"Hitler trank Kümmeltee"

Rezensiert von Cora Stephan · 03.08.2008
Als Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächter verbrachte Rochus Misch die Kriegsjahre in ungewöhnlicher Nähe des "Führers". In seinem Buch "Der letzte Zeuge" erzählt er von den persönlichen Erlebnissen mit den Nazigrößen Hitler, Goebbels oder Göring. Und muss schließlich bekennen, dass er sein Tun damals für richtig hielt.
"Wenn heute lange Diskussionen geführt werden, ob man Hitler überhaupt privat, eben 'als Mensch', zeigen darf, dann vermag ich das nur schwer nachzuvollziehen. Ich kenne ihn nur als Mensch. Als Mensch, der mein Chef und dem mein Wohlergehen wichtig war. Ein Chef, der mich von seinem eigenen Leibarzt untersuchen ließ, wenn es mir schlecht ging, der mir spontan freigab, als ich mit einem Mädchen ausgehen wollte, der mir zu meiner Hochzeit zwei Kisten erlesensten Wein nebst Sonderzahlung zukommen ließ, der mich für die enorme Summe von 100 000 Reichsmark lebensversicherte und der mich niemals anschrie."

Will man das wirklich wissen? Will man das lesen, die nun wirklich letzten Erinnerungen des letzten Zeugen, von Rochus Misch, des Mannes, der bis zuletzt im Führerbunker als sein Telefonist bei Adolf Hitler ausharrte? Memoiren, die aus dem Nichts auf Nummer drei der aktuellen Sachbuchbestsellerliste flogen. Von nichts gewusst, nichts gesehen, und Hitler war ein netter Kerl. Und dennoch:

"Wenn ich also Rochus Misch begegnen sollte - ich würde ihm ohne Zögern die Hand geben."

Ralph Giordano - dessen Vorwort es ja womöglich wirklich bedurfte - als eine Art Persilschein für das Buch. Denn ohne diese ausdrückliche Billigung könnte manch einer die Lebenserinnerungen des letzten Zeugen so naiv goutieren, wie sie daherkommen: selbst Hitlers Leibwächter hat von nichts gewusst. Also bitte!

Ob es das ist, was man jungen Leuten empfehlen soll, die, wie Misch schreibt, ihn immer wieder nach seinen Erfahrungen gefragt und oft weniger Berührungsängste hätten als die Generationen zuvor? Und wird hier statt Bildungsinteresse nicht einfach Sensationsgier befriedigt? Eva Braun im Bett, Magda Goebbels und der Mord an ihren Kindern, Hitlers Leichnam, verbrannt?

Ja und nein. Denn mit Rochus Misch lernen wir einen Typus kennen, den man hierzulande nicht mehr kennen will. Es sind die Memoiren eines Unpolitischen.

Der Leser folgt seinem naiven Blick in die Neue und Alte Reichskanzlei und Hitlers Wohnung, die dem jungen Mann viel zu bescheiden vorkommt. Wir begegnen Hess und Speer, Goebbels und Göring, Hitlers Generälen, alten Kameraden, aber auch Wilhelm Furtwängler oder Olga Tschechowa. Eine Affäre Leni Riefenstahls mit Hitler bestreitet der treue Leibwächter. Dafür verrät er, dass Hitler gerne Apfel- oder Kümmeltee trank und leidenschaftlich - kegelte. Auf dem Berghof, wo Misch seinen Dienst wie Urlaub verbrachte und das Fotografieren lernte, was der Nachwelt interessante Aufnahmen bescherte, die hier abgedruckt sind. Überhaupt der Berghof: Da gab es eine Wirtschafterin mit direktem Zugang zum Schlafgemach Hitlers und die hieß Eva Braun.

"Die Atmosphäre am Berghof war vor allem wegen Eva ungezwungen, fast heiter. Eines allerdings war für mich tabu: Getanzt habe ich mit Eva nie. Das ging nun wirklich nicht. Sie war das Mädchen des 'Führers'. Eva war lebenslustig - bist fast ganz zum Schluss. Ich mochte sie. Sie überstand die letzten Stunden ihres Lebens anders als alle anderen, die ihr Ende nahen sahen. Für mich ist sie die einzige, die wahrhaft aufrecht in den Tod ging. Eva lebte jedenfalls bis zum Tod. Geheiratet hatte sie einen Toten. In einem Leichenhaus."

In der Bewunderung für Eva Braun ist Rochus Misch so eindeutig wie in der Verachtung Magda Goebbels, die ihre Kinder angesichts des Endes ermordete. Für privaten Stil hat er Gefühl. Jubelnde Massen und Hitlerreden aber waren sein Sache nicht. Der Mann, der die Tochter eines überzeugten Sozialdemokraten heiratete, war offen und glaubhaft unpolitisch. Seine größte Faszination - "mein Reich"! - war die hochmoderne Telefonanlage der Reichskanzlei, eine Siemensanlage schon mit Tastenvermittlung, also ohne Kabelsteckerei. Er hörte offenbar den von ihm vermittelten Gesprächen selten zu, erfuhr auch nichts über Konzentrationslager und "die furchtbaren Geschehnisse in den Ostgebieten." Und erst später fiel ihm auf,

"dass Hitler, wenn er mit Himmler zusammentraf, eigentlich immer Vier-Augen-Gespräche führte. Von dem, was dann hinter verschlossenen Türen gesprochen wurde, habe ich nie etwas mitbekommen, weder direkt noch indirekt."

Dass man das alles als Leser nicht nur aushält, sondern sogar Sympathie für den Autor gewinnt, liegt vielleicht an dem, was Giordano als "intellektfern" bezeichnet. Rochus Misch wertet nicht und ordnet nicht ein - und ist nur manchmal, vielleicht auch nur dank der Mitarbeit von Sandra Zarrinbal und Burkhard Nachtigall, sanft ironisch. Etwa wenn er über seinen SS-Eid "Ich schwöre dir, Adolf Hitler, als Führer und Kanzler des Deutschen Reiches Treue und Tapferkeit" - schreibt:

"Das war übrigens das einzige Mal, dass ich Hitler duzte."

Hitlers Telefonist wahrte die Distanz und blieb doch bis zuletzt. Warum? Weil er zu einem Menschenschlag gehörte, der mittlerweile ausgestorben zu sein scheint: ein Pflichtmensch, der Befehlen folgt, ohne sie zu hinterfragen:

"Ich habe mich zur unbedingten Pflichterfüllung eigentlich nie überwinden müssen, nie mit mir gekämpft, nie gezögert. Ich war Soldat. Ich hatte meine Aufgaben, meine Anweisungen, meinen Platz. Ich habe das große Ganze weder gesehen noch danach gesucht. Ich habe mich darum nicht bemüht. Ich habe keine Fragen gestellt, wenn man besser keine stellte, und man wusste immer, wann man besser keine stellte. Ich habe aber auch keine Fragen gestellt, wenn man dies hätte machen können. Ich sage es so wie es ist: Der junge Rochus hatte wenig Fragen."

Diese Pflichttreue bis zum bitteren Ende und seine Naivität hätten ihn fast das Leben gekostet. Zu spät flieht er aus dem Führerbunker. In russischer Gefangenheit wird er gefoltert, verbringt später acht Jahre im sowjetischen Gulag und kann erst 1953 frei. Nur kurz heuert er später bei der CIA an, die ihm, dem ehemaligen Telefonisten Hitlers, dafür die Telefonrechnung bezahlt. Misch war und blieb unpolitisch.

Was fesselt an diesem Buch trotz aller Belanglosigkeiten, die nur der Voyeur goutieren dürfte? Genau dies: die unverstellte Naivität. Misch ist ein Mensch, der uns ungeheuer ist, seit die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Nachhinein reihenweise potentielle Widerstandskämpfer hervorgebracht hat, seit auch "das Private politisch" ist. Doch durch und durch unpolitische Menschen hat es damals weit häufiger gegeben, als wir begreifen möchten - und viele waren, ihren bescheidenen kleinen Alltag im Blick, mit größerer Legitimation oft naiv bis zum bitteren Ende als der privilegierte Mann an Hitlers Seite.

Doch diese politische Naivität schützt Rochus Misch vor den üblichen Rechtfertigungen und Interpretationen im Nachhinein. Hier lügt sich keiner seine Vergangenheit zurecht. Wer zu nah dran ist, sieht nicht das ganze Bild. Und Verbrechern sieht man ihre Taten selten an.

"Ich hatte weder ein Monster gesehen noch einen Übermenschen. Der Privatmann Hitler war ein normaler, ein einfacher Mann, der einfachste Mann, den ich kannte."

Das ist keine skandalöse Aussage, sondern eine wichtige Lehre. Ebenso jene bittere Pointe, die Ralph Giordano übersieht, wenn er Misch die Verurteilung des gescheiterten Hitlerattentäters Stauffenberg als "Kameradenmörder" vorwirft - denn bei dem Attentat starben ja andere Soldaten. Was aber war mit all den Zivilisten, die Zugang zu Hitler hatten, etwa bei den privaten Abendessen, denen sich nur Speer und Goebbels zu entziehen wagten?

"Hitlers private Gäste wurden durch uns, also sein persönliches Begleitkommando, nie irgendwelchen Sicherheitskontrollen unterzogen."

Die bittere Pointe lautet, dass die Beseitigung Hitlers womöglich ganz ohne Kollateralschäden hätte gelingen können. Wer über Stauffenbergs soldatisches Ethos urteilt, wie es neuerdings wieder geschieht, sollte über mangelnde Zivilcourage nicht schweigen.

Rochus Misch: Der letzte Zeuge
Ich war Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächter

Pendo Verlag, München 2008
Rochus Misch:Der letzte Zeuge - Ich war Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächter, Pendo Verlag , München/Zürich
Rochus Misch: "Der letzte Zeuge".© Pendo Verlag