Hörbare Datenreduktion

Die Geister der MP3

Zwei Hände bedienen einen MP3-Player.
Wer MP3-Musik hört, bekommt bestimmte Musikanteile gar nicht geliefert. Ryan Maguire macht diese wieder hörbar. © picture alliance / dpa / Romain Fellens
Von Christian Grasse · 14.07.2015
Vor 20 Jahren wurde das MP3-Format erfunden, dabei wird ein Musikstück reduziert auf die hörbaren Anteile, um Speicherplatz zu sparen. Was dabei aber doch alles verloren geht, zeigt der Physiker und Musiker Ryan Maguire mit seinen "Ghost"-Versionen.
Tom's Diner Ghost-Version:
Und, schon erkannt? Vielleicht ist Ihnen diese Version hier vertrauter:
320 kbps Mp3 Version "Tom’s Diner".
"Tom’s Diner" von Suzanne Vega, veröffentlicht im Jahr 1987. Aber auch diese Version ist streng genommen nicht das Original. Denn genau das hier - (SoundGhost Version "Tom’s Diner") - fehlt dem Stück.
Sie hören Frequenzanteile von "Tom’s Diner". Die werden normalerweise beim Erstellen einer MP3-Datei herausgerechnet und gelöscht, um Speicherplatz zu sparen. Der US-amerikanische Physiker, Musiker und Informatiker Ryan Maguire macht die "Geister des MP3", wie er sie nennt, hörbar.
"In den vergangenen Jahren wurde sehr viel im Bereich des "Perceptual Encoding" gearbeitet. Die Kompressionstechnik des MP3 basiert auf Verfahren der Psychoakustik. Es geht darum, nur die Signale zu speichern, die für den Menschen wahrnehmbar sind. Der Rest wird gelöscht. So kann man sehr viel Speicherplatz einsparen."
Als das Team rund um Karlheinz Brandenburg Anfang der 90er Jahre am Fraunhofer Institut ihr berühmtes Kompressionsverfahren testete, diente das Acapella-Stück von Suzanne Vega als Praxistest. Das unkomprimierte Original war stets die Referenz.
Jede Änderung an dem Programm zur Audiodatenkompression wurde mit der unkomprimierten Version des Stückes verglichen. Die Software wurde immer wieder verändert und optimiert. So lange, bis das Ergebnis zufriedenstellend war und das komprimierte Audio dem Original in seiner klanglichen Qualität ebenbürtig erschien.

Tom's Diner - Die Mutter aller MP3s

Ryan Maguire: "Deshalb hab ich mir Tom’s Diner ausgesucht. Wenn es einen Song gibt, der ein gutes MP3 liefert, dann sollte es dieses Stück sein. Mich hat einfach interessiert, was die Mutter aller MP3s einbüßen musste."
"Streng genommen stellt meine Arbeit das Perceptual Encoding in Frage. Ich wollte unbedingt wissen wie das klingt, was MP3s wegwerfen."
Technisch und physikalisch gesehen war Ryan Maguire das Ergebnis seiner Arbeit bereits von Anfang an bekannt. Aber er wollte den Geist des MP3s mit seinen eigenen Ohren hören und ihn als sonderbares Instrument verwenden. Das erste Problem bestand für ihn allerdings darin, eine unkomprimierte Version des Songs zu bekommen. Auf CD zum Beispiel.
"Ich habe mir den Song in der Bibliothek besorgt und daraus ein MP3 kodiert. In der bestmöglichen Qualität, so wie man sie bei iTunes, Google, Amazon oder sonst wo im Internet kaufen kann. Und dann habe ich mit dem Computer jede einzelne Frequenz des MP3s mit der unkomprimierten Originalaufnahme verglichen. Da fehlte einiges! Das konnte ich bereits in der grafischen Darstellung des Audiosignals im Spektogramm erkennen. Vor allem die TSS-, KSS- und TSCH-Laute waren in der MP3-Version sehr viel leiser. Kurze Töne wurden vom Komprimierungsprogramm regelrecht verschmiert, um mal bildlich zu sprechen. Im nächsten Schritt habe ich das MP3 vom Original subtrahiert, so kann man das wohl am einfachsten ausdrücken."
Unkomprimierte Version minus Mp3-Version gleich Geistversion. So lautet die vereinfachte Formel von Maguires komplizierten, statistischen Analyseverfahren, die für die Berechnung seiner MP3-Geister notwendig sind. Mittlerweile hat er ein Computerprogramm entwickelt, das auf Knopfdruck die Daten ausgibt, die nach dem Komprimieren einer MP3-Datei übrig bleiben und normalerweise entfernt werden.

Vergessene Bits und Bytes

Maguire transportiert damit die vergessenen Bits und Bytes digital komprimierter Musik zurück ins kulturelle Gedächtnis. Die Phase des digitalen Wandels ist eine Ära des Verlustes. Denn Kompression ist ein notwendiger Kompromiss, den uns geringe Bandbreiten im weltweit vernetzten Datenverkehr abverlangen.
"Als ich die Klänge das erste Mal gehört habe, war ich unglaublich überrascht, wie magisch und geisterhaft diese gelöschten Daten klingen. Das hat mich so sehr fasziniert, dass ich meine Masterarbeit darüber geschrieben habe. Als ich die Ergebnisse meiner Forschung meiner Lehrerin gezeigt hatte, lachte sie nur und sagte: Das ist der Geist im MP3!"
Ryan Maguire gibt sich allerdings nicht mit dem Klang der Geister, die er rief, zufrieden. Er macht sie auch sichtbar. Sein Verfahren lässt sich nämlich auch auf digital komprimierte Videos anwenden. Angedeutete Silhouetten von Personen, einzelne Pixel, die über den Bildschirm wandern, Fragmente von Schatten, all das wird sichtbar.
Wahrlich geisterhaft ist das Ergebnis seiner Arbeit. Und die präsentiert er auf Audio- und Videoplattformen im Internet, die, vielleicht ahnen Sie es, seine Geisterstücke standardmäßig komprimiert wiedergeben.
"That’s ironic, isnt it!?"
Ryan Maguire: "Yeah, I know, it’s very ironic. And then I’m streaming it on like soundcloud and vimeo, that feels very ironic to me. That’s very funny."

Info: Ryan Maguires "Ghost-Versionen" von MP3-Stücken können Sie auf seiner Websitetheghostinthemp3.com nachhören.
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