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Theater
Mehr für die Ohren als für die Augen

Die Theaterfassung von Judith Schalansy "Atlas der abgelegenen Inseln" war ein lang gehegtes Projekt von Regisseur Thom Luz. Die Zuschauer bekommen immer nur einen Teil des Geschehens zu sehen. Mit dem Hören komme man näher an die Seele ran und auch an Orte, an die man sonst nicht gelange, sagt Luz.

Von Alexander Kohlmann | 19.09.2014
    Als August Gissler aufgab, hatte er 16 Jahre seines Lebens auf der Kokos-Insel verbracht. Sechzehn Jahre des Grabens und Suchens - nur 30 goldene Dukaten hatte er zum Schluss gefunden. Trotzdem gab er den Traum vom Schatz niemals auf. "Ich bin sicher, es liegen große Schätze auf der Insel", sagte Gissler noch auf dem Sterbebett. Und: "Wenn ich jung wäre, würde ich noch mal von vorne anfangen".
    Die Geschichte der gescheiterten Schatzsuche ist nur eine der absonderlichen Begebenheiten, die die Autorin Judith Schalansy in ihrem "Atlas der abgelegenen Inseln" zusammengetragen hat. Geschichten, die jede einzelne für sich mehr sind, als bloßes Seemannsgarn.
    "Es geht auch um diesen philosophischen Akt. Durch den Akt, dass man ihr einen Namen gibt und sie vermisst nach Höhe, Länge, Breite, Temperatur - macht man sich die Wirklichkeit zu eigen. Und das ist ein kolonialer Akt. Und je länger wir das schon tun, umso mehr merken wir, dass wir nicht wirklich Herr geworden sind über die Wirklichkeit. Sondern im Gegenteil: Wir sind ja nicht mal Herr unserer selbst", sagt Regisseur Thom Luz.
    Ähnlich wie Gisslers Schatzsuche ist die Theaterfassung von "Atlas der abgelegenen Insel" ein von ihm bereits lange gehegtes Projekt. Bereits seit drei Jahren schmiedet er Pläne zu einer Bühnenfassung des Kartenmaterials. Das Theater sei der richtige Ort für eine Überwindung von Zeit und Raum. Und einer Gleichzeitigkeit, wie sie anderen Medien fremd sei, ist sich Luz sicher.
    "Es ist ein Abend, der viel stärker fürs Gehör spielt als fürs Sehen. Es spielt viel mehr für die Ohren, als für die Augen dieser Abend, weil man mit Klang und mit Hören sowieso näher an der Seele dran ist und auch an Orte hinkommt, wo man sonst nicht hinkommt im Leben."
    Über drei Etagen in der Cumberlandschen Galerie hat er die Inselträume verteilt. Mit ihren gusseisernen Treppengeländern und den opulenten Holzschnitzereien sieht dieses Treppenhaus aus dem vorletzten Jahrhundert aus wie ein Luxusliner. Einer, der schon vor Jahren außer Dienst gegangen ist. Auf drei Stockwerken sitzen die Zuschauer. Sie können immer nur einen Teil des Abends sehen, aus den anderen Decks hören sie Töne und Klänge. Und Wortfetzen der Schauspieler, die in historisierenden Kostümen über die Stufen huschen.
    Eine von ihnen ist Sophie Kraus. Die junge Frau ist neu am Schauspiel Hannover und hat eine Art Matrosen-Kostüm an. Der Sog der Inselgeschichten verfolge einen, erzählt Kraus. Wie fast alle in der Produktion, hat sie eine der fünfzig Geschichten besonders fasziniert.
    "Ich würde gerne nach Pukapuka reisen. Auf Pukapuka leben alle Leute nackt und jeder kann mit jedem schlafen. Und es gibt keine Eifersucht. Und abends treffen sich alle am Strand, es wird gesungen, dann wird miteinander geschlafen, dann wird getrunken, dann wird wieder gesungen, und eine Frau ist sogar mehr wert, wenn sie schon ein Kind hat, bevor sie geheiratet hat."
    Fast alle der fünfzig abgelegenen Inseln kommen irgendwie vor an diesem Abend. Schiffslaternen werden durch alle drei Stockwerke nach unten gelassen, bevor sie im Erdgeschoss des Dampfers zu baumeln beginnen. Trockeneis hängt an riesigen Haken. Dazwischen wandeln die Schauspieler. Eine schön alte Frau mit geisterhaften Wispern. Ein kleiner Mann im feinen Anzug. Ein Getriebener, der sich in einer Decke wärmt. Und ein Orchester, das bei seinem Zug durch die Etagen an die Musiker der "Titanic" erinnert.
    Und die immerwährende Angst, etwas zu verpassen, auf den anderen Etagen, die wir als Besucher nicht sehen können. Der Insel-Atlas ist wie eine Analogie auf das Leben, es ist immer da schöner, wo wir gerade nicht sind. Und wir wollen immer gerade dasjenige Leben führen, das wir gerade nicht führen.