Historische Spurensuche

Rezensiert von Rolf Hosfeld · 18.04.2010
Gerd Koenen hat ein dichtes, gedankenreiches und pointiert geschriebenes Buch über den Kommunismus vorgelegt. Dabei geht es ihm weniger um neue Enthüllungen. Er möchte vielmehr das Phänomen dieser politischen Bewegung verstehen.
Etwas mehr als 20 Jahre ist es her, da schien die Welt plötzlich in geordnete Bahnen zu geraten. Bereits im Sommer 1989 - niemand in diesem Land dachte an den bevorstehenden Fall der Mauer - verkündete Francis Fukuyama das mit dem Sieg des Westens einbrechende Ende der Geschichte als solcher. Ein halbes Jahr später war der Kommunismus tatsächlich ein abgeschlossenes Kapitel.

Seitdem - und vor allem auch auf der Grundlage vieler nun seit 20 Jahren endlich zugänglicher Archive - ist eine Unmenge von Literatur über den Kommunismus erschienen. Einem großen Publikum bekannt geworden sind vor allem Francois Furets "Ende der Illusionen", die Enthüllungen des von Stéphane Courtois herausgegebenen "Schwarzbuchs des Kommunismus" und zuletzt David Priestlands "Weltgeschichte des Kommunismus".

Eines der besten Bücher zum Thema ist jedoch nach wie vor Gerd Koenens "Utopie der Säuberungen" von 1998. Andere von ihm folgten, darunter preisgekrönt "Der Russland-Komplex" und "Traumpfade der Weltrevolution". Jetzt hat Koenen, seit einiger Zeit Senior Fellow an der Freiburger FRIAS School of History, einen langen Essay vorgelegt unter dem Titel "Was war der Kommunismus?".

Gerd Koenen hat ein selten dichtes, gedankenreiches und pointiert geschriebenes Buch vorgelegt. Dabei geht es ihm weniger um neue Enthüllungen, als darum, das Phänomen des Kommunismus als ein beunruhigendes Extrem des modernen Zivilisationsprozesses zu verstehen. Ungelöst bei aller Flut der bisherigen Kommunismusforschung, meint er:

" … bleibt eben 'nur' die übergreifende Frage, welcher tieferen Logik der allen Regimes dieses Typs eigentümliche historische Zyklus von ursprünglicher Dynamik, terroristischer Überspannung, moralischer Ermüdung und schleichender Auflösung gefolgt ist, der den 'realen Sozialismus' und mit ihm die kommunistischen Bewegungen entgegen allen Erwartungen von Freund und Feind zu einem historisch transitorischen Phänomen gemacht hat."

Nicht transitorisch ist dagegen der Prozess der Globalisierung. Liberale sehen in ihm in erster Linie eine Geschichte der Universalisierung der Märkte, und es ist mehr als verwunderlich, dass diese Ansicht angesichts der Katastrophengeschichte des letzten Jahrhunderts immer noch ihre Anhänger findet. Dabei hatte bereits der Erste Weltkrieg gezeigt, dass in diesem interessen- und konfliktbeladenen Prozess Kräfte wirksam sein können, die in der Lage sind, wahrhafte Ungeheuer zu gebären. Eine der Folgen dieses Krieges, jener "Gründungskatastrophe" des 20. Jahrhunderts, so Koenen, war der Kommunismus. Gerade der Kommunismus, so seine These …

" … gehört zu den einschneidendsten und zugleich am wenigsten verstandenen Seiten dieser politisch-ökonomischen Globalisierungsgeschichte, um die es sich im Kern handelt."

Was also war der Kommunismus? Er war keineswegs, wie Stéphane Courtois, David Priestland und andere nahelegen wollen, einfach nur die politische Ausführung totalitärer Ideen, die bereits bei Marx angelegt sind. Zweifellos war Marx ein Utopist. Doch, wie Koenen zu Recht bemerkt, war der frühe sozialdemokratische Kanon des Marxismus …

" … alles andere als eindeutig und daher für vollkommen konträre politische Schlussfolgerungen offen."

Die Anpassung des Marxismus an einen reformorientierten Politikstil im Zeitalter des Übergangs zur Hochmoderne Ende des 19. Jahrhunderts konnte sich mit weit größerem Recht auf Marx berufen als jene bis zum Ende des Ersten Weltkriegs völlig unbedeutende östliche Randströmung, die mit dem Namen Lenin verbunden ist. Ohne den vollständigen Zusammenbruch Russlands im Jahre 1917 hätte es keine Geschichte des Kommunismus gegeben. Erst in diesem Machtvakuum konnten Lenins Konzepte wirksam werden, mit denen berufsrevolutionäre Entrepreneurs den ungeheuerlichen Versuch unternahmen, Politik …

" … fast wie in einer physikalischen Versuchsanordnung … "

…zu betreiben. Was die Bolschewiki in die Welt setzten, gehört nicht zur Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung. Ihr aus einer sich in Auflösung befindlichen Gesellschaft realisiertes Projekt war eher …

" … eine durchweg gewaltsame creatio ex destructio, bei der sie (entgegen allen theoretischen Selbstbeschwörungen) statt mit dem Strom der sozialökonomischen Entwicklungen des Zeitalters, großteils gegen ihn navigieren mussten."

Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit entstand daraus ein Macht- und Gestaltungsanspruch …

" … den es in dieser abstrakten, leeren Totalität bis dahin niemals gegeben hatte."

Mit allen Folgen, die das Navigieren gegen die Geschichte mit sich bringen musste wie die ständig präsente Paranoia angesichts meist eingebildeter Feinde, der Terror, die Säuberungen und eine Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens. Das Ergebnis …

" … war eine Sozialformation ganz eigener, eigentümlicher Art, die Keime ihrer Auflösung von Beginn an in sich trug."

Doch das eigentlich beunruhigende bleibt, wie ein solches Experiment, 1917 in einer Ausnahmesituation - fast wie eine Art Größter Anzunehmender Unfall - in die Welt gesetzt, sich nicht nur 70 Jahre halten, sondern über lange Zeit auch eine erhebliche Anziehungskraft - teilweise auf einem Drittel des Globus - entfalten konnte. Koenens langer Essay gibt auch auf diese Fragen, einschließlich der Besonderheiten Südostasiens und Lateinamerikas, sehr durchdachte und differenzierte Antworten.

Am Ende war der Kommunismus ein Zivilisationsbruch, der ganze Gesellschaften in einen Zustand der Regression versetzt hat. Die Folgen dieser Regression, von der nostalgischen Erinnerung an die freiwillige Knechtschaft des überschaubaren Lebens über den neu aufgebrochenen Nationalismus im Osten bis zum entfesselten und halbkriminellen Kapitalismus der postkommunistischen Länder, und nicht etwa das glückliche Ende der Geschichte, sind das eigentliche Erbe aus dem Zerfall der kommunistischen Welt. Koenens Fazit: Nichts ist erledigt, nichts ist gelöst. Alle Fragen, mit denen sich demokratische und sozialistische Bewegungen seit 150 Jahren beschäftigen, stehen nach wie vor im Raum.
Cover: "Gerd Koenen: Was war der Kommunismus?"
Cover: "Gerd Koenen: Was war der Kommunismus?"© Vandenhoeck & Ruprecht