Historische Entmystifizierung

Rezensiert von Eberhard Straub · 16.02.2007
Preußen wird oft als der säbelrasselnde Militärstaat dargestellt, der Deutschland 1933 in den Untergang führte. - Dieses Urteil basiert auf Mythen und Legenden, meint der britische Historiker Christopher Clark, der in seinem Buch "Preußen" den Aufstieg und Fall des Landes nachzeichnet.
"Ich will von Neutralität nichts wissen noch hören." Das ließ König Gustav Adolf von Schweden seinem Schwager, dem Kurfürsten Georg Wilhelm von Brandenburg im Februar 1631 mitteilen. Wenn er an seine Grenzen komme, müsse er sich ich als Freund oder Feind zu erkennen geben. Ein Drittes gebe es nicht, denn hier streite Gott und der Teufel. Als Brandenburg-Preußen zum ersten Mal in einen Krieg verwickelt wird, will es ihm vernünftigerweise ausweichen.

Christopher Clark erinnert mehrfach in seinem soeben bei der Deutschen Verlagsanstalt in München erschienen Buch "Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947" daran, dass dieser im Februar 1947 auf Betreiben der Engländer und US-Amerikaner von den Alliierten endgültig aufgelöste Staat, nicht von jeher militaristisch und angriffslüstern war und ununterbrochen die Ruhe Europas störte. Sobald es um hoch ideologisierte Kämpfe ging, also um Gott und Teufel oder Gut und Böse, wie etwa während der Kriege gegen das revolutionäre Frankreich, zog das unaufgeregte Preußen 1795 die Neutralität vor.

"’Alle Welt weiß, dass ich den Krieg verabscheue’, schrieb König Friedrich Wilhelm III. seinem Onkel, ‚und dass ich nichts Größeres auf Erden kenne als die Bewahrung des Friedens und der Ruhe als einziges System, das sich für das Glück der Menschheit eignet’."
Als 1854 der Westen erstmals als Wertegemeinschaft gegen Russland als Reich des Bösen kämpfte, weigerte sich Preußen, sich an einer solch überspannten Auseinandersetzung zu beteiligen. Die Londoner Times warf dem besonnen Staat daraufhin vor, immer nur zu verhandeln, aber vor den Konsequenzen zurückzuschrecken. Wie Preußen auf diese Art eine Macht bleiben könne, wisse niemand.

Der Philosoph Leibniz, der Begründer der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1701, warnte eindringlich vor Neutralität, weil sie wenig Ehre brächte:

"’Der Neutrale gleicht jenem, der im mittleren Stock wohnt, der wird von dem untersten beraucht und von dem obersten urina perfundiret’,
also mit dem Inhalt von dessen Nachttopf übergossen."

Diese bittere Erfahrung hat Preußen nicht davon abgehalten, lieber neutral zu bleiben als sich in Kriege zu stürzen, aber sie überzeugte diesen Staat auch davon, dass eine starke eigene Armee das einzige Mittel ist, um sich unter den Staaten selbständig behaupten zu können. "Alliancen seind zwahr gutt", wie der Große Kurfürst 1667 bemerkte, "aber eigene Krefte noch besser, darauff kann man sich sicherer verlassen und ist ein Herr in keiner consideration, wan er selber nicht mittell undt volkk hatt, den das hatt mich, von der zeit das Ichs also gehalten, Gott sey gedanckt considerabel gemacht".

Die Armee, die er aufbaute und zu erstaunlichen Siegen führte, galt als Mittel, sich vom Druck anderer Mächte lösen und unabhängig, nach eigenem Willen, auftreten zu können. Darin lag nichts Außergewöhnliches, wie Christopher Clark erläutert. Danach strebten alle Staaten, auch wenn es nur wenigen, unter ihnen Brandenburg-Preußen gelang, eine europäische Macht in diesem Sinne zu werden.

Das stehende Heer war zugleich der mächtige Motor, der dazu antrieb, um es unterhalten zu können, das Steuersystem zu systematisieren, die Verwaltung zu rationalisieren, Industriepolitik zu betreiben und, was vor allem in Preußen bald bedacht wurde, sich um die Schulen und Volksbildung zu kümmern. Ohne die Armee gab es keine effiziente Staatlichkeit. Das hatten Spanier und Franzosen zuerst gewusst, die Preußen glichen sich später ihrem Beispiel an. Für Christopher Clark ist der werdende preußische Staat ein Beispiel für gemeineuropäische Tendenzen. Mit ihnen deuten sich keine Sonderwege an, vielmehr wäre es überraschend gewesen, wenn sich Preußen anders verhalten hätte. Was allerdings besondere Nuancen gar nicht verhindert. Der preußische Pietismus mochte den Einzelnen auf den geheimnisvollen Weg nach Innen verweisen, um zur Seelenschönheit zu gelangen. Doch der mit sich beschäftigte Mensch findet nur zur Vollkommenheit, wenn er mit guten Werken auf die anderen einwirkt und zum Gemeinen Wohl das Seine beiträgt. Der Beruf wird darüber zum Gottesdienst, eine praktische Vernunft steht der göttlichen nicht im Wege, sondern beide erhellen und ergänzen sich.

Sie ermöglichen Aufklärung, die Befreiung aus Unselbständigkeit und Bildung durch Wissenschaft und Kunst. Der monarchische Absolutismus duldete in diesem Sinne viele Eigenwilligkeiten, die er versuchte mit einem gesamtstaatlichen Wollen zu koordinieren. Preußen wurde deshalb nie zu einem zentralistischen Staat, sondern glich einer Föderation von Provinzen und Ländern, die anfangs drastisch und allmählich behutsam in Übereinstimmung durch die königlichen Beamten und Offiziere gebracht wurden. Das allein konnte aber nicht die Sicherheit unter unruhigen Nachbarn garantieren.
""Es gehört zu den zentralen Problemen der Geschichte Brandenburg-Preußens, dass es dies Gefühl der Verwundbarkeit niemals überwinden konnte"," gibt Christopher Clark zu bedenken.

Dieses Gefühl teilte es zwar mit sämtlichen Staaten, aber es war bei den unzusammenhängenden Besitzungen vom Rhein bis zur Memel in Preußen bedrängender. Nach den Vorstellungen der Staatsvernunft musste Preußen danach trachten, sein Territorium abzurunden, um sich einem kompakten Staatskörper zu verschaffen.

Dieser Absicht galten die Eroberungen Schlesiens und zumindest die ersten beiden Teilungen Polens. Friedrich der Große verfolgte seine Interessen, um das immer bewegliche Gleichgewicht der Mächte anders auszubalancieren. Er wollte nie Österreich zerschlagen, wie es Bayern und Franzosen planten, und zur Teilung Polens konnte es nur kommen, weil Österreich und Russland daran interessiert waren. Übrigens begann, worauf Christopher Clark zu Recht hinweist, mit der Teilung Polens die völlige Umgestaltung der europäischen Staatenwelt. Geschichte wurde zur Geographie in Bewegung. Erst auf dem Wiener Kongress 1815 wurde eine neue Ordnung festgelegt, die im Großen und Ganzen bis 1914 anerkannt blieb. Das Deutsche Reich von 1871 stürzte sie nicht um. Bismarck, der mit drei raschen Kriegen das Reich ermöglicht hatte, wuchs rasch in die Rolle des Vermittlers hinein, des Lotsen, des ehrlichen Maklers zum Vorteil Europas. Mit der nationalen Einigung der Deutschen, der größten Leistung Preußens für Christopher Clark, begannen für ihn die Krisen Preußens. Es war ein Staat wie die anderen im Reiche. Das Reich mit seinen Bedürfnissen drängte alle Sonderbestrebungen nach und in den Hintergrund. Auch Preußen musste sich dem Willen und den Gesetzen des Reiches, wie er vom Reichskanzler, dem Bundesrat und dem Reichstag formuliert wurden, einordnen. Preußen hatte keine eigene Geschichte mehr, es gab nur noch deutsche Geschichte. Preußen ging in Deutschland auf.

Das berührte unmittelbar die Frage seiner Existenzberechtigung. Denn Pläne, das allzu große Preußen aufzuteilen, gab es unter den Deutschen seit 1815 immer wieder. 1919 war Preußen bereit, sich aufzulösen. Preußen blieb erhalten, weil Deutschland es brauchte, in der Furcht, gerade die Rheinprovinzen könnten sich vom Reich lösen. So erfüllte es noch einmal eine wichtige, eine deutsche Funktion. Außerdem war das sozialdemokratische Preußen die wichtigste Stütze für die ungesicherte Republik. Preußen mochte ein Militärstaat gewesen sein – wie alle modernen Staaten – aber es war nicht von einer militarisierten Gesellschaft beherrscht. Der Geist der Diskussion hatte seit dem 18. Jahrhundert eine einseitige Entwicklung unmöglich gemacht. Selbst Preußentum und Sozialismus schlossen einander nicht aus. War das Beamtentum für Hegel der allgemeine Stand, so für seinen Schüler Marx das Proletariat als Verkörperung des allgemeinen Interesses. Endete die Geschichte des Reiches in den bekannten Katastrophen, hat das weniger mit preußischen als mit deutschen Traditionen zu tun. Christopher Clark verzichtet darauf, diese näher zu bestimmen.

Sein Buch richtet sich vorzugsweise gegen die frühere britische Vorstellung vom militaristisch-aggressiven Machtstaat, der Untertanen mit Kadavergehorsam erzog und Deutschland auf einen fürchterlichen Sonderweg in der Geschichte Euroopas zwang. Darin sieht Christopher Clark eine kriegsbedingte Geschichtspolitik, deren Ideen allerdings über den heutigen Lord Dahrendorf im kollektiven Bewusstsein der Bundesrepublik fest verankert wurden. Diese Vorstellungen erklärten David Blackbourn und Geoff Eley schon 1980 zu Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Christopher Clark normalisiert und entmythisiert in deren Sinn Preußen. Er hat keine Angst vor Preußen. Damit stürzt er unweigerlich lokale Humanisten in Verlegenheit. Sind die Preußen nicht die alleinigen Bösewichte, die harmlose Deutsche zu übler Tat 1933 verführten, ja wurden die Preußen von Deutschen auf Abwege gelockt, dann lösen sich viele Mythen als Märchen auf. Und genau das widerstrebt den schwäbischen, bayerischen, badischen oder rheinischen Geschichtspolitikern, die sich in der alten Bundesrepublik als das andere, das bessere Deutschland empfahlen. Deshalb sei Ihnen dies Buch besonders empfohlen.

Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600 – 1947
Aus dem Englischen von Richard Barth, Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007
Christopher Clark: Preußen
Christopher Clark: Preußen© Deutsche Verlags-Anstalt