Historiker Heinrich August Winkler

"Wenn der Westen scheitert, dann an sich selbst"

28:19 Minuten
Porträt von dem Historiker Heinrich August Winkler in seinem Büro in der Humboldt Universität in Berlin. Er blickt ernst nach oben.
Donald Trumps Geringschätzung der Werte der amerikanischen Revolution sei ein Novum in der US-Geschichte, sagt Heinrich August Winkler. © picture alliance / Tagesspiegel / Mike Wolff
Moderation: Winfried Sträter · 20.11.2019
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Der Westen ist das Lebensthema des Historikers Heinrich August Winkler. In seinem Buch "Werte und Mächte" hat er noch einmal Stärken und Schwächen der westlichen Demokratien analysiert. Die müssten ihre freiheitlichen Ideen vor allem selbst ernst nehmen.
Es sei vor allem der Westen selbst, der sich bedroht, sagt Winkler. Heute werde er nicht mehr wie zu Zeiten des Kalten Krieges ideologisch infrage gestellt. Weder von Moskau noch von Peking gehe eine intellektuelle Herausforderung aus. Die größte Bedrohung sei die Infragestellung westlicher Werte durch die USA unter der Regierung von Donald Trump. Dessen Geringschätzung der Werte der amerikanischen Revolution sei ein Novum in der US-Geschichte.
Trotzdem ist Winkler optimistisch: Die amerikanische Gesellschaft sei nicht zu vergleichen mit der deutschen vor 1933. Der Pluralismus in den USA sei nicht gefährdet, auch die Gewaltenteilung habe Trump nicht außer Kraft setzen können. Schlimmstenfalls würden die USA sogar acht Jahre Trump überstehen.

Berufung auf Menschenrechte trotz Sklavenhaltung

Beim Blick zurück zu den Anfängen des amerikanischen Aufbruchs in die Demokratie fällt der grundlegende Widerspruch auf: Einerseits bekennt sich die Virginia Declaration of Rights 1776 zu unveräußerlichen Menschenrechten – andererseits gehört die Sklavenhaltung zum Alltag auch der führenden amerikanischen Politiker dieser Zeit.
"Dieses Projekt war klüger als seine in rassistischen Vorstellungen befangenen Urheber", sagt Heinrich August Winkler dazu. "In der Tat: Jefferson und Washington waren Sklaven-Besitzer und betrachteten Sklaven nicht als gleichwertige Menschen. Aber diejenigen, die diese großartigen Texte der Virginia Declaration oder der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung lasen, wonach alle Menschen frei sind und mit gleichen Rechten geboren sind, konnten sich auf diese Worte gegen die Urheber dieser Worte berufen.
Genau so ist es in den folgenden Jahrzehnten zwischen zwei Jahrhunderten immer wieder geschehen. Die amerikanischen Ureinwohner und die aus Afrika zwangsimportierten Sklaven konnten das Versprechen der amerikanischen Verfassung zur Grundlage ihrer Forderungen machen und haben dies so gemacht."

Kolonialismus als eklatanter Verstoß gegen die Werte

Der Widerspruch ist dennoch nicht aufgelöst, denn einerseits wurde die Sklaverei abgeschafft, andererseits folgte der Kolonialismus, vor allem durch die europäischen Mächte. Auch der ist für Winkler ein eklatanter Verstoß gegen die westlichen Werte. Andererseits betont er die massive Kritik, die innerhalb des Westens schon frühzeitig am Kolonialismus geübt wurde.
"Es gab immer auch Kräfte, die sich aufgelehnt haben gegen diese Perversion des westlichen Denkens und Handelns. Auf was können wir uns eigentlich bei der Kritik des Kolonialismus und Imperialismus normativ berufen, wenn nicht auf das, was die Gründerväter – und es waren leider nur Gründerväter – des westlichen Projekts Ende des 18. Jahrhunderts zu Protokoll gegeben haben?! Und wenn es diese Möglichkeit der Korrektur nicht gäbe, dann hätten wir keinerlei Anlass, im westlichen Projekt etwas bis heute Verbindliches zu sehen."
Diese Fähigkeit zur Selbstkritik sei der grundlegende Unterschied zu politischen Systemen wie in China. Winkler zweifelt an der langfristigen Überlebensfähigkeit des totalitären Systems, das den Menschen Bürgerrechte vorenthalte und ein abschreckendes System totaler Überwachung aufbaue.
"Nein, ohne Gewaltenteilung, ohne die elementaren Grundbedingungen von Rechtsstaatlichkeit ist nachhaltiger Erfolg von Regimen kaum vorstellbar. Deswegen glaube ich nicht, dass von der Volksrepublik China auf die Dauer eine Ausstrahlungskraft ausgeht, die man vergleichen könnte mit dem, was aus den atlantischen Revolutionen im Westen hervorgegangen ist."

Wohlstand wichtiger als demokratische Freiheiten?

Eine Herausforderung ist allerdings die chinesische Leistung, einen weltweit einmaligen Wohlstandsschub ohne Demokratisierung geschafft zu haben. Das wirft die Frage auf, ob der Wohlstand für die Akzeptanz eines Regierungssystems wichtiger ist als demokratische Freiheiten. Winkler sieht dieses Phänomen, kann sich aber nicht vorstellen, dass auf Dauer der chinesischen Mittelschicht und den Intellektuellen der Wohlstand reichen wird. Ohne Rechtsstaatlichkeit werde das System in eine Legitimationskrise geraten.
"Wer könnte sich für ein solches totalitäres Überwachungssystem begeistern, wie es in China systematisch ausgebaut wird?"
Ob sich die westlichen Ideen durchsetzen, hänge vom Westen selbst ab.
"Wenn er glaubt, man könne sich auch über die Gewaltenteilung und die Herrschaft des Rechts hinwegsetzen, dann hat er jede Chance, sich selbst zu zerstören. Und Ansätze dazu gibt es."
Menschenfreundlichere Ideen hat es noch nie gegeben
Historisch betrachtet ist alles möglich. Auch die antike Welt ist einst untergegangen. Ihre Ideen wurden in Klöstern aufbewahrt und in einer fernen Zukunft wiederentdeckt und neu belebt. Kann sich Heinrich August Winkler vorstellen, dass auch das auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausgerichtete "normative Projekt des Westens" untergeht und Winklers Werke über diese historische Epoche erst in späteren Zeiten wiederentdeckt werden?
"Ich glaube, es kommt darauf an, dass wir alles tun, damit das westliche Projekt den Verlust der globalen Weltstellung des Westens überlebt. Zumindest in den westlichen Demokratien selbst müssen die Ideen ernst genommen werden, auf die wir uns in Sonntagsreden so gerne berufen. Wenn der Westen scheitert, scheitert er an sich selbst. Und wenn andere vielleicht später einmal, ich hoffe, das Intervall ist dann möglichst kurz, diese Werte wieder entdecken, dann wird man vermutlich entdecken, dass menschenfreundlichere Ideen bisher nicht gedacht worden sind."
(wist)

Heinrich August Winkler: Werte und Mächte. Eine Geschichte der westlichen Welt
C. H. Beck, München 2019
968 Seiten, 38 Euro

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