Hörsaal, erste Reihe!

Von Adama Ulrich · 27.04.2007
Es gibt immer mehr Anmeldungen als Plätze. In der Erwachsenenpädagogik an der Uni Leipzig liegt das Durchschnittsalter der älteren Semester bei 65 bis 75 Jahren. Übrigens mehr Frauen als Männer. Wenn Professoren über die "6000 Sprachen der Erde", die "Visualisierung von Strömungen" im Physikhörsaal oder über "Familien- und Beziehungsformen im Wandel" referieren, sitzen die Ruheständler ausgeschlafen und als aufmerksamste Zuhörer in der ersten Reihe.
Monika Sosna: "Liebe Seniorenstudierende. Ich begrüße sie ganz herzlich zur Eröffnung des Seniorenstudiums im Sommersemester 2007 an der Universität Leipzig. Mein besonderer Gruß gilt ..."

Der Hörsaal Nord der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig ist fast voll. Er bietet ein ungewohntes Bild. Statt junger Leute mit Rucksäcken und Basecaps, haben etwa 250 Senioren in den engen Sitzreihen Platz genommen.

"Die Uni ist groß, sie hat immerhin 30.000 Studierende, die Senioren sind in diesem Kontext eher eine Randgruppe und wenigstens bei der Gelegenheit dachte ich, dass ich mich mit ihnen beschäftigen sollte."

Professor Wolfgang Fach ist Prorektor für Lehre und Studium an der Leipziger Universität. Mit seiner Grußrede wendet er sich von seinem Pult aus direkt an die Senioren, scheint jedoch das Alter seiner Hörerschaft vergessen zu haben.

Senior: "Man hört sie schlecht."
Fach: "Ist es jetzt besser?"
Senior: "Nein. Nein."
Fach: "Ich kann mich auch hinlegen. Ist es jetzt besser?"
Senior: "Ja. Ja."
Fach: "Gut."

Seit 1993 gibt es das Seniorenstudium an der Leipziger Universität. Anfänglich haben knapp 40 Rentnerinnen und Rentner das Angebot wahrgenommen. Heute sind es zirka 500 Wissbegierige, die für 40 Euro Gebühren pro Semester, regelmäßig Vorlesungen besuchen. Monika Sosna leitet die Abteilung Wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudium, zu der auch das Seniorenstudium gehört.

"Bereits 1979 wurde das so genannte Veteranenkolleg gegründet, durch einen Mediziner. Damals hatte sich auch die Sicht auf die Alten derart geändert, dass man der Meinung war, dass auch Ältere lernfähig sind. Zuvor hatte man sich v.a. mit den Defiziten des Alters befasst. ... Es mussten sogar Wartelisten eingeführt werden. ... Damals umfasste das Programm v.a. medizinische Themen, also Themen des Alterns aus medizinischer Sicht."

Damals blieben die Senioren allerdings unter sich. Dass hat viele gestört – auch den Leipziger Seniorenverband "Graue Löwen". Eine Umfrage hat ergeben, dass die meisten ein altersgemischtes Studium vorziehen würden.

"(...) Sie sagten, wir wollen doch unter junge Leute gehen, weil zwangsläufig, wenn wir so in unserer Altersgruppe sind, kommt man auf die Gebrechen zu sprechen, die man in diesem Alter so hat."

"Heute braucht man viel kleinere Druckbuchstaben als früher. Ich muss die Zeitung immer weiter weg halten, und die Ziffern auf den Münzautomaten werden immer schwerer lesbar."

Der New Yorker Dramaturg Corey Ford hat in seinem Text "Das Alter der Anderen …” ironisch und scharfsinnig verdeutlicht, dass das Alter zunächst einmal ein subjektives Erleben ist. Die meisten Teilnehmer des Seniorenstudiums wissen um ihre Schwächen und versuchen, aktiv dagegen anzugehen.

"Ich bin 81 Jahre alt. Ich habe belegt: Literatur, römische Zeit, Geschichte, Philosophie und Musikwissenschaft. Und ich schreibe viel mit. Ich habe schon viele Bücher voll geschrieben, damit man ein bestimmtes Wort nicht vergisst. Das Kurzzeitgedächtnis. Da hat er zum Beispiel beim Beethoven gesagt, na ja, er hat nicht hören können, aber er hat sich die Töne der einzelnen Instrumente des Orchesters verinnerlicht. Dass ich das Wort nie vergesse. Das habe ich auf alle Fälle mitgeschrieben."

Ingeburg Faust ist 1986 in Rente gegangen, vorher arbeitete sie 40 Jahre als Deutschlehrerin. 1993 hat Ingeburg Faust in der Zeitung gelesen, dass an der Universität Leipzig Senioren zum Studium zugelassen werden.

"Da war ich am nächsten Tag schon hier und habe mich angemeldet. Da belege ich auf alle Fälle drei Vorlesungen in der Woche."

Die größte Gruppe der Seniorenstudierenden bildet in Leipzig die der 60- bis 70-Jährigen. Ihr Anteil beträgt 72 Prozent. Der Anteil der 70- bis 80-Jährigen liegt bei etwa 15 Prozent. Die älteste Studierende ist 92 Jahre alt.

"Mein Name ist Volkmar Gimpel. Ich bin 78 Jahre. (...) Ich habe zwei Vorlesungen in Geschichte belegt, mit Schwerpunkt auf der alten Geschichte, Griechenland, Rom und der mittelalterlichen Geschichte oder der Geschichte der frühen Neuzeit und in der Regel auch eine Vorlesung in Philosophie."

Volkmar Gimpel war bis 1999, also weit über sein Rentenalter hinaus, als Betriebswirt tätig.

"Und dann habe ich mir gedacht, du musst was tun, damit du nicht einrostest. Da habe ich mich erkundigt und bin zur Uni gekommen."

"Ich heiße Ludmilla Broers. Ich bin 72 Jahre, mehrfache Großmutter. (...) und seit vier Jahren besuche ich die Kurse des Seniorenstudiums. (...) In diesem Semester habe ich mich angemeldet für ... angewandte Geoelektrik."

Angewandte Geoelektrik? Ludmilla Broers hatte in den 50er Jahren in Leningrad Elektrotechnik studiert und viele Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Jetzt will sie wissen, was es Neues in ihrem Fachgebiet gibt. In Leningrad hat sie auch ihren Mann kennen gelernt und zog Ende der 50er Jahre mit ihm in seine Heimat nach Dresden zurück.

"Als wir in die damalige DDR übergesiedelt sind, sind wir, wie es damals üblich war, vom Ministerium für Hochschulbildung zu unserer zukünftigen Arbeitsstelle hingeschickt worden (...) Damals lief das Projekt vom ersten Kernkraftwerk Rheinsberg und in diese Arbeit sind wir dann eingestiegen und haben viele Jahre diese Aufgabe begleitet."

Ihr Beruf hat Ludmilla Broers so ausgefüllt, das kaum Zeit für andere Dinge geblieben ist.

"Für mich war ein Leben lang der Wunsch, alles dass, was man in jungen Jahren nicht schafft – die Welt ist so groß und interessant und es passiert so viel – eines Tages, wenn man nicht mehr arbeiten muss und als Rentner etwas mehr Ruhe genießt, verschiedenes nachzuholen."

Sosna: "Die Hochschullehrer haben dann auch gesehen, dass das auch eine Bereicherung sein kann, wenn die Älteren an den Lehrveranstaltungen der Jungen teilnehmen, wenn sie dort, wo es von der Thematik her passt, als Zeitzeugen auftreten und der Dialog zwischen den Generationen, der dadurch in Gang gesetzt wurde, ist natürlich auch wünschenswert."

Faust: "Da hat auch mal ein Professor, Literatur hatte ich belegt, und zwar Goethes 'Herrmann und Dorothea'. Und da hat er gesagt: Na Frau Faust, wie haben sie denn Herrmann und Dorothea gelehrt bekommen? ... Da platze ich raus: 'Dienen lerne das Weib nach seiner Bestimmung.' So stand es wörtlich drin. Na ja, die drei K’s standen im Mittelpunkt. Aber, dass die Dorothea ein Flüchtlingskind war und dass die französische Revolution da schon eine Rolle spielte, dass war nicht Mittelpunkt. Und den Goethe nach 30, 40 Jahren erkennt man anders."

Über den Erhalt der geistigen Fitness hinaus, hat das Seniorenstudium auch eine wichtige soziale Komponente. Neben den Kontakten zu Hochschullehrern und dem Knüpfen neuer Bekanntschaften, ist der Kontakt der lebens- und berufserfahrenen Senioren für die jungen Studierenden eine bereichernde Erfahrung.

Faust: "Wunderbar, wunderbar. Im Seminar habe ich mit denen ... einen Dichter ausgearbeitet. Nein, mit den jungen Leuten - ist nur ein gutes Einvernehmen, wunderbar."

Gimpel: "Man muss darauf Rücksicht nehmen, dass die, die da ihr Studium absolvieren, das für ihren künftigen Beruf brauchen und wir dort quasi als Gäste dabei sind. Aber das ist ein angenehmes Verhältnis, man unterhält sich mal über dieses oder jenes und ansonsten respektiert man sich gegenseitig."

Broers: "Ich habe mein Studium vor 50 Jahren abgeschlossen. Seit der Zeit hat sich vieles verändert, da liegen zwei Generationen dazwischen. Ich finde die Studenten alle in Ordnung, die gefallen mir sehr. Ich hatte bei verschiedenen Kursen auch Kontakt zu den Studenten aufgenommen, ich habe sie auch angesprochen und gefragt, was sie studieren, wie stellen sie sich ihren weiteren Berufsweg vor?"

Über die regulären Veranstaltungen der Uni hinaus, ermöglichen auch die Angebote der Arbeitsgemeinschaften den Kontakt zur jüngeren Generation. Zum Beispiel die AG Zeitzeugen.

"Das Anliegen unserer Arbeitsgruppe ist es vor allem, die Geschichte, ausgehend von den eigenen Erfahrungen zu diskutieren und Hintergründe aufzuhellen."

Die Arbeitsgruppe Zeitzeugen besteht seit dem Sommersemester 2000. Sie hat etwa 15 Mitglieder. Einmal wöchentlich treffen sie sich im Café einer Seniorenresidenz im Zentrum von Leipzig.
Frau Faust erzählt von einem Treffen mit Schülern aus Westdeutschland.

"Bei mir waren drei Oberschülerinnen mit einer jungen Lehrerin. Ich hatte sie nach Hause zu mir eingeladen. Ich habe ein altes Haus und einen großen Garten und da konnten wir in der Veranda sitzen. Ich hatte mir das gemütlicher gedacht. Aber die Fragen, die da gekommen sind von den Schülerinnen: Wir haben gehört, mit der Stasi, haben sie mit der nicht gearbeitet? Wie arbeitet denn die Stasi? Immer mit der Stasi. Ich habe mit der überhaupt nichts zu tun gehabt. Ich war Lehrerin. Ich habe mehr eingebüßt, als dass ich Erfolge mit der Stasi hatte. ... Dann fragte ich zurück: Wissen sie überhaupt, wie die SED entstanden ist? Nein, das wissen wir nicht. ... Das ist uns völlig unbekannt. Also, ich war eigentlich enttäuscht, dass die von der Geschichte Deutschlands, der DDR auch, eigentlich nichts gewusst haben. ... Dass die in der Schule das nicht gelernt haben, selbst die Lehrerin – dass hat mich entsetzt."

"Ja bloß, Frau Faust, dass ist unsere Verantwortung. Dieses Vakuum, das da vorhanden ist, auszufüllen."

Rudersdorf: "Ja meine Damen und Herren, ich darf sie herzlich begrüßen im Sommersemester 2007. Ich begrüße die Studierenden, die Senioren, die alten und die neuen ..."

Geschichtsvorlesung, genauer gesagt: "Geschichte der frühen Neuzeit"; gelesen von Professor Manfred Rudersdorf. Seine Vorlesungen sind nicht nur bei den jungen Studierenden beliebt, auch die Senioren kommen in Scharen.

"Reformation und Aufklärung als zwei Transvisionslinien dessen, was wir als frühe Neuzeit bezeichnen, zwei Leitplanken, die für die Formierung der Ständegesellschaft, der Staatsbildung ganz wichtig waren, als Konstitutionsfaktoren."

Die Senioren sind begeistert.

Faust: "Den Rudersdorf, wie soll ich den finden? Schon am Anfang im vorigen Semester habe ich zu ihm gesagt, nicht nur was sie sagen ist hochinteressant, auch wie sie es sagen. ... Das Wie ist nämlich entscheidend."

Mann: "Wir gehen schon jahrelang zu ihm, wir alle drei, weil er, er hat die Fähigkeit, immer wieder unser Gedächtnis aufzupolieren. (...) Also er hat eben wirklich Geschick. Und das hat nicht jeder Professor."

Die Tatsache, dass fast genauso viele grauhaarige Studierende seinen Ausführungen folgen, wie junge Leute, nimmt Manfred Rudersdorf gelassen.

"Es ist ganz eigentümlich. Mir fällt das eigentlich gar nicht mehr auf. Wenn ich zurückdenke an meine Zeit in Tübingen und Osnabrück, wo ich studiert habe, promoviert habe, habilitiert habe und auch gelehrt habe, da waren immer auch Senioren dabei, so als ob das eine Art Selbstverständlichkeit wäre. Mal mehr, mal weniger. Hier in Leipzig hat das eine gewisse Peripetie erreicht, es sitzen in den Glanzeiten hier 130 bis 140 Senioren im Raum, wenn sie alle an Bord sind."

Und was halten die jungen Studierenden von ihren betagten Kommilitonen? Sebastian Richter ist 25 Jahre alt und studiert im sechsten Jahr Geschichte und Germanistik.

"Es hat natürlich immer zwei Seiten."

"Auf der einen Seite, kommt man ins Gespräch und es ist auch ganz interessant mal, gerade bei Veranstaltungen über das 20. Jahrhundert mit Senioren ins Gespräch zu kommen. Auf der anderen Seite merke ich gerade auch bei dieser Vorlesung, die Senioren vergessen immer mal, dass die Uni und die Vorlesungen ja eigentlich hauptsächlich für die jungen Studierenden da ist und meinen dann, der Professor sei nur für sie da."

Oder, wenn es Rangeleien um die Plätze gibt, weil die Senioren sie bereits eine halbe Stunde vor Vorlesungsbeginn besetzt halten.

Rudersdorf: "Das war eine schlichte Raumfrage. Ich habe zunächst in einem kleineren Hörsaal gelesen, da gingen so rund 150 bis 200 Leute rein. Da gab es dann schon gewisse Rangeleien um die Plätze zwischen alt und jung, Senioren und normalen Studierenden. Wir haben das jetzt seit einiger Zeit gut gelöst, indem wir einfach einen größeren Hörsaal haben, wo jeder Platz findet."

Eine salomonische Lösung, die weder ein langjähriges Studium noch die Hochrechnung eines prognostischen Instituts erfordert, sondern einfach nur pragmatisch auf wissbegierige Menschen – egal welchen Alters – reagiert.

Rudersdorf: "Meine Damen und Herren, ich darf mich bedanken für ihr Kommen und ihre Aufmerksamkeit. Ich darf ihnen ein schönes Wochenende wünschen, und wir sehen uns in acht Tagen dann wieder."