Historische Rede in Dresden

"Helmut Kohl ist an dem Abend über sich hinausgewachsen"

Bundeskanzler Helmut Kohl spricht am Abend des 19. Dezember 1989 zu der riesigen Menschenmenge, die sich anlässlich seines Besuches eingefunden hat. Kohl hielt sich zu einem zweitägigen Besuch in der sächsischen Stadt auf und wurde an beiden Tagen von der DDR-Bevölkerung stürmisch gefeiert.
Ein Schlüsselmoment in der deutsch-deutschen Geschichte: Helmut Kohl 1989 in Dresden. © dpa / picture alliance
Moderation: Liane von Billerbeck  · 19.12.2014
Der Auftritt des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden gilt als Schlüsselmoment für den Weg zur Deutschen Einheit. Der frühere Kanzlerberater Horst Teltschik erinnert sich an die historische Rede vor 25 Jahren und verrät, wie Kohl sich auf die Jahrhundertrede vorbereitete.
Wenn er heute diese Rede erneut höre, sei er doch wieder sehr bewegt, sagte der frühere Kanzlerberater Horst Teltschik im Deutschlandradio Kultur. Er lobte, wie "abgewogen und vorsichtig" Bundeskanzler Helmut Kohl damals gesprochen habe. "Er hat keine großen Versprechungen gemacht", sagte der CDU-Politiker. "Er hat deutlich gemacht, dass man arbeiten müsse, um das Ziel zu erreichen und dass man Rücksicht nehmen müsse auf die europäischen Nachbarn, die den ganzen Prozess der Einigung Deutschlands ja mit Sorge verfolgt haben und nicht nur mit Freude, wie viele Deutsche."
Es gab kein Rede-Manuskript
Teltschik sagte, er habe während der Ansprache nicht oben auf der Rednertribüne gestanden, sondern sich bewusst unter die Zuhörer begeben. Einige seien vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen gewesen, andere hätten nur still und ernst dagestanden oder hätten geweint.
Noch am Vorabend habe er mit Helmut Kohl zusammen gesessen und gemeinsam mit dem Chef des Bundeskanzleramtes, Rudolf Seiters, überlegt, was gesagt werden sollte. Kohl habe Papier vor sich liegen haben und sich mit seinem dicken, schwarzen Stift ein paar Stichworte aus dem Gespräch notiert. "Er hat dann gewissermaßen improvisierend geredet und aus meiner Sicht ist er an diesem Abend über sich hinausgewachsen", sagte Teltschik im Deutschlandradio Kultur. "Er hat eine tolle Rede gehalten, nur aufgrund von Stichworten, die wir so im Rahmen eines Brainstormings, also laut denkend, diskutiert hatten."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Wenn eine Kanzlerrede in einer historisch bedeutenden Situation gehalten wird, dann kann sie eben auch das Adjektiv historisch bekommen. "Mehr Demokratie wagen" wollte Willy Brandt, und dieser Satz ist bis heute in Erinnerung. Angela Merkels Redenschreiber haben Jahrzehnte später, den Satz aufgreifend, daraus "Mehr Freiheit wagen" gemacht. Ganz sicher historisch und auch schwierig war eine Rede Helmut Kohls, die er am 19. Dezember 1989, vor 25 Jahren also, in Dresden gehalten hat. Über diese Rede wollen wir in Kürze reden, aber hier erst mal ein Ausschnitt daraus:
((Helmut Kohl))
Ein Ausschnitt aus Helmut Kohls Rede am 19. Dezember 1989, heute vor 25 Jahren. Damals dabei war auch Horst Teltschik, Kohls Vizekanzleramtschef, der maßgeblich an den deutsch-deutschen Verhandlungen 1989/90 bis zur Wiedervereinigung beteiligt gewesen ist. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Teltschik!
Horst Teltschik: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Wenn Sie diese Rede hören, wie geht es Ihnen da?
Teltschik: Tja – also ich war jetzt doch auch wieder sehr bewegt, weil ich mich natürlich an diese Stunde sehr genau erinnere. Auf der anderen Seite, wie vorsichtig und wie abgewogen der Bundeskanzler gesprochen hat. Er hat keine großen Versprechungen gemacht. Er hat deutlich gemacht, dass man arbeiten müsse, um das Ziel zu erreichen, und dass man Rücksicht nehmen müsse auf die europäischen Nachbarn, die den ganzen Prozess der Einigung Deutschlands ja mit Sorge verfolgt haben, nicht nur mit Freude, wie viele Deutsche. Und dass das geeinte Deutschland eingebettet bleiben muss und sein muss in die europäische Integration.
von Billerbeck: Versetzen wir uns noch mal zurück an diesen Tag, damals vor 25 Jahren. Sie waren ja, wie auch Kanzleramtschef Rudolf Seiters, damals in Dresden dabei. Damals ist Kohl auf dem Flughafen Dresden gelandet, und das Gelände war voller Menschen, die trugen schwarz-rot-goldene Fahnen. Einige waren aus DDR-Fahnen entstanden, aus denen Hammer, Zirkel und Ehrenkranz herausgeschnitten waren. Was hat dieser Anblick bei Helmut Kohl und auch bei Ihnen ausgelöst?
Es war eine Mischung an Gefühlen
Teltschik: Als wir aus dem Flugzeug ausstiegen, sahen wir schon Menschen auf den Dächern der Flughafengebäude stehen und winken. Und als wir dann mit der Kolonne in die Innenstadt gefahren sind, waren die Straßen gesäumt mit Menschen. Und das war eine sehr eindrucksvolle Szene, denn die Menschen, die da standen, haben nicht nur gejubelt. Es war eine Mischung an Gefühlen. Sie sahen Menschen, die jubelten, die lachten, die vor Freude strahlten, und Sie sahen Menschen, die nur ruhig da standen und Tränen über die Wangen liefen. Und das ist eine ganz eigenartige Mischung an Gefühlen, die auf einen einwirken. Und das war auch bei der Kundgebung dann so. Ich stand nicht oben mit dem Bundeskanzler auf der Rednertribüne, sondern ich habe mich bewusst unter die Menschen gemischt, und auch da habe ich den Eindruck gewonnen, die Erfahrung gemacht, dass einige vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen waren und andere nur still da standen mit sehr ernsten Gesichtern, oder weinten.
von Billerbeck: Warum wollte sich Kohl eigentlich damals in Dresden mit Hans Modrow treffen und ist nicht nach Berlin gegangen, um mit Egon Krenz zu sprechen, der ja damals noch SED-Generalsekretär war?
Teltschik: Das hat einen sehr amüsanten Hintergrund. Als Egon Krenz der neue Generalsekretär wurde, hat er ja sofort den Bundeskanzler angerufen und mit ihm am Telefon in einer sehr kumpelhaften Weise gesprochen. Ich habe das mithören können, und ich dachte mir, wenn der Herr Krenz jetzt neben dem Helmut Kohl gestanden hätte, hätte er ihm erst mal auf die Schulter geklopft, so: "Alter Junge, jetzt lass und mal die Sache gemeinsam anpacken." So war der Stil. Und die Frage war natürlich, wann soll der Bundeskanzler Krenz treffen. Krenz drängte ja auch auf eine rasche Begegnung. Und das Amüsante war, dass der sowjetische Botschafter zu mir ins Büro kam und sagte, er wolle mir eine Empfehlung für den Bundeskanzler geben. Der Bundeskanzler möge sich nicht mehr mit Krenz treffen, denn Krenz werde den nächsten Parteitag der SED nicht überleben. Und wir konnten ja nicht öffentlich sagen, der Bundeskanzler oder der Bundeskanzler selbst, ich treffe mich nicht mehr mit Krenz, weil ...
von Billerbeck: ... die Sowjets gesagt haben ...
Teltschik: Ja. Weil die Sowjetunion uns abgeraten hat. Das war doch sehr amüsant.
von Billerbeck: Wie schreibt man eigentlich so schnell eine so wichtige Rede, und wie viel davon war improvisiert?
Mehrheit der Menschen wollte die Einheit
Teltschik: Es war keine fertig geschriebene Rede. Am Abend vorher waren wir im Zimmer des Bundeskanzlers, der Bundeskanzler, der Chef des Bundeskanzleramtes, Herr Seiters, und ich, und überlegten, was in einer solchen Rede gesagt werden sollte. Und Helmut Kohl, und den Text gibt es ja, hatte Papier vor sich liegen, und hat aus diesem Gespräch Stichworte aufgenommen und mit seinem dicken schwarzen Stift auch diese Stichworte notiert. Und er hat dann gewissermaßen improvisierend geredet. Und aus meiner Sicht ist er an diesem Abend über sich hinausgewachsen. Er hat eine tolle Rede gehalten nur aufgrund von Stichworten, die wir so im Rahmen eines Brainstormings, also laut denkend, diskutiert hatten.
von Billerbeck: Herr Teltschik, wie haben Sie das empfunden? Begann an diesem Abend die deutsche Vereinigung, an diesem 19. Dezember?
Teltschik: Nein, die begann ja schon mit der Öffnung der Mauer, begann der Prozess. Aber was klar wurde in Dresden: dass die DDR-Bürger die Einheit wollen, dass es nicht nur hieß, wir sind das Volk, sondern dass es auch von da ab ganz klar hieß, wir sind ein Volk. Und der Bundeskanzler fühlte sich bestätigt, die Menschen wollen die Einheit, zumindest die Mehrheit der Menschen, und sie haben das unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Und Sie müssen eine zweite Erfahrung von Dresden bedenken. Helmut Kohl hatte ja ein Gespräch mit Modrow. Und auf diesem Hintergrund des Gesprächs ging es ja darum: Wie soll es denn jetzt eigentlich mit der DDR weitergehen? Und das Gespräch mit Modrow war tief enttäuschend, weil wir nicht den Eindruck hatten – ich war bei diesem Gespräch dabei –, dass Modrow den Ernst der Situation in der DDR erkannt hatte. Er war nicht in der Lage, dem Bundeskanzler zu erläutern, ob und welche Reformen er durchführen wolle, weder auf der wirtschaftlichen Basis noch auf der politischen.
von Billerbeck: Der einstige Vizekanzleramtschef von Helmut Kohl, Horst Teltschik, war das, über Kohls schwierige Rede in Dresden vor 25 Jahren, am 19. Dezember 1989. Herr Teltschik, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Teltschik: Gerne, Frau von Billerbeck!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.