Historiker Dabag: Faktizität des Genozids an Armeniern ist nicht bestreitbar

Mihran Dabag im Gespräch mit Katrin Heise · 14.10.2009
Der Historiker Mihran Dabag hält die Vereinbarung zwischen der Türkei und Armenien, eine gemeinsame Historikerkommission zur Erforschung des Völkermordes an den Armeniern für eine "Verzögerungstaktik" der Türkei. "Man will mit dieser Historikerkommission gerade eine Relativierung oder Revidierung des Geschichtsbildes erreichen".
Katrin Heise: Ein ganzes Jahrhundert lang waren die Türken und Armenier Erzfeinde. Nun soll sich das ändern. Am vergangenen Wochenende unterzeichneten Armenier und Türken Vereinbarungen zur Normalisierung der Verhältnisse. Botschafter sollen ausgetauscht werden, die Öffnung der 350 Kilometer langen Grenze ist angekündigt und eine internationale Historikerkommission soll über die Massaker an den Armeniern verübt von den Osmanen 1915-1917 aufklären. Diese Wende in den türkisch-armenischen Beziehungen sorgt durchaus für Misstrauen sowohl in der armenischen Gesellschaft, als auch in der türkischen. (…)

Zur Reaktion der Exilarmenier hören wir jetzt Mihran Dabag. Er ist gebürtiger Armenier und Direktor des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum. Guten Tag, Herr Dabag!

Mihran Dabag: Ja, guten Tag, Frau Heise!

Heise: Der Knackpunkt bei diesen Protokollen, die da unterschrieben wurden, ist ja die Einsetzung der Historikerkommission, die die Wahrheit über die Massaker an der armenischen Bevölkerung 1915 bis 1917 herausfinden soll. Was bedeutet für Sie diese Einsetzung einer internationalen Historikerkommission?

Dabag: Ja, mit dieser Historikerkommission hat die Türkei eine ganz wichtige Zielsetzung erreicht, nämlich zur Diskussion der Frage des Völkermords, der Relativierung der Geschichte und die Verhinderung der Anerkennung des Völkermords durch Drittstaaten dienen soll.

Heise: Es ist ja eigentlich nicht klar, was die Historiker herausfinden werden. Halten Sie es denn nicht für möglich, dass durch die Ergebnisse die Türkei sich gezwungen sieht, historische Zugeständnisse zu machen und den Genozid zuzugeben?

Dabag: Ja, ich glaube nicht, dass die Türkei diesen Genozid zuzugeben bereit ist, sonst wäre sie schon längst bereit gewesen, sondern man will mit dieser Historikerkommission gerade eine Relativierung oder Revidierung des Geschichtsbildes erreichen. Außerdem ich bin der Meinung, die Erforschung eines Genozids setzt zunächst die Anerkennung der Tat voraus, da ansonsten die Diskussion in der Frage, Völkermord ja oder nein, gefangen bleibt und zudem die Opfer dazu gezwungen werden, den Nachweis für die Wahrheit ihrer Geschichte und ihrer Erfahrung zu erbringen. Zur Qualifizierung eines Aktes staatlicher Gewalt als Genozid genügt das Ergebnis dieser Gewalt. Wenn eine Bevölkerung vernichtet und ihre Präsenz, ihre Kultur und Geschichte in einem Staat beendet worden ist, dann ist die Faktizität eines Völkermords nicht mehr zu hinterfragen. Das war auch eine Forderung von Lemkin, Raphael Lemkin, der den Begriff Genozid geprägt hat.

Heise: Der Kern des Völkermordsvorwurfs ist ja die Vernichtungsabsicht, die halten Sie für erwiesen?

Dabag: Natürlich ist es Absicht, erwiesen. Wie sollte eine Bevölkerungsgruppe in dieser Weise deportiert und dann sozusagen vernichtet werden? Wie soll eine Absicht eigentlich noch nachgewiesen werden als das Ergebnis der Tötung?

Heise: Jetzt soll es sich ja um eine international besetzte Historikerkommission handeln. Hikmet Özdemir, der die türkische Regierung berät, wünscht sich, dass alle Beteiligten die Archive öffnen und die Tageszeitung "Die Welt" zitiert ihn eben damit, dass wenn dabei herauskäme, dass es ein Genozid war, dass die Türkei das auch anerkennen würde. Sie zweifeln aber daran?

Dabag: Ich zweifele sehr daran, weil ich das als eine Verzögerungstaktik sehe, um die Verhinderung der Anerkennung des Völkermords durch dritte Staaten zu erreichen.

Heise: Einerseits heißt es immer, der Genozid an der armenischen Bevölkerung sei identitätsstiftend gerade für Exilarmenier, umgekehrt habe ich bei Ihnen oder von Ihnen gelesen, die Leugnung des Völkermordes von türkischer Seite her gehöre zur nationaltürkischen Identität. Da hat man schon den Eindruck, dass eigentlich ein Dialog über die Vergangenheit auch helfen kann.

Dabag: Dialog kann natürlich helfen, aber wie ich vorhin gesagt habe, Voraussetzung ist die Anerkennung der Faktizität. Die Frage, wissen Sie, mit Archiven ist doch eine Farce, ist das. Es kommt darauf an, wie wir in unserer Holocaust-Forschung und Nationalismusforschung gemacht haben, nach der Anerkennung der Faktizität ohne diese Belastung, ohne diese Belastung ja oder nein, aufrichtig in einem Dialog gemeinsam mit unterschiedlichen Wissenschaftlern unterschiedliche Aspekte dieses Geschehens erforschen.

Heise: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann halten Sie das Ganze also für einen Schachzug der Türkei, Sie halten es dafür, dass da etwas relativiert wird. Wie erklären Sie sich die internationalen Reaktionen darauf, die ja doch mit Erleichterung auf diese Annäherung reagiert haben?

Dabag: Die Staaten sind erleichtert, weil sie eine Sorge los sind oder los werden möchten. Es ist meiner Meinung nach so, dass heute wir vor der Situation stehen, dass die Erinnerung an die Opfer und ihre konstitutive Bedeutung für die europäische Demokratie, ihre Bedeutung für Freiheit und Frieden in Europa zu verlieren, nämlich wir sind bereit, Staaten zu akzeptieren, die eine Leugnung behaupten und dies sozusagen auch erfolgreich durchsetzen wollen. Stattdessen wird eine armenische Diaspora als nationalistisch diffamiert, gerade weil sie auf der Erinnerung an den Völkermord, an die Vernichtung ihrer Eltern und Großeltern beharrt. Es findet eine Umkehrung sozusagen statt dessen, was wir nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht haben.

Heise: Schauen wir uns mal eine andere Seite an, eher so die private, die persönliche Seite. Es gibt Proteste auf türkischer und armenischer Seite von den jeweiligen Oppositionen gegen diese Unterzeichnung der Protokolle, im Bericht, den wir vorhin hörten, da klang aber auch immer wieder an, dass es im Verhältnis zwischen Türken und Armeniern ja doch immer wieder auch eine Rolle spielt, ob man einander schon mal begegnet ist. Können Sie sich denn eine Annäherung der Menschen untereinander vorstellen?

Dabag: Das war nie ein Problem, die Begegnung der Menschen miteinander. Es geht hier um eine politische Leugnung, die eine politische Antwort braucht.

Heise: Welche Antwort soll denn jetzt aber gegeben werden, wo man diesen Schritt gegangen ist?

Dabag: Dass man jetzt die Hartnäckigkeit beibehält und beharrt auf dieser Erinnerung und die Faktizität des Völkermords.
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