Historiker über sprunghaftes Wählerverhalten

"Irgendwann kommt der große Knall"

Die britische Premierministerin Theresa May
Radikale Stimmungsumschwünge nehmen zu - das musste nun auch Großbritanniens Premierministerin Theresa May erleben. © dpa/ Sputnik/ Alex McNaughton
Andreas Rödder im Gespräch mit Ute Welty  · 10.06.2017
Ob Theresa May oder Martin Schulz – der Abstand zwischen Erfolg und Krise scheint immer kürzer, der Wähler immer unberechenbarer zu werden. Eine derartige Beschleunigung gab es noch nie, sagt der Historiker Andreas Rödder. Das habe auch mit der digitalisierten Medienöffentlichkeit zu tun.
Eine schallende Ohrfeige hat Theresa May bei den Wahlen in Großbritannien kassiert – und das obwohl es im Frühjahr noch nach einem deutlichen Sieg für die Tories ausgesehen hatte. Auch die Brexit-Entscheidung, die Wahl Donald Trumps, der Sieg von Emmanuel Macron in Frankreich oder der Absturz von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz zeigen: Quasi über Nacht kann es zu radikalen Wenden in der öffentlichen Meinung kommen.
Die Sprunghaftigkeit in der öffentlichen Meinung sei stärker denn je, sagt der Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Andreas Rödder. Dies habe viel mit der beschleunigten, digitalisierten Medienöffentlichkeit zu tun, in der zahlreiche Akteure um Aufmerksamkeit buhlten "und sich miteinander immer schneller im Kreis drehen, so dass es allen schwindelig wird".
Politiker hätten kaum Möglichkeiten, adäquat auf solche schnellen Stimmungsumschwünge zu reagieren, so der Historiker. "Denken Sie doch nur an den Schulz-Hype, der zu Beginn des Jahres losging und der nahtlos in diesen Schulz-Fall übergegangen ist." Alle suchte nun fieberhaft nach Erklärungen, doch diese griffen meist zu kurz. Rödder: "Welches Image in der Öffentlichkeit entsteht – ich habe den Eindruck, das haben Politiker weniger in der Hand denn je."
Er, Rödder, mache sich "tatsächlich Sorgen um die Rationalität der politischen Öffentlichkeit". Kurzfristige Aufgeregtheiten habe es zwar schon immer gegeben. Doch "das Ganze hat sich so beschleunigt, dass daraus eine Atemlosigkeit entstanden ist, die der politischen Debatte überhaupt nicht gut tut". Ähnlich wie auf dem Finanzmarkt, werde das nicht endlos gut gehen, warnt der Historiker: "Wenn da niemand rauskommt, dann machen alle weiter, bis es irgendwann zum großen Knall kommt."

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Stellen Sie sich vor, sie sind zehn Jahre lang von allem ausgeschlossen, weil Sie zum Beispiel im Gefängnis sitzen. Nach einer solch langen Zeit dann wieder auf die Welt und auf die Veränderungen zu schauen, das ist mit Sicherheit eine interessante Erfahrung, und es ist die Ausgangssituation für das Buch "21.0: Eine kurze Geschichte der Gegenwart".
Geschrieben hat dieses Buch Andreas Rödder, Professor für neueste Geschichte in Mainz, und ich könnte mir vorstellen, dass es ihm in den Fingern juckt, diesem Buch einige Kapitel hinzuzufügen, so viel wie passiert und vor allem so schnell wie alles passiert. Keine drei Monate hat es beispielsweise gedauert, bis die britische Premierministerin einen veritablen Vorsprung verbrauchte, um am Ende bei den vorgezogenen Neuwahlen, die sie selbst angestoßen hatte, ihre absolute Mehrheit zu verlieren. Ob sich die Welt tatsächlich schneller dreht oder ob es sich mehr um eine subjektive Wahrnehmung handelt, für diese Frage nehmen wir uns jetzt etwas Zeit. Guten Morgen, Herr Rödder!
Andreas Rödder: Einen schönen guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wie ist es Ihnen denn ergangen, als Sie von den jüngsten Entwicklungen in Großbritannien gehört haben? Sie haben ja auch schon zur englischen Industrialisierung geforscht.
Rödder: Ja, man ist ja doch immer wieder überrascht, selbst wenn man mit dem Überraschenden rechnet. Also mit diesem Ausgang der britischen Wahlen hätte ich tatsächlich auch noch vor zwei Wochen nicht gerechnet. Tatsächlich muss man ja nicht zehn Jahre ins Gefängnis gehen dafür, dass die Welt um einen herum sich verändert.

Meinungsumschwünge über Nacht

Welty: Es geht auch leichter!
Rödder: Man muss jetzt nur nach Feierabend abends ins Bett gehen und wird morgens überrascht wach, aber tatsächlich haben wir da wieder die nächste Überraschung erlebt, und diese Überraschungen gehen ja im Moment in alle Richtungen los. Jetzt in Großbritannien, ganz anders, als das letztes Jahr im Juni bei der Brexit-Abstimmung war. Wir haben die große Überraschung mit der Trump-Wahl erlebt, umgekehrt aber bei der Nordrhein-Westfalen-Wahl ein Ergebnis erlebt, dass man auch acht Wochen vorher überhaupt nicht erwartet hätte, und ich erinnere daran: noch im Dezember haben alle gedacht, Francois Fillon würde der nächste Präsident von Frankreich werden.
Welty: Das heißt, Theresa May hat damit nicht rechnen müssen, dass sich das Blatt wendet und vor allem, dass es sich gegen sie wendet, weil eben die Zeiten tatsächlich schneller geworden sind.
Rödder: Tatsächlich haben ja alle erwartet, dass die Wahl ganz anders ausgehen würde als sie ausgegangen ist, und alle miteinander sind davon überrascht worden. Ich glaube, wir müssen zwei Dinge voneinander trennen: Auf der einen Seite die Unberechenbarkeit von Ereignissen, die hat es immer schon gegeben. Immer schon sind überraschende Ereignisse eingetreten, die die Karten ganz neu gemischt haben.
Das andere aber ist eine Volatilität, eine Sprunghaftigkeit von öffentlichen Stimmungen, und da habe ich tatsächlich den Eindruck, die ist stärker denn je geworden – in allen Ländern. Wir haben ja gerade von ganz verschiedenen Ländern schon gesprochen. Ich glaube, das hat eine Menge mit dieser digitalisierten beschleunigten Medienöffentlichkeit zu tun, in der Politik und Parteien, Meinungsforschungsinstitute und Massenmedien, die unter dem Druck einer beschleunigten Öffentlichkeit stehen, gegenseitig um Aufmerksamkeit buhlen und sich miteinander immer schneller im Kreis drehen, sodass es allen schwindelig wird.

Beispiel Martin Schulz - nahtlos vom Hype zum Fall

Welty: Hat Politik überhaupt so etwas wie einen Instrumentenkasten zur Hand, um eben solchen Stimmungsschwankungen und solchen Umschwüngen zu begegnen, also zu verhindern, dass einem schwindelig wird?
Rödder: Im Moment hat man ja den Eindruck, dass diese Möglichkeiten extrem begrenzt, wenn überhaupt vorhanden sind. Denken Sie doch nur an diesen Schulz-Hype, der zu Beginn des Jahres losging und der dann nahtlos in diesen Schulz-Fall übergegangen ist. Wir suchen jetzt fieberhaft nach Gründen, was Schulz falsch gemacht haben könnte, so wie man im Februar fieberhaft nach Gründen gesucht hat, wo dieser Hype jetzt herkommt.
Alle Erklärungen haben sich als extrem kurzfristig erwiesen, und letztendlich steht das, was Schulz getan hat, in keiner Relation sowohl zu dem Hype als auch zu dem großen Fall, den er erlebt hat. Dasselbe gilt jetzt im Moment für Theresa May. Wir suchen nach Gründen, mit der Demenzsteuer oder ihrer Haltung zum Brexit. Alles das steht in keiner Relation zu diesen enormen Ausschlägen in der öffentlichen Meinung und den Meinungsumfragen.
Man würde ja am ehesten sagen, was dem Politiker, der Politikerin hilft, ist das, was Gerhard Schröder seinerzeit die ruhige Hand genannt hat, und dann kommt man bei Angela Merkel raus, die ja tatsächlich wie ein Fels in der Brandung steht, aber selbst da wird man beim zweiten Gedanken sagen, dass Image und die Substanz sind zwei unterschiedliche Dinge. Angela Merkel lebt von ihrem Image der naturwissenschaftlich-rationalen, der sachlich-nüchternen Politikerin, die überlegt und abgewogen handelt. Wenn sie aber dieses Bild vergleichen mit der Politik, sagen wir: der Energiewende oder der Flüchtlingskrise, dann steht da das Image und die Substanz der Politik durchaus unverbunden nebeneinander, und welches Image öffentlich entsteht, ich habe den Eindruck, das haben Politiker weniger in der Hand denn je.
Welty: Das ist jetzt auch nicht gerade eine beruhigende These, Herr Rödder!
Rödder: Nein, ist es auch nicht, und ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich mache mir gerade jetzt vor dem Hintergrund der Entwicklungen mit Schulz, diesem Hype und Theresa May tatsächlich Sorgen um die Rationalität der politischen Öffentlichkeit, offenkundig ja nicht nur in Deutschland. Man hat den Eindruck, wie gesagt, alle drehen sich immer schneller umeinander, und man würde sich ja eigentlich wünschen, dass Politiker und Medien sagen würden, nehmen wir doch Rücksicht auf die politische Öffentlichkeit, machen wir mal ein bisschen langsamer, aber niemand kann aus der eigenen Rationalität heraus.
Und da sage ich Ihnen, ist meine Erfahrung als Historiker, wenn da niemand rauskommt, dann machen alle weiter, bis es irgendwann zum großen Knall kommt. Das ist in der Weltfinanzkrise 2008 auf der Ebene der Finanzmärkte passiert, und ich habe im Moment den Eindruck, dass wir solche Blasenbildungen auf dem Markt der politischen Öffentlichkeit erleben.
Welty: Aber das, was Sie gerade beschrieben haben, wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist das ja tatsächlich eine neue Entwicklung. Das hat es zu anderen Zeiten so noch nicht gegeben.

Krisen im Minutentakt

Rödder: Also es hat immer kurzfristige Aufgeregtheiten gegeben, und Politiker sind immer der Meinung gewesen, dass sie Getriebene der öffentlichen Meinung waren. Das hat schon Bismarck gedacht, das hat schon Adenauer, das hat schon Kohl gedacht, und immer sagt man im Nachhinein, na ja, ganz so war es nicht, aber dennoch erleben wir natürlich im Moment eine Beschleunigung, die nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Dimension hat.
Ich erinnere mich, und insofern ist manches ähnlich, 1851 bei der Weltausstellung in London hat ein Beobachter geschrieben, dort auf der Weltausstellung sei eine neue Druckerpresse angepriesen worden, mit der jetzt über eine Parlamentsdebatte in London schon am selben Tag berichtet werden könne. Na ja, schrieb er, es war auch kein Nachteil, wenn eine Nacht dazwischen lag und der Kommentator mal Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken.
Das kommt uns ja alles irgendwie bekannt vor, aber dennoch leben wir mittlerweile ja von Zeittakten von wenigen Minuten, bis eine Nachricht im Internet bei "Spiegel Online" oder "Bild.de" oder wo aufpoppt, und das Ganze hat sich so beschleunigt, dass daraus tatsächlich eine Atemlosigkeit entstanden ist, die der politischen Debatte überhaupt nicht gut tut. Also würde ich sagen, das Phänomen ist nicht ganz neu, aber es hat sich doch erheblich zugespitzt.
Welty: Einfach mal durchatmen empfiehlt der Historiker Andreas Rödder, nachdem er das Tempo von politischen Entwicklungen analysiert hat hier für uns im "Studio 9"-Gespräch. Haben Sie herzlichen Dank dafür!
Rödder: Sehr gerne, Frau Welty!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. DLFKultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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