Historisierung des Holocaust

Wie heute noch das Grauen in Buchenwald vermitteln?

Das Torgebäude des früheren KZ Buchenwald
Das Torgebäude des früheren KZ Buchenwald © dpa / picture alliance / Sebastian Kahnert
Von Siegfried Ressel · 06.04.2016
Buchenwald steht für KZ, Internierungslager und Gedenkstätte. Regisseur Siegfried Ressel, der einen aktuellen Film über den Ort gedreht hat, fragt sich, wie authentisch er 70 Jahre nach der Befreiung noch ist.
Weimar, eine Verabredung am Nachmittag, die platzt und ganz plötzlich habe ich viel Zeit. Es ist ein ungewöhnlich warmer Januarsamstag. Die trügerische Ahnung von Frühling. Warum nicht nach Buchenwald fahren, auf den Ettersberg? Das ist keine halbe Stunde Autofahrt. Die Sonne steht tief, die langen Schatten der Bäume seitlich der Zufahrtstraße fliegen übers Auto. "Blutstraße" heißt sie auf den letzten Kilometern vor dem Lager, das auf dem ehemaligen Hausberg Weimars errichtet wurde.
Der stellvertretende Stiftungsdirektor Rikola-Gunnar Lüttgenau beschreibt mir in einem späteren Interview sehr präzise den Weg von Weimar den Ettersberg hinauf zum KZ-Gelände:
"Sie stolpern nicht aus der heutigen Welt irgendwie plötzlich 'Hups, ich steh in einem ehemaligen Konzentrationslager', sondern Sie haben einen Initiationsraum, Sie fahren auf einen Berg. Dann eine lange Straße durch den Wald, die schon komisch aussieht, das hat andere Dimensionen als eine normale Landstraße. Dort gibt es schon auch eine leichte Beschilderung, dass man jetzt an einem besonderen Ort ist. Die Beschilderung wechselt, das Aussehen wechselt schon ein wenig. Und dann kommen Sie hier an, erst mal auch gerade in dieser etwas diffusen Parksituation. Es ist gepflegt, es stehen einige historische Gebäude und durch diese sehr schöne, aber doch irgendwie auch diffuse Parksituation, kommen Sie dann zum Symbol, das sie kennen: das ist ein Lagertor. Und dann trete ich durch diese Tür und dann bin ich in einem kahlen Raum. Und gleichzeitig hab ich den Blick in das Thüringer Land bis zum Harz, bis zum Brocken. Und dieser Raum ist leer und dann weiß man 'This is a place. I am here'. Jetzt bin ich an diesem Ort, an diesem anderen Kosmos."
In diesem kahlen Raum stehe ich. Leere als Provokation. Die Orientierungspunkte Krematorium und Effektenkammer sind seitlich an den Rand und in die Tiefe des Raums gedrängt. Das Tor, das bekannte Torgebäude, in meinem Rücken. Direkt vor mir: der abschüssige Appellplatz und die dunklen Schotterfelder, die die Fundamente der längst abgerissenen Baracken kennzeichnen. Mehr ist nicht. Der begrenzende und ebenfalls kahle Waldsaum weit entfernt. Eine schroffe Skizze, die von Anselm Kiefer stammen könnte.
So sieht es in Buchenwald heute aus.
So sieht es in Buchenwald heute aus.© Siegfried Ressel
Es ist frappierend, dass ich völlig allein ohne weitere Besucher, ohne Museumspersonal an einem späten Januarnachmittag in diesem Raum, an diesem Ort sein kann, einfach so. Keine Eintrittskarte musste gelöst werden, kein Gedränge, nichts. Ist es das, was mir das Gefühl gibt, eins zu sein mit der Kargheit, die zu sehen ist? Ist es das, was vielleicht nachfühlbar macht, wie es gewesen sein mag, hier gefangen zu sein?
Es ist ein ungewöhnlich warmer Tag mitten im Winter. Der Blick in die Ferne ist lässt den Harz ahnen und der Himmel färbt sich bereits ein wenig rötlich – es geht auf den Abend zu. Dort die Freiheit, hier die Gefangenschaft.
Hört man jenseits irgendwelcher Esoterik das Scharren der Holzpantinen in jener Zeit, der schweren Schuhe auf den Asphaltwegen? Wogt das Gemurmel eines geschäftigen Lagerabends, aus dem das Bellen eines Befehls kurz herausragt, bis in meinen heutigen Abend hier oben auf dem Ettersberg heran? Es ist eine diffuse Aura, die mich erfasst, der Geist des Ortes muss gar nicht beschworen werden, er schleicht heran wie... ja wie? Wie ein leichter Bodennebel vielleicht? Aus dem Nichts kommend und plötzlich ist er da. Wie sonst sollte der Ort, diese Leere sich mitteilen, als durch Ahnungen und Andeutungen, die man selbst fortzuschreiben hat. Was, frage ich mich, hat dieser Ort, der als "Ort des Terrors" bezeichnet wird, ein ehemaliges deutsches Konzentrationslager, uns heute noch zu sagen? Was richtet er mit uns an, wenn man sich auf ihn einlässt? Das ist ein Film, denke ich, ein Film über diese KZ-Gedenkstätte, ausgehend von der Konfrontation mit der Entleertheit des Ortes.

Irgendwann kommt die Kälte

Ein Jahr später der erste Drehtag für meinen Film: Es ist bitterkalt. Jede Beschreibung von Buchenwald kommt irgendwann zu dieser Kälte, denn Buchenwald liegt am Nordhang des Ettersbergs, und hier ist die Wetterscheide: Im südlich gelegenen Weimar können die Temperaturen schon mild sein, hier oben sind sie es noch lange nicht. Unterschiede von fünf bis zehn Grad sind nicht selten. Es stimmt also, was geschrieben steht, man kann sie nachfühlen, die Bosheit der SS, das Lager absichtsvoll an einen Kälteort zu bauen.
Diese Kälte ist nachvollziehbare Realität, genauer: von Lagerrealität. So könnte es gewesen sein, der tiefblaue Himmel eines beginnenden KZ-Jahres, die Baracken stehen noch, der Waldrand ist naturgemäß kahl wie heute. Wie egal kann Himmelsblau sein, wenn man als Häftling hier friert? Richtig friert. Also tage- und monatelang, den ganzen Winter über, oft bis in den Mai hinein. Die Kälte jetzt und hier verleitet zu "so muss es gewesen sein", doch das Bild von heute zeigt: dick in Daunenjacken eingepackt spazieren die Besucher über das Gelände. Der kalte Wind von heute tut nicht weh. Ein blauer, schöner Januartag 2015. Und das ferne Kreisen der Windräder hinter dem kahlen Wald.

Ich frage mich: Bedeutet hier oben zu stehen, der Versuch, die Schritte der damals gefangenen Menschen, ihre Blicke und vielleicht auch ihre Gefühle nachzuvollziehen, gleichsam das Herstellen von Nähe? Heißt das, ein winziges Teil des Gedächtnisses derer zu werden, die hier im KZ sein mussten?
Ein zweistöckiger Wachturm hinter einem Stacheldrahtzaun.
Ein Wachtum in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald.© imago / Ulli Winkler
"Ja, es hat eben zwei Seiten. Und auf die muss man heute immer deutlicher gucken. Es hat die Seite der, wie soll ich sagen, sich durch Empathie an die Erfahrungsperspektive der Menschen, die das Lager erlitten haben, aber die auch ein Leben davor und danach hatten, wenn sie es überlebt haben, sich gewissermaßen heranzuarbeiten. Das ist richtig anteilnehmende Erkenntnisarbeit und dann gibt es den Voyeurismus am Grauen, sozusagen die Suche nach Pathos in einer langweiligen Welt. In beiden Varianten geht man über die Blutstraße, und der eine denkt vielleicht: 'Oh, wow, ja, hey, geil, Gewalt! Hier hätte ich auch gerne geprügelt.' Und der andere denkt: 'Um Himmels Willen, was muss das für ein Schock gewesen sein. Gestern war ich noch in einem normalen Leben und heute werde ich aus dem Waggon geprügelt und lande in einer Lagerwelt, die ich mir nicht vorstellen kann.' Wichtig ist aber auch, bei dieser Variante, immer über das Lager hinaus zu gehen, Ruth Klüger hat ja völlig recht, sie sagt, KZ-Gedenkstätten sind Anti-Museen mit Todesaura, das Betrachten des Leidens von Anderen macht einem nichts begreifbar."
Volkhard Knigge, Pädagoge und Historiker, ist seit gut 20 Jahren Stiftungsdirektor der Gedenkstätte Buchenwald.
"Wichtig ist die Warum-Frage. Wie wird Leid verursacht? Wer will das politisch so? Wer ändert die Gesetze? Wer stimmt dem zu? Wer applaudiert? Das heißt, das Problem des Lagergedächtnisses, wenn man es so benennen will ist, dass es verinselt ist. Also nicht an den Orten sich festklammern, sondern fragen, woher kommen die Orte eigentlich? Wieso gibt's die? Wer wollte die? Und darüber hinaus gucken ist der Positivismus des Grauens. An den Orten lehrt einen nichts. Man lernt nur was über die Warum-Fragen. Und die können angestoßen werden durch, sagen wir, die Verstörungskraft der Orte, denn diese gibt's ja wirklich. Sie sind mitten in der Welt, Buchenwald ist sogar dicht an Weimar, eigentlich ein Teil von Weimar, das ist erlebbar. Diese Kontraste können mobilisieren, Vorstellungskraft, Empathie und detektivisches Fragen."
"Wenn man diese Bilder mitbringt, dann ist diese große Leere des Appellplatzes, der verschwundenen Baracken, etwas sehr Eindrucksvolles, etwas Raues, etwas, die Unwirklichkeit, das Menschenfeindliche, dieses Ausgestoßensein, kann man dann mit dieser Leere verbinden. Aber diese Ästhetik verändert sich schon mit dem Wetter, also es gibt ein Wetter, das den inneren Bildern, auch den Klischees, zuarbeitet, düstere hängende Wolken, Regen, Nebelfetzen, dann denken wir alle 'Wow, so muss Lager sein.' Das ist aber eine kulturelle Prägung. Das – und dann gibt es dieses kontrafaktisch beinahe schöne Wetter, das man manchmal gar nicht aushält und das den Ort so, ja beinahe könnte man sagen, veredelt, verhübscht. Auch hier blühen die Blumen, auch hier kann es sehr warm sein, auch hier zwitschern die Vögel.
Aber wir reagieren darauf, wenn wir wissen, dass die Vögel den Berg verlassen haben, als das Krematorium in Gang gesetzt wurde, weil das einfach zu sehr nach verbrannten Menschen stank und hier kein Vogel zu hören war. Und wenn wir wissen, wie Semprun oder ein Häftling, deutscher Häftling wie Ernst Thape beschreibt, wie nach der Befreiung am 11. April die Vögel zurückkommen. Der auf einmal merkt, 'Ups, hier singen die Vögel wieder. Ich hab ja fast vergessen, dass es Vögel auf der Welt gibt, weil ich hab sie gar nicht mehr gehört, jetzt kommen sie zurück.' Wenn man das weiß, hört man hier vielleicht auch die Vögel anders singen."
Volkhard Knigge ist, und das ist als Auszeichnung gemeint, der "Kommandant" vieler Buchenwald-Überlebender. Knigge denkt Buchenwald gegenwartsbezogen geradezu zwanghaft immer wieder neu. Die Ausdeutung, die Interpretation des Lagers als Zivilisationsbruch gerade im Heute ist Knigges Anliegen: Das Prozesshafte dieses Vorgangs bestimmt seinen Lebensrhythmus.
Was Knigge wie mich bewegt, ist die Frage nach der Darstellbarkeit und damit nach der Vorstellbarkeit des Grauens. Wie schiebt man diesen Ort Buchenwald mit seiner bloßen Fläche, seinem Krematorium, seinen wenigen verbliebenen Gebäuden und auch mit seinen geborgenen "Realien", Fundstücken, Dokumenten und Fotos in das Bewusstsein der Gesellschaft? Hier hat tausendfacher Mord statt gefunden, hier wurde gequält, gefoltert und weggesperrt.
Geschichtswissenschaftler sprechen von der Historisierung des Holocaust. Indem das damalige Geschehen zeitlich immer weiter entrückt, berührt uns diese Geschichte nicht mehr unmittelbar. Aber ein Ort wie Buchenwald ist ein Geschichtsort, der nicht historisierbar sein kann. Es ist hier geschehen und so wird es immer bleiben.

Neue Dauerausstellung der Gedenkstätte

Parallel zu meinen Filmarbeiten entsteht in der kasernenartigen sogenannten "Effektenkammer" die neue Dauerausstellung der Gedenkstätte. Die Frage nach der Darstellung dessen, was hier im Lager und damit auch innerhalb der Gesellschaft geschah, hat für Knigge und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter also auch einen ganz aktuellen Bezug. Ihr Arbeitsalltag wird über lange Zeit bestimmt durch die Auswahl von Fotos und Gegenständen, durch Ringen um Worte und Formulierungen. Es geht ihnen – wie mir – auch um die Frage nach der Authentizität der Darstellung.
Und es ist seltsam, diese Frage hat immer wieder auch mit dem Wetter zu tun. Ich erinnere mich an einen Dreh auf dem Bahnhof von Buchenwald: Ein sehr früher Sommermorgen noch mit klarem Licht, technisch perfekt zum Filmen. Natürlich singen auch die Vögel, so wie Knigge es beschreibt. Dass das KZ Buchenwald einen Bahnhof hatte, von dem heute noch die Rampe, Gleise und eine Weiche zu sehen sind, wissen und bemerken relativ wenige Besucher. Das liegt vor allem an der von Rikola Lüttgenau, dem stellvertretenden Stiftungsdirektor, angedeuteten diffusen Geländesituation, denn der Bahnhof hatte ursprünglich eine Art Mittellage zwischen dem Lagerkomplex und den jenseitigen Rüstungsbetrieben, die im August 1944 bombardiert und damit zerstört worden sind. Dadurch liegt der Bahnhof heute abseits. Man fährt auf dem Weg zur Gedenkstätte, also zum Lager, an ihm vorbei und lässt ihn buchstäblich rechts liegen.
Durch ihre sprichwörtliche Entlegenheit bekam diese Rampe hier nie diese Symbolkraft derjenigen von Auschwitz. Hier ist sie ein Ort der Stille. Selten fotografiert oder beschrieben ist sie damit nicht im visuellen Kanon Buchenwalds.
Der Erhalt der Anlage ist ausbalanciert: die Gleise sind vorhanden und frei von Unkraut; die Grasflächen drumherum sind gemäht. Der Ort vermittelt Frische, ja eine gewisse Aufgeräumtheit. Geborgene Reste wie hölzerne Schwellen, rostige Eisenstücke, Beschläge und dergleichen liegen sorgfältig sortiert, aber mit einer kalkulierten Beiläufigkeit verteilt auf dem parallel zu den Gleisen gestreckten Bahnsteig. Man könnte sagen: sie sind zur Anschauung freigegeben. Das Ganze macht an diesem Hochsommermorgen den Eindruck einer sehr sorgfältig gepflegten Parklandschaft; ein Kurort könnte nicht mehr Harmonie verströmen als diese Bahnhofsrampe von Buchenwald an jenem Sommermorgen.

Ebenfalls Sommer, ein Abend im Steinbruch. Flieger mit ihren Kondensstreifen am Himmel. Man erreicht den Steinbruch über einen begrasten Hohlweg. Auch hier wurde gemäht. Auch hier sind wir jenseits des eigentlichen Lagers.
Besucher der Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Weimar-Buchenwald legen Blumen und Kränze vor die Figurengruppe des Bildhauers Fritz Cremer, die den Tag der Befreiung des Lagers am 11. April 1945 symbolisiert.
Besucher der Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Weimar-Buchenwald legen Blumen und Kränze vor die Figurengruppe des Bildhauers Fritz Cremer, die den Tag der Befreiung des Lagers am 11. April 1945 symbolisiert.© dpa / picture alliance / Zentralbild
Aber während der Bahnhof nur in wenigen Zeugenberichten auftaucht, ist der Steinbruch ein ganz zentraler Ort in der Narration des KZs. Er ist ein Ort des Schreckens und des Todes. Hier fanden Erschießungen statt, hier hatte die bewusste, programmatische "Vernichtung durch Arbeit" durch die SS ihren Schauplatz. Wer als Gefangener nicht sehr schnell aus den Häftlingskommandos des Steinbruchs fortkam, konnte mit dem sicheren Tod rechnen. Die Beschreibungen von den hier stattgefunden Torturen müssen einem zwingend gegenwärtig sein, wenn man auf diese etwas holprige Ebene kommt mit ihren Baumgruppen und ihrem Gräserbewuchs. Hier also ist es gewesen. Und jetzt, heute ein Anblick von schmerzender Harmlosigkeit. Im Gegenlicht hangabwärts die weite Ebene mit der Autobahn. Insektengeräusche. Wogende Grashalme. Die Kolben von Königskerzen im Wind.
Die hier täglich geschehene Vernichtung macht sich unsichtbar, tarnt sich ab; wenn hier oben auf dem Ettersberg ein Boden, wie man so dramatisierend sagt, "blutgetränkt" ist, dann dieser hier. Und die ähnlich schnelle Floskel vom "Gras, das drüberwächst" trifft genauso buchstäblich zu. Hier ist Gras drüber gewachsen! Und hier kann man seine plötzlich so banale Sprache nur noch hassen und sich selbst genauso, an diesem verdammten Ort.
Ist hier die Grenze der Darstellbarkeit? Hier, wo es weit und breit keine Hypersymbolik wie die eines Lagertors oder eines Stacheldrahtzauns, oder eines Scheinwerfers zu sehen, zu fotografieren, zu filmen gibt? "Kein Ort nirgends", hier bin ich an einem stummen Un-Ort, der einfach nichts mehr zu sagen vermag. Der wortlos verharrt. Und der damit noch provokanter ist als das leere verschotterte Lagergelände, touristisch nicht nutzbar wegen seiner abseitigen Lage. Wegen seiner unspektakulären Sprachlosigkeit. Un-Ort, weil dieser Steinbruch hier einfach wunderschön ist an diesem
Was ist authentisch hier in Buchenwald? 70 Jahre, nachdem US-amerikanische Truppen das KZ einnahmen und das Grauen öffentlich machten? Über 60 Jahre, nachdem die Sowjetunion das düstere Nachkriegskapitel, die Nutzung als Internierungslager nicht nur für NS-Täter, sondern auch für Oppositionelle und unschuldig Verfolgte, abschloss? Fast 60 Jahre, nachdem die DDR ihre propagandistisch ausgerichtete Gedenkstätte hier errichtet hatte? Was ist authentisch an einem solchen Ort?
Längst ist das Dach des Krematoriums neu gedeckt worden, das berühmte Tor mit der Bauhaus-Inschrift "Jedem das Seine" denkmalgerecht und handwerklich einwandfrei restauriert. Ich frage Roland Lehnen, den leitenden Architekten der neuen Dauerausstellung, die gerade aufgebaut wird und an der Lehnen seit zwei Jahren arbeitet.
"Authentizität eines Ortes oder das Authentische eines Ortes, das ist das, das ist das, was ich als Besucher, als Besucherin dort empfinde und mitnehme. Und dafür hilft es, Ankerpunkte zu haben. Punkte wie das Lagertor, Punkte auch wie das Krematorium. Genauso Orte wie das Kammergebäude, in dem die neue Dauerausstellung eingerichtet wird. All das sind Originale, originale Schauplätze, Orte, die gleichzeitig das Gedenken ermöglichen, aber auch das Erzählen.
Im Übergang, in dem Buchenwald sich befindet von der sogenannten heißen zur kalten Geschichte, wo die letzten Überlebenden, die letzten wirklichen Zeitzeugen sehr, sehr alt sind, es nicht mehr viele gibt, jetzt steht Buchenwald, stehen auch viele andere Gedenkstätten an der Entscheidung, wie möchten sie, wie können sie, wie müssen sie weiter präsentieren und vermitteln. Ein Bild sagt sehr, sehr viel aus. Ein Bild bleibt auch im Gedächtnis. Eine sehr persönlich erzählte Geschichte kann aber ein sehr, sehr viel tieferes Bild hinterlassen."

Erzählungen, die sich alle unterscheiden

Dokumentieren, transformieren: Der Architekt bedient sich routiniert seines Vokabulars für den Umgang mit dem Problem, das mich beschäftigt. Über eine Viertelmillion sogenannter Häftlinge sind in Buchenwald zwischen 1937 und 1945 gewesen. Das sind, folgt man dem Architekten Roland Lehnen, über eine Viertelmillion Buchenwald-Erzählungen, die sich alle unterscheiden. Schon die unterschiedliche Perspektive: hat der Erzählende als "Politischer" im Kreis seiner Genossen Buchenwald in einer wetterfesten Baracke und in einem "sicheren" Arbeitskommando" überlebt? Oder ist der Erzählende ein jüdischer Häftling gewesen, der etwa von Auschwitz nach Buchenwald kam und in das sogenannte "Kleine Lager" gesteckt wurde, aus dem man – wenn überhaupt – mehr tot als lebendig befreit wurde? Die Buchenwald-Geschichten unterscheiden sich nicht nur – sie sind sehr verschieden. Je tiefer man in die Narrative des Lager eindringt, Bücher und Zeugnisse und Akten liest, um so uferloser und auch widersprüchlicher wird der Buchenwald-Stoff, der sich vereinzelt in die vielen Buchenwald-Stoffe – vor allem vor 1945, aber auch danach.
Meine Drehtage hier vergehen ohne ökonomischen Verstand. In Buchenwald zu filmen, heißt für mich, sich dem Ort ohne vorherigem Tagesplan auszusetzen, dem Licht, dem Wetter, den Besuchern. Eben war noch niemand da, jetzt kommen sie scharenweise. Strömen in Gruppen dem Krematorium zu oder vereinzeln sich auf dem weiten Gelände. Manchmal telefoniert jemand, isst Eis, verstummt vor einem Hinweisschild. Es gibt keine festgelegte Besuchs-Choreographie, keine Anleitung, wie man auf einer KZ-Gedenkstätte zu sein hat. Das gibt einem ein seltsam freies Gefühl, sich an diesem Ort zu bewegen. Das heißt für mich: ich lasse mich treiben.
Eine Winzigkeit schockiert mich. Es passiert im Wachturm West. Die Gestalt dieses massiven Turms ist fast ein Würfel. Eine schwere, etwas unförmige Treppe führt in den 2. Stock, der eine Galerie, also rundum verglast für die Sicht nach allen Seiten ist. Es riecht nach Firnis, die Dielung wurde vor nicht allzu langer Zeit geölt. Ich öffne ein Fenster und da ist so plötzlich und so deplaziert die Assoziation von Ferien: der simple Verschluss des Fensters – ein Riegel, den man über den Rahmen spannt – ist derselbe, mit der die Fenster des alljährlichen Sommerquartiers meiner Kindheit verschlossen wurden. Wahrscheinlich ist jenes Haus an der Ostsee ungefähr zur selben Zeit gebaut worden wie die Wachtürme des Konzentrationslagers Buchenwald, also etwa Mitte der 1930er-Jahre. Derselbe Mechanismus. Identisch das Geräusch, welches der Fensterflügel macht, wenn er leicht erzitternd vom Rahmen springt. Jahrzehnte nicht gehört und jetzt hier. Das, was ich hier sehe, hat sich keineswegs in Zeit verflüchtigt, es ist nicht Abbild, es ist noch ganz nah, es ist so eng an einem, dass man selbst dazugehört, es hat mit mir ganz direkt zu tun. Es ist eine Gewissheit. Wenige Tage später spreche ich mit Volkhard Knigge darüber:
"Je alltäglicher diese Objekte sind, auf die man –die einem diesen Anstoß geben, ein Fensterriegel ist ja was sehr Normales, Gewöhnliches, ein Krematoriumsofen ist ja schon ein bisschen was anderes. Aber je gewöhnlicher, je in dem Sinne auch unauffälliger und alltäglicher diese Überreste sind, umso mehr können sie zu – können sie einem vermitteln, dass in diesen Lagern und der Geschichte, die sie hervorgebracht hat, eine Form von Normalität steckte für die Zeit, die uns heute vielleicht am meisten die Haare zu Berge stehen lässt. Also das gilt ja etwa, wenn man es jetzt nur über die materialen Überreste sich anschaut, dann entdeckt man lagerspezifisch, also für die spezifischen, nationalsozialistischen Konzentrationslager, ist eigentlich so gut wie nichts baulich spezifisch. Abgesehen von dann den Infrastrukturen wie Krematorien und Tötungsanlagen, die explizit oft dann auch 'by doing', dann erfunden und eingerichtet werden.
Der Rest ist ein Zusammenschieben von ganz gewöhnlichen Architektur-Fragmenten, von Infrastruktur-Fragmenten, die so sind wie überall. Von der Elektroleitung, von den Wasserleitungen über die Kanalisation bis zu den Hakenverriegelungen von Wachtürmen. Sozusagen das Gewöhnliche, das ins Extreme gedreht wird, ins Mörderische. Und da kommt man dann über diese zeitliche Brückenfunktion, die die Dinge haben, vielleicht doch auch dieser fatalen Normalität des Aussonderns, bis in die Ermordung hinein, ein Stück weit auch emotional auf die Spur, wenn man diese Irritationen aufnimmt."

Ort der Selbstvergewisserung des SED-Regimes

Irritationen: bis zum Ende der DDR waren sie unerwünscht. Stattdessen eine Gedenkstätte als Ort der Selbstvergewisserung des SED-Regimes, die richtige Antwort auf die faschistische Barbarei gefunden zu haben. Nach dem Ende der DDR begann die Suche nach den Spuren jener Geschichte, die bis heute irritierend wirken kann. Waldsäume, an deren Rändern die Reihen jener Zaunpfähle stehen, die zum Lagerzaun gehörten, der das Lager abgrenzte und eine Flucht unmöglich machte. Der verbliebene Stacheldraht ist höchstens noch in rostigen Fragmenten vorhanden, meistens fehlt er ganz. Der Beton der Pfähle ist oft zerfressen, Stücke sind von den inneren Armiereisen gefallen, lotrecht steht kaum mehr einer. Aber es gibt sie noch, wie eine Skizze, eine Notiz, ein flüchtiger Hinweis. Ein Nachhall. Oft markieren sie nunmehr eine schmale Schneise zwischen zwei Baumreihen. Und es war doch und ist ein "Postenweg". Auch nach 70 Jahren.
"Ich merke bei manchen Besuchern fängt der Kontrast zwischen der menschenfeindlichen, in dem Sinne menschengemacht hässlichen Geschichte und der Schönheit, die der Ort entfalten kann, setzt ganz – kann ganz viel in Gang setzen. Und manchmal fragt man sich ja auch, was hat der Baum gesehen, der hier so schön und erhaben steht? Und von dem man weiß, er stand hier auch schon vor '45 und vor '37. Man könnte beinahe sagen: stumme Zeugen. Aber, das soll man nicht pathetisieren, oder verkitschen, sondern das sind Anstöße, das sind Brücken, die auch ein Baum, der hier vor '45 stand, kann, wie ein Fensterhaken sagen, diese Geschichte ist wahr. Also diese Geschichte ist nicht nur Stoff, historischer Stoff, den man lernen muss, oder lernen soll, oder irgend ne Historikerkonstruktion, sondern, es hat stattgefunden. Und zwar hier."

Der Film "Buchenwald. Nächste Generation" von Siegfried Ressel wird am 31. Mai um 22.20 Uhr auf 3sat gezeigt.

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