Historiker: Hitler ist in die Rolle des Messias geschlüpft

Ludolf Herbst im Gespräch mit Joachim Scholl · 02.06.2010
Adolf Hitler habe früh begriffen, dass Politik Theater ist. Er habe seine Politik mit einiger autodidaktischer Begabung als Theater aufgezogen, sagt der Historiker Ludolf Herbst, von dem das kürzlich erschienene Buch "Hitlers Charisma: Die Erfindung eines deutschen Messias" stammt.
Joachim Scholl: "Die bekannte Geschichte verzeichnet keine Erscheinung wie ihn: Soll man ihn groß nennen?", das ist der erste Satz in der berühmten Hitler-Biografie von Joachim Fest, und diesem Gedanken folgend hat er sich wie viele andere Historiker gefragt, wie es Hitler gelingen konnte, so viel Hysterie, Jubel und Heilserwartung zu entfesseln. War es das vielbeschworene Charisma, über das Hitler verfügt haben soll? Der Berliner Historiker Ludolf Herbst hat dieses Charisma nun erstmals einer genauen Prüfung unterzogen und ein Buch darüber geschrieben: "Hitlers Charisma: Die Erfindung eines deutschen Messias", so der Titel. Guten Tag, Herr Herbst!

Ludolf Herbst: Hallo, Herr Scholl!

Scholl: Hitlers Biografen beschreiben seine Persönlichkeit durchweg als gewöhnlich, primitiv, kontaktgestört, im gesellschaftlichen Umgang linkisch, ungeschickt. Wie macht so einer überhaupt auf sich aufmerksam und entfaltet eine Wirkung, dass er andere in seinen Bann ziehen kann?

Herbst: Ich denke, er hat eins sehr früh begriffen, dass Politik Theater ist, und hat dieses mit einiger Begabung, würde ich auch sagen, als Autodidakt dann auch als Theater aufgezogen. Erfahrung hat er als Zuschauer in der Theater und in der Oper genügend in Linz, in Wien, in München, später auch noch gesammelt, aber wie gesagt, er ist kein Fachmann, er ist Laie und Autodidakt mit einer Begabung für Inszenierungen und für den Blick auf das Äußerliche, könnte man sagen. Das war auch sein eigentliches Interesse: Er hat sich die Parlamentsdebatten in Wien (Anm. d. Red.: Schwer verständlich) angehört im Parlament, obwohl er die Sprachen nicht verstehen konnte, um die Gestik zu studieren. Und das, denke ich mal, ist auch seine Hauptzielrichtung geblieben: Er hat dann ja sehr früh eine intensive Beziehung zu einem Fotoatelier in München hergestellt, Heinrich Hoffmann, und hat sich mit dem Medium Bild und mit dem Medium Gestik und Außendarstellung beschäftigt, und dann später, als der Film da war, auch mit dem Film. Das war eines der Hauptinteressensfelder des Propagandisten Hitler. Er hat später ... jede Wochenschau, die raus kam, hat er vorher gesehen und sich vergewissert, ob das dem Bild, das ihm vorschwebte, entsprach.

Scholl: Sie haben für Ihre Analyse des Charismas auf die Begrifflichkeit des Soziologen Max Weber zurückgegriffen, der schon Anfang des 20. Jahrhunderts den Typus charismatischer Herrschaft entwarf. Was heißt das, kurz gefasst?

Herbst: Die Herrschaft eines begabten, als begnadet angesehenen Führers oder Propheten, Messias über seine Gefolgschaft, im Grunde genommen das Modell eines Messias wie etwa Christus und seine zwölf Jünger. Man könnte ... Das ist das einfachste Modell, was man finden kann dafür. Das ist das, denke ich mal, das ist das Modell, das hat es in vielfältiger Weise gegeben, Rilke und seine Jünger, Stefan George, es gibt solche Kreise im künstlerischen Umfeld, im religiösen Umfeld und eben auch im politischen Umfeld oder im wissenschaftlichen auch, nicht, die Götter in Weiß und ihre Gefolgschaft könnte man ja sagen, wenn sie so über die Flure rollen. Das, denke ich, ist der Kern, und Weber will natürlich auf den Herrschaftsbegriff raus, er sagt: Herrschaft, das ist die Chance für einen Befehl, Gehorsam zu finden. Das heißt konkret: Diese Gefolgschaft tut, was der Führer oder Prophet oder Missionar will, er lässt sie an seinem Auftrag, seiner Mission teilhaben und sie erwarten von ihm, dass die Bestimmung, der er glaubt, folgen zu müssen, zum Erfolg wird. Das heißt: Diese charismatische Herrschaft muss sich bewähren.

Scholl: Nach Weber bildet sich Charisma als soziale Beziehung zwischen Führer und Gefolgschaft, wobei der zentrale Begriff hier der Glaube ist, das heißt, die Anhänger müssen auch an den Führer glauben, sonst auch kein Charisma. Aber wie hat sich der Politiker Hitler, der als entwurzelter Soldat aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrte, zu einer solch charismatischen Führerfigur entwickeln können?

Herbst: Das ist immer eine Wechselbeziehung: Man kann sich selbst so entwerfen, das hat Hitler in "Mein Kampf" getan, er hat sich dort als Messias dargestellt und empfohlen gewissermaßen, und er hat innerhalb des völkischen, nationalen Milieus ein Klima gefunden, in dem auf einen Führer, einen Messias gewartet wurde und er ist dann allmählich in diese Erwartungshaltungen hineingeschlüpft. Es gab andere Kandidaten dafür, aber er hat das Rennen gemacht, vielleicht deswegen, weil er am skrupellosesten in der Lage war, die Erwartungen des Publikums aufzunehmen und ihnen zu entsprechen, das heißt, den Antisemitismus zum Propagandathema zu machen, den verlorenen Krieg, den Frieden von Versailles und all die angeblichen nationalen Demütigungen. Das ist beim Publikum angekommen und hat skrupellos das gesagt, was die Leute von ihm hören wollten.

Scholl: Sie sprechen, Herr Herbst, von der Erfindung eines deutschen Messias. Wie wurde denn dieser Messias erfunden?

Herbst: Ich denke, es gibt mehrere Ebenen, die erste ist Hitler selbst, Hitler erfindet sich als Messias, entwirft sich als Messias in "Mein Kampf", und dann gibt es innerhalb der völkischen Bewegung einige, die sich später als Hitlers Gefolgsleute entpuppen, die sagen: Das ist unser Mann, den nehmen wir. Der macht bei uns das, was Mussolini in Italien gemacht hat und bringt uns an die Macht. Deswegen: Erfindung, damals Selbsterfindung durch Hitler und Erfindung durch Arthur Rosenberg, Rudolf Heß, Dietrich Eckart und einige von diesen späteren Gefolgsleuten, die in ihm die Zukunft, den zukünftigen, politischen Führer Deutschlands erblicken. Die letzten, die den Charismatiker Hitler erfinden, sind die Historiker, die machen das dann auch noch mal, indem sie sich das Verhängnis der deutschen Geschichte nicht anders erklären können oder meinen, erklären zu können als durch die Wirkung einer großen Persönlichkeit. Das ist Tradition aus dem 19. Jahrhundert, könnte man sagen, das ist die Tradition der bürgerlichen Geschichtsschreibung gewesen.

Scholl: Welche Rolle hat bei dieser Erfindung, Herr Herbst, die Propaganda gespielt? Georg Lukács hat schon in den 1940er-Jahren bemerkt, wie wirkungsvoll die NS-Propaganda mit den Mitteln der amerikanischen Reklame arbeitet. War Hitlers Charisma, wenn man so will, ein einziger genialer Werbespot?

Herbst: Ja, das würde ich nicht für völlig falsch halten. Ich denke mal schon, Georg Lukács hat Hitlers "Mein Kampf" gründlich gelesen und begriffen, was da drin steckt. Er hat die Begabung gesehen für die vereinfachenden Verfahren – wie gesagt, wie Sie schon sagen – amerikanischer Werbestrategie. Und das ist auch einer der Anknüpfungspunkte, die Max Weber gesehen hat. Auch Weber fährt in die Vereinigten Staaten und beobachtet den amerikanischen Wahlkampf, das ist auch eine seiner empirischen Quellen, aus denen er den Begriff der charismatischen Herrschaft ableitet.

Scholl: Hitlers vermeintliches Charisma, darüber hat der Historiker Ludolf Herbst ein Buch geschrieben, er ist hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch. Sie, Herr Herbst, haben diese mediale Erfindung eines Messias bis hin zur Machtübernahme 1933 verfolgt. Interessant ist ja auch, wie dieses Charisma dann von Staats wegen weiter inszeniert wird. Jetzt hatten die Nazis ja so alle Mittel in der Hand, das auch exzessiv zu tun.

Herbst: Ja, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Man kann sagen, dass die Durch- oder Ausformung des charismatischen Führers als Modell der NS-Propaganda in Leni Riefenstahls Film "Triumph des Willens" perfekt ins Kino gebracht worden ist.

Scholl: Nun könnte man sagen, mediale Erfindung hin oder her, es hat ja anscheinend funktioniert, gewirkt, und irritierenderweise umso stärker, je näher der Zusammenbruch kam. Man kennt die Berichte aus dem Führerbunker, wo noch im April 1945, als schon die russische Artillerie nach Berlin hineinschoss, Wehrmachtsgeneräle mit leuchtenden Augen aus einer Hitler-Audienz herausgingen und wieder an den Endsieg glaubten. War das nicht doch auch ein Triumph jenes Charismas, der sich auch noch selbst im Untergang erfüllt?

Herbst: Ich bin da sehr skeptisch. Es ist sicherlich sehr vieles hineingelesen worden in die Geschichte des Untergangs in Berlin, aber im Grunde genommen wird man doch konstatieren müssen: Der Mann war vollkommen hilflos, hilflos und abgeschnitten, nur noch in der Lage, in seinem Bunker Autorität auszuüben. Die Dinge waren nicht mehr zu wenden, am Ende Selbstmord, und das scheint ja am deutlichsten auch zu bestätigen, dass der Messias eben kein Messias ist und dass er sich auch selbst als am Ende befindlich fühlt.

Scholl: Wenn wir die Hitlerbilder sehen, die dokumentierten, seine Reden hören, seine Auftritte, die Fotografien – sind wir, die Nachwelt, dann nicht auch auf diese Inszenierung hereingefallen?

Herbst: Ja, wir haben natürlich durch das Fernsehen eine enorme Präsenz dieser Propagandafilme des Nationalsozialismus und von daher die Möglichkeit, das stilisierte geschlossene Bild, das die Nazis von sich geben wollten, auch zu sehen im Bild. Und das ist die suggestivste Form der Überlieferung, die es gibt.

Scholl: Hitlers Charisma hält sich weiter?

Herbst: Ich denke mal, dass, wenn man den Begriff ernst nimmt, dann ist dieses Charisma nicht vorhanden gewesen, denn es gibt ja dieses Element der Bewährung nicht. Da ist kein Politiker, der sich bewährt, sondern es ist ein Politiker, der versagt, er versagt ständig, nur Mord und Totschlag und Terror sind die Dinge, die von ihm zurückbleiben, die sich mit seinem Namen verbinden, damals und auch in Zukunft – ein Segen für die Menschheit, dass das 1945 in dem Beschuss Berlin untergegangen ist und nicht wieder auferstanden ist. Ich denke mal, dass die Reichweite dieser Bilder oder dieser Bildsequenzen, dieser Filme, die gezeigt werden, heutzutage relativ gering ist. Die Menschen wundern sich eher, warum man sich damals von diesem Mann hat faszinieren lassen. Es ist trotz der ausgefeilten Propagandatechniken und der selektiven Filminszenierung von Hitlers Charisma im Grunde genommen nicht mehr möglich, das auf heutige Verhältnisse zu übertragen. Das Charisma ist wie weggeblasen, das ist auch kein Wunder. Es geht von diesem Mann nichts aus.

Scholl: "Hitlers Charisma: Die Erfindung eines deutschen Messias", das Buch von Ludolf Herbst ist jetzt im S. Fischer Verlag erschienen, 330 Seiten zum Preis von 22,90 Euro. Herr Herbst, danke Ihnen für das Gespräch!

Herbst: Vielen Dank!