Historiker zum Erklärmuster "Ostbiografie"

Eine Erfahrungsgemeinschaft - und trotzdem Individuen

09:53 Minuten
Ein Reisepass und andere Ausweisdokumente der DDR liegen auf einem Ausstellungstisch.
Ausweisdokumente der DDR: Das Konstrukt Ostbiografie entstand mit dem Untergang der DDR, so Michael Lühmann. © Picture Alliance / dpa Zentralbild / Jan Woitas
Michael Lühmann im Gespräch mit Julius Stucke · 03.07.2020
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Eine Ostbiografie könne manches erklären. Aber auch dieser Ansatz habe seine Grenzen, meint Michael Lühmann. Menschen seien durch ihren gemeinsamen Erfahrungsraum in der DDR und nach ihrem Untergang geprägt - aber nicht festgelegt, so der Historiker.
Anfang der Woche schreibt der Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Siegfried Reiprich, auf Twitter über die Randale von Stuttgart: "War da nun eine Bundeskristallnacht oder 'nur' ein südwestdeutsches Scherbennächtle? Das wollen wir doch hoffen, und mehr: weg damit! Braucht keiner."
Im Interview mit der "Leipziger Volkszeitung" sagt Reiprich später, der Tweet sei "ungeschickt" gewesen. Ein weiterer umstrittener Tweet folgt: Reiprich schreibt, Weiße Menschen in Europa würden bald einer Minderheit angehören und bezieht sich auf den verstorbenen Journalisten Peter-Scholl-Latour, ohne die konkrete Quelle zu nennen.

Biografie eines Bürgerrechtlers in der DDR

Schnell poppt die Frage auf, ob das mit Reiprichs Biografie zu tun habe? Aus dem Osten, DDR-Bürgerrechtler, verfolgt, inhaftiert und ausgebürgert.
Jens-Christian Wagner, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in Deutschland, sagt, Reiprichs Lebenslauf könne eine Rolle dabei gespielt haben, wie er sein Amt interpretiert hat. "Ja das mag zumindest erklären, warum er einen Schwerpunkt auf SED-Unrecht gelegt hat."
Und der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba verlangt: "Er muss trotz möglicher biografischer bitterer Erfahrungen in der Lage sein, eine Balance zwischen dem DDR-Terror und dem ungleich größeren NS-Terror herzustellen."

Ostbiografie als gemeinsamer Erfahrungsraum

Angesprochen auf das potenzielle Erklärmuster Ostbiografie, sagt Michael Lühmann, dass es jedenfalls eine Ostbiografie gebe – im Unterschied zur nichtexistenten Westbiografie, wo man sich viel stärker regional verorte. Diese Ostbiografie habe auch eine gewisse Bedeutung, weil es einen gemeinsamen Erfahrungsraum gebe.
Dieser Erfahrungsraum basiere auf den Erfahrungen aus der DDR und denen in der Zeit nach 1990, als sich ein Ostdeutschlandgefühl eingestellt habe: "Das, wovon die SED immer geträumt hat, dass es eine gemeinsame ostdeutsche Identität gebe, das hat es dann als Selbst- und Fremdzuschreibungsprozess gegeben", hebt er die Ironie der Geschichte hervor.
Im Fall von Siegfried Reiprich spiele die Ostbiografie durchaus eine Rolle, glaubt der Historiker und Politikwissenschaftler. Reiprich als Aufarbeiter, als Gegner auch des SED-Staats. "Da haben wir dann manchmal so Übersprungshandlungen, dass in dieser Gegnerschaft zur SED auf dem rechten Auge ein bisschen Blindheit vorherrscht", sagt der Wissenschaftler an der Universität Göttingen. Man sehe das auch bei anderen Bürgerrechtlern wie Vera Lengsfeld und Michael Beleites.
Eine Ostbiografie dürfe aber keine Entschuldigung für Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im Osten sein. "Es wird vieles mit ostdeutscher Biografie entschuldigt", sagt Lühmann. Es gebe aber eben auch ganz andere Haltungen, betont er, dass gerade aus Ostbiografien heraus rechten Äußerungen widersprochen werde.

"Auf die einzelnen Biografien hinweisen"

"Ostdeutschland bildet zwar eine Erfahrungsgemeinschaft, aber die Ableitungen sind wahnsinnig unterschiedlich", diagnostiziert Michael Lühmann. "Und die fallen dann wieder auf die einzelnen Personen zurück, und nicht auf die Ostbiografie an sich." Man mache es sich zu einfach, wenn man alles mit Ostdeutschland überbügele.
So gebe es einerseits Dissidenz, die in Richtung rechts kippt, es gebe aber auch genügend Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen, "die genau die gleiche Dissidenzerfahrung gemacht haben – und denen keine Rechtsblindheit, sondern denen eine generelle Ablehnung von totalitären Entwürfen und Staatsfeindlichkeit eingeschrieben ist".
Zu sagen, "der war Dissident, deswegen ist das eben so", sei zu einfach – zumal es schon in der DDR im Dissidentenmilieu Unterschiede gegeben habe: Berlin sei eher links gewesen, der Süden Sachsen schon immer etwas patriotischer, wenn man den positiv besetzten Begriff benutzen wolle, meint Lühmann.
"Da gibt es eine ganze Menge sehr, sehr alter Konflikte. Die sind nicht erst nach 1990 entstanden, die waren davor auch schon da", erläutert er.
Lühmanns Fazit: "Deswegen muss man immer wieder auf die einzelnen Biografien und auf die Ableitungen hinweisen, die die Menschen treffen – und auch zurückweisen, dass es da eine Systematik oder eine Struktur gibt, die einen zu dem werden lässt, was man ist."
"Wenn man nach rechts abdriftet, ist das immer eine eigene Entscheidung", so der Historiker.
(Axel Rahmlow / mfu)
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