Höhlenbewohner aus gutem Haus

21.05.2013
John ist reich, Neils Familie ist arm: In dieser Konstellation entsteht eine Freundschaft. Der begüterte Sohn zieht in den Wald und wird zum Einsiedler. Der weniger Privilegierte wird Lehrer und Familienvater. Wer hat es richtig gemacht? Diese Frage beschäftigt die beiden ein Leben lang.
Will man nicht manchmal ganz genau so sein wie der beste Freund oder wie die beste Freundin? Gerade weil der eigene Lebensentwurf ein ganz anderer ist? David Guterson hat mit seinem Roman diese Frage am Beispiel einer Freundschaft neu gestellt.

Bei einem 800-Meter-Lauf treffen die beiden Jugendlichen John William und Neil Countryman zum ersten Mal aufeinander. Sie stammen aus gegensätzlichen Familien. John ist reich, Neils Familie ist arm. Aber sie finden schnell Interesse aneinander, gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit. Schon bald unternehmen sie Ausflüge in die unberührte Natur eines Nationalparks, können einander wie Brüder vertrauen, werten allerdings die Lebensvorstellungen des anderen sehr unterschiedlich.

Gutersons Roman begleitet diese Männerfreundschaft über viele Jahre hinweg. Wo nötig, unternimmt er Sprünge durch die Zeit, erst allmählich lernt man zu verstehen, in welchem Zeitabschnitt man gerade ist. Über allem steht dabei die Natur: gepriesen als hohes Ideal für beide Freunde. Für Neil bietet zudem die Literatur eine Flucht aus dem Alltag - wenn auch eine deutlich schwächere. Neils Versuche, durch seine Begeisterung für Lyrik dem allzu geregelten Leben etwas entgegenzusetzen, sind nicht vergleichbar mit der Radikalität, mit der John sein Ideal lebt.

Dieser wirft das bürgerliche Leben hin, kehrt der Gesellschaft grimmig-entschlossen den Rücken und zieht in eine Steinhöhle im Wald. Ich-Erzähler Neil ist die einzige Person, zu der er noch Kontakt hält. Der Freund versorgt ihn mit Lebensmitteln und Medikamenten und hilft ihm bei Arbeiten, die er alleine nicht verrichten kann. In der übrigen Zeit geht Neil einem bürgerlichen Leben nach: Er studiert, wird Lehrer, heiratet und hat Kinder. Dem inzwischen zum Einsiedler gewordenen John seinen Lebensentwurf auszureden, vermag er nicht.

David Guterson schreibt klar und prägnant, seine Naturbeschreibungen allerdings sind mitunter etwas schwülstig. Wenn er Lyrik zitiert oder alte philosophische Lehren beschreibt, neigt er zu unnötiger Länge. Die Kontraste zwischen Natur und Zivilisation, zwischen dem Funktionieren in der Gemeinschaft und dem zurückgezogenen Leben als Eremit sind jederzeit nachvollziehbar, als Leser bezieht man zu beiden Entwürfen Stellung - und wird feststellen, dass ein Kompromiss nicht möglich ist.

John stirbt als Einsiedler und vermacht Neil ein Millionenvermögen. Und nun gerät Neil in Versuchung, seine Träume vielleicht doch noch zu verwirklichen.

Dem Roman gelingt es gut, die zwei Themenbereiche Freundschaft und Naturliebe miteinander zu verbinden. Die beim amerikanischen Schriftsteller und Philosophen Henry D. Thoreau genommenen Anleihen - auch er lebte, zumindest vorübergehend, zurückgezogen in einer Hütte im Wald - verschweigt Guterson gar nicht erst. Die Klammer über den ganzen Roman hinweg ist die ständige Frage an die Hauptfiguren wie an die Leser: Was sind Lebensentwürfe wert, sobald sie Kompromisse mit der Wirklichkeit eingehen müssen?

Besprochen von Roland Krüger

David Guterson: Der Andere
Hoffmann und Campe, Hamburg 2013
349 Seiten, 22,99 Euro