Hörspiel des Monats

Feuersturm

Drei Frauen gehen mit dem Rücken zur Kamera eine Straße entlang.
Die Drillinge sind surreal, komisch, traurig und mitunter ziemlich verstörend – aber immer liebenswert. © EyeEm / Junichi Ota
Von David Paquet  · 03.07.2021
Claudine, Mitte 30, ist etwas eigen. Sie backt nicht nur leidenschaftlich gern Plätzchen, sondern unterhält sich auch mit ihnen. Die Plätzchen hören ihr wenigstens zu, anders als ihre Drillingsschwestern Claudette und Claudie. Claudine spricht auch mit ihrem Therapeuten, sagt dabei jedoch selten die Wahrheit. Der Therapeut erkennt dennoch einen Fall von dysfunktionaler Familie.
Begründung der Jury der Akademie der Darstellenden Künste:
„Selten zieht das Zuhören so in den Bann wie im Fall von „Feuersturm“ des kanadischen Autors David Paquet. Was geht hier vor sich? Kann man es denn wirklich glauben? Wie ein modernes böses Märchen, in dem sich in einer x-beliebigen Familie eine Verwünschung festgebissen hat, rollt das Hörspiel gewitzt und zügig die Verderben bringenden Verhältnisse dreier Generationen aus.
Schlimmste Dinge geschehen, ein Vater hat sich umgebracht, ein Kind löscht seine Familie aus, ein anderes Kind wird weggelegt (bzw. verschickt!). Und doch greift hier nicht die große Tragik Fuß - dafür bleibt gar keine Zeit -, sondern der Schalk einer leichthändigen, schwarzhumorigen Erzählung, der sich in knappen Dialogen weit über den fatalen Inhalt erhebt.
In drei Teilen entfaltet sich, dramaturgisch höchst raffiniert, ein mysteriöser Abstammungs- und Sippenhaftungsthriller, in dem wahrlich nichts Erwartbares passiert. Und dennoch sind es die ganz banalen Dinge, die es in sich haben: Kekse backen, ins Kino gehen, Haustiere halten.
Es fällt kein Wort zu viel. Ein vokaler Purismus und eine heutzutage ungewöhnliche, aber wirkmächtige auditive Schlankheit - Dialoge, Selbstgespräche, Telefonate, Musik - würdigen zudem eine Sprache, die alles Abgegriffene ausspart und die den Ereignissen in präziser Schärfe folgt.
Ausgehend von den Drillingen Claudine, Claudie, Claudette und weiter über Clement und Carole bis hin zu Caroline und ihrer lebensgefährlichen Libido zieht sich eine unergründliche Spur der Vorbestimmung, die das Motiv der Unentrinnbarkeit auf vergnügliche Weise durchspielt.
Trotz eines großen Erzählbogens über mehrere Generationen findet sich in diesem fantastischen Hörspiel Platz für aussagekräftige, intensive Momente einzelner Figuren, die man so schnell nicht wieder vergisst. Das alles zusammen ist ein Kunststück, wenn nicht ein Zauberwerk. Und ein überaus gelungenes Beispiel einer verdichteten Fabulierkunst.“
Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main zeichnet jeden Monat ein Hörspiel aus den Produktionen der ARD-Anstalten aus. Die Entscheidung über das Hörspiel des Monats trifft eine Jury, die jeweils für ein Jahr unter der Schirmherrschaft einer ARD-Anstalt arbeitet. Am Ende des Jahres wählt die Jury aus den zwölf Hörspielen des Monats das Hörspiel des Jahres.

Hörspiel des Monats
Feuersturm
Von David Paquet
Regie: Anouschka Trocker
Dramaturgie: Anette Kührmeyer
Produktion: SR/Dlf Kultur
Länge: 61'33

David Paquet, geboren 1978 in Montreal, Theaterautor. Er studierte Szenisches Schreiben an der École nationale de théâtre du Canada, außerdem Literaturwissenschaft und Film in Montreal. Für sein Stück "Stachelschweine" ("Porc-épic"), erhielt er 2010 den Preis des Generalgouverneurs von Kanada, für "2 Uhr 14" den "Prix Sony Labou Tansi" (2014). Das gleichnamige Hörspiel wurde 2011 von SR und NDR produziert. 2014 Publikumspreis des Festivals "Primeurs" für "Open House". "Feuersturm" wurde als Live-Hörspiel beim Festival "Primeurs 2020" aufgeführt.