Historiker über die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen

"Kemmerichs Leichtfertigkeit ist ein Skandal"

08:00 Minuten
AfD-Politiker Björn Höcke schüttelt Thomas Kemmerling (FDP) die Hand.
AfD-Politiker Björn Höcke (rechts) gratuliert Thomas Kemmerling (FDP) zur Wahl als Ministerpräsident von Thüringen. © imago images / Karina Hessland
Norbert Frei im Gespräch mit Dieter Kassel · 06.02.2020
Audio herunterladen
Nach der Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten geraten CDU und FDP in Thüringen unter Druck. Der Jenaer Historiker Norbert Frei wirft Kemmerich Geschichtsvergessenheit vor und zieht historische Parallelen.
Der Jenaer Historiker Norbert Frei wirft dem neuen Ministerpräsidenten von Thüringen, Thomas Kemmerich, Geschichtsvergessenheit vor. Ausgerechnet Kemmerich sei mit dem Slogan in den Wahlkampf gezogen: "Endlich eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat."

Als "Glatze" in den Wahlkampf gezogen

Wenn der FPD-Politiker tatsächlich dort aufgepasst hätte, wüsste er, dass die "vermeintlich bürgerlich-konservativen Kräfte schon einmal die Demokratie an ihre Feinde ausgeliefert haben", sagt Frei, auf die Machtübernahme der Nationalsozialisten anspielend. Die Leichtfertigkeit, mit der Kemmerich sich in die Gefahr begeben habe, von "erklärten Antidemokraten" gewählt zu werden, sei ein Skandal, so der Historiker.
Sowohl FDP als auch CDU in Thüringen geraten nach der gestrigen Ministerpräsidentenwahl unter starken Druck. Die CDU-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer ließ in einer Reaktion auf die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) mit Hilfe von CDU- und AfD-Stimmen keinen Zweifel daran, was sie von dem Vorgang hält und forderte Kemmerich zum Rücktritt auf.
Kemmerich war im Thüringer Landtag überraschend mit den Stimmen von Liberalen, CDU und AfD zum Regierungschef gewählt worden. Der Kandidat der FDP setzte sich knapp gegen den bisherigen Regierungschef Bodo Ramelow von den Linken durch.

SPD, Grüne und Linke reagieren empört

Es ist das erste Mal, dass die AfD einen Ministerpräsidenten mitbestimmt. SPD, Grüne und Linke reagierten empört. Harsche Kritik kommt aber auch aus den Reihen von CDU, CSU und FDP. Der Großen Koalition im Bund könnte eine Zerreißprobe drohen: Für Samstag ist in Berlin ein Treffen des Koalitionsausschusses terminiert.
Die Bundes-FDP findet derweil noch keine klare Linie. Parteichef Christian Lindner sagte, seine Partei verhandle und kooperiere nicht mit der AfD. Zugleich appellierte er aber auch an CDU, SPD und Grüne, ein Gesprächsangebot Kemmerichs anzunehmen.
Das Foto zeigt Demonstranten vor der FDP-Geschäftsstelle in München: Die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen sorgte bundesweit für Proteste.
Demonstranten vor der FDP-Geschäftsstelle in München: Die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen sorgte bundesweit für Proteste.© picture alliance / Lino Mirgeler / dpa
Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Mitglied im Bundesvorstand der FDP, sieht für den neuen Ministerpräsidenten von Thüringen hingegen keine Zukunft. Kemmerich täte der FDP und der Demokratie einen Gefallen, wenn er das Amt zurückgäbe und damit Neuwahlen auslöse, sagt sie.
Sie selbst sei über die Wahl von Kemmerich mit den Stimmen der AfD fassungslos gewesen, so Strack-Zimmermann. "Ich war entsetzt", betont sie: "und bin es auch nach einer kurzen Nacht immer noch."
Sie schätze Kemmerich, doch sich mit den Stimmen der "Höcke-AfD" wählen zu lassen, sei "unvorstellbar und entsetzlich". Dass Kemmerich nun auch noch an dem Amt festhalte, erschüttere sie als Liberale persönlich sehr.
"Lieber kein Ministerpräsident als von Leuten unterstützt und gewählt zu werden, die rechtsradikal sind. Herr Höcke ist ein Faschist", so die FDP-Politikerin.

"Nicht gegenseitig die Augen auskratzen"

"In diesem Fall wird – und da bin ich sehr optimistisch – Christian Lindner und das Präsidium dezidiert sich äußern und Thomas Kemmerich zum Rücktritt auffordern. Es kann nicht sein, dass ein kleines Land wie Thüringen die Bundesrepublik in Erschütterung versetzt."
Die Demokraten dürften nun nicht den Fehler machen, sich gegenseitig "die Augen auszukratzen", warnt sie. Das sei genau das, was Höcke wolle. Dieser nutze die Verfassung mit dem Ziel, sie letztendlich abzuschaffen. "Das ist dramatisch und wir sollten aufpassen, dass wir jetzt zusammenhalten", sagt Strack-Zimmermann.
Das Gespräch mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann hören Sie hier:
(ahe)
Mehr zum Thema