Hörspiel des Monats

Güldens Schwester

Björn Bicker mit Mikro in der Hand.
Der Autor, Dramaturg und Projektentwickler Björn Bicker © dpa / Maja Hitij
Von Björn Bicker · 03.10.2020
Lehrerin Fatma wird Zeugin eines schrecklichen Verbrechens. Auf dem Schulhof tötet ein Junge seinen Mitschüler mit einem Messer. Von einem Moment auf den nächsten ist für Fatma nichts mehr wie zuvor. Sie fragt sich, warum sie Lehrerin geworden ist und was das mit der Einwanderungsgeschichte ihrer Familie zu tun hat, mit ihrer Mutter.
Die Begründung der Jury der Akademie der Darstellenden Künste:

„Güldens Schwester“, das ist Fatma Inan. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin des gleichnamigen Hörspiels von Björn Bicker ist Lehrerin. An ihrer Schule wird sie zur Zeugin, wie ein Junge seinen Mitschüler mit einem Messer tötet.
Dieses traumatische Erlebnis bildet den Katalysator für Fatmas inneren Monolog, der - herausragend gesprochen von Meriam Abbas - das Zentrum des Hörstücks bildet. Fatmas Nachdenken über das Attentat ihres Schülers wird zur Reflexion über ihr Selbstverständnis als Lehrerin und ihre eigene migrantisch geprägte Biografie.
Eine große Rolle nimmt hierbei die Trauer über den viele Jahre zurückliegenden, in der Familie nie wirklich aufgearbeiteten, Unfalltod ihrer Schwester Gülden und die Erinnerung an ihre Mutter ein. „Diese Frau, die meine Mutter war, die ist 1978, als sie 20 Jahre alt war, vom Schwarzen Meer nach Deutschland gekommen, weil sie hier meinen Vater geheiratet hat. […] Und meine Mutter hat 40 Jahre in Dortmund gelebt und konnte bis zu ihrem Tod im letzten Jahr so gut wie kein Deutsch.“
Als Lehrerin arbeitet Fatma in einem im Kontext von Migrationsdebatten besonders umkämpften Feld - dem Bildungssystem. Dennoch beruht die Integrität des Stücks gerade darauf, dass sich die Lehrerin nicht auf ihren Beruf und ihre Herkunft reduzieren lässt. Stattdessen entsteht vor den Ohren der Hörerinnen und Hörer die facettenreich gezeichnete Figur einer Frau mit klaren Überzeugungen, die insbesondere durch ihre Verletzungen und inneren Brüche glaubwürdig ist.
Besonders beeindruckt hat die Jury hierbei die im Hörspiel thematisierte Rolle der Sprache und Kommunikation, wie sie Fatma formuliert: „Meine Mutter hatte keine Ahnung von dem ganzen Zeug, das mich interessiert: Bücher, Popmusik, Kickboxen, Spanisch, Foodblogs, Reisen. Keinen Schimmer! Aber sie hat mich gefragt. […] Und sie hat die Augen geschlossen und einfach zugehört. Das hat alles auf Türkisch stattgefunden. Diese wundervolle, warme, lustige, bewegliche, türkische Sprache, die mir meine Eltern zu Hause beigebracht haben.“
Kenntnisreich und mit viel Empathie räumt Björn Bicker mit einigen der hartnäckigen Klischees auf, die die weiße Mehrheitsgesellschaft zur Abwehr der realen Diversität der deutschen Gesellschaft aufgebaut hat. Dass etwa auch der Grund dafür, dass Fatmas Mutter nicht Deutsch sprach, in den „kolonialen Mustern deutscher Arbeitsmigrationspolitik“ (Kien Nghi Ha) zu finden ist, in der die heute viel beschworene Integration der Gastarbeiter lange Zeit überhaupt nicht erwünscht war, zeigt das Stück sehr eindrücklich auf.
Positiv hervorzuheben ist dabei, dass die Besetzungsliste der Produktion ein deutlich höheres Maß an Diversität aufweist, als es sonst in der deutschen Hörspiellandschaft zu beobachten ist. Das Stück wirkt damit selbst als affirmative action gegen die Missstände, die es auf inhaltlicher Ebene kritisiert."

Güldens Schwester
Von Björn Bicker
Regie: Björn Bicker
Komposition: Derya Yildirim, Sebastian Reier, Tobias Levin
Mit Meriam Abbas, Yodit Tarikwa, Murali Perumal, Christoph Franken, Edmund Telgenkämper, Stefan Merki, Shirin Eissa , Wiebke Puls
Produktion: BR 2020

Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main zeichnet jeden Monat ein Hörspiel aus den Produktionen der ARD-Anstalten aus. Die Entscheidung über das HÖRSPIEL DES MONATS trifft eine Jury, die jeweils für ein Jahr unter der Schirmherrschaft einer ARD-Anstalt arbeitet. Am Ende des Jahres wählt die Jury aus den 12 Hörspielen des Monats das HÖRSPIEL DES JAHRES.