hinterlassenschaft des seit seinem neunten Lebensjahr in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen weggesperrten Christoph Wendel. Von ihrer Mutter beauftragt, soll seine Großnichte Bettina die persönliche Habe des Verstorbenen aufräumen und stößt dabei auf ein dunkles Kapitel Familien- und Gesellschaftsgeschichte.
Gegen das systematische Schweigen seiner Umwelt hat ihr Großonkel mit vermeintlich ver-rückten Briefen angeschrieben - sein verzweifelter Versuch ein für ihn tief traumatisches Erlebnis während der Nazizeit zu bewältigen.
Frank Witzel schafft mit dieser Setzung eine doppelte Leerstelle - durch Christoph Wendel, der ver-rückte Schlaufen um sein Trauma legt und durch das Totschweigen der Familie -, die wir automatisch mit unseren eigenen Erfahrungen anfüllen. Erfahrungen mit Familienbiografien, über die ebenso dröhnend geschwiegen wurde und wird und die dann doch irgendwann wie wuchernde Schwären aufbrechen und unsere sozialen Gefüge erschüttern. Dieses große deutsche Thema packt Frank Witzel jenseits aller schulbuchmäßigen Didaktik mit den Mitteln des Absurden und der Groteske ohne es jedoch zu banalisieren oder gar zu bagatellisieren. Durch die Erweiterung seines Textes mit einem Zyklus ergänzender Zeichnungen und einer eigens dazu komponierten Musik breitet sich vor uns der dissoziierte Gedankenkosmos der Hauptfigur aus, eine vielfältige Einladung zur Selbstreflektion. Frank Witzel schafft mit seinem Verfahren Anknüpfungspunkte für unsere medialen und persönlichen Vorerfahrungen, denn die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage beginnt ja zum Glück nicht erst heute. Dennoch müssen wir uns gewahr sein, dass sie eben auch noch lange nicht abgeschlossen ist und zu den Akten gelegt werden kann. Für Christoph Wendel spendet die titelgebende Glühbirne als einzige Quelle Licht, Wärme und Hoffnung, gleichzeitig bedeutet das sprichwörtliche "Licht, das mit ihr aufgeht" aber auch das Ende jeglicher Unschuld. Keiner kann nachher mehr sagen, er habe nichts gewusst. Diese Aufklärung ist aber kein neues Trauma, im Gegenteil, es ist der erste und notwendige Schritt zur Bewältigung. Im Mikrokosmos der Familie genauso, wie für uns als geschichtlich schuldbelastete Nachgeborene.
Komponist: Frank Witzel
Regie: Leonhard Koppelmann
Mit Peter Brombacher, Gaby Dohm, Thomas Hauser, Julia Riedler, Michael Tregor, Sophie von Kessel, Irina Wanka, Anton Winstel

Produktion: BR 2017
Länge: 53'45