Hinterlassenschaften eines Besessenen

Von Jochen Stöckmann · 06.11.2010
Selten bekommt die Präsentation eines Literaturmuseums so viel Aufmerksamkeit wie die Ernst Jünger-Ausstellung in Marbach. In der Schau "Arbeiter am Abgrund" geht es weniger um die Bewertung des politisch umstrittenen Künstlers, als vielmehr um die genaue Betrachtung all jener Dinge, die der 1998 im Alter von 102 Jahren verstorbene Zeuge des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat.
Am Anfang war der Stahlhelm: Das von zwei Kugeln durchlöcherte Exemplar, mit dem der Stoßtruppführer Ernst Jünger die Grabenkämpfe des Ersten Weltkriegs überstand, liegt im Marbacher Literaturmuseum zu ebener Erde in einem Glassarkophag. Anschließend verweisen Geländeskizzen auf den Krieger, Fundstücke wie Muscheln oder Steine auf den Waldgänger Ernst Jünger. Der Naturforscher ist mit seiner Käfersammlung präsent, exotische Amulette erinnern an seine Vorliebe für abenteuerliche Expeditionen. Das Rückgrat der Ausstellung aber bilden 260 aufgeblätterte Tagebücher, in denen noch der Hundertjährige Notizen, Erinnerungen und Gedanken handschriftlich vermerkte:

Ulrich Raulff: "Wir wollten diese Ästhetik des Nachlasses zeigen und Jünger als einen durchaus modernen Autor. Er zeichnet Schwingungen und Stöße auf, er ist Seismograf, der aber auf der anderen Seite auch besessen ist von der Arbeit am eigenen Werk, am eigenen Nimbus, am eigenen Mythos."

Ulrich Raulff leitet kein Schriftsteller-Walhalla, sondern das Literaturmuseum der Moderne. In Marbach werden nicht einzelne Autoren aufs Podest gehoben, sondern Schreibprozesse sichtbar, anschaulich gemacht. So, wie 2006 bereits in einer Ausstellung über Arno Schmidt:

Ulrich Raulff: "Schreibtechniker sind sie beide, auch im Fetischismus des Materials: Das sind bei Jünger die vielen Notizbücher. Auf der Seite Schmidts sind es eben die berühmten Zettelkästen. Und beide sind bis zur Obsession eingespannt in ihre Schreibwerkstätten. In dem, welche Bildwelten sie eröffnet, da unterscheiden sie sich natürlich vollständig."

Auch mit dem Weltbild des Antimilitaristen Arno Schmidt hat der Kosmos des Kriegshelden Ernst Jünger nichts gemein: Auf Glasböden, fünffach übereinander geschichtet, schweben Pour-le-Mérite-Orden oder die erbeutete Trinkflasche eines getöteten englischen Offiziers zwischen Briefen, Büchern und Zeitungsausschnitten. Umgeben von solchen Memorabilien entdeckte Kuratorin Heike Gfrereis eine bislang kaum beachtete Seite Jüngers: Er war ein Süchtiger, ein Sammler, abhängig von Objekten:

Heike Gfrereis: "Eben jemand, der gezielt mit den Materialien umgeht, nicht poesialbumshaft oder botanisierend, sondern wo oft auch die Materialien den Texten zuwiderlaufen, auch plötzlich von unten, vom Bodensatz des Archivs aus an die Oberfläche geschwemmt werden."

Damit wird die glatte Monumentalität von Büchern wie "Stahlgewitter" oder "Marmorklippen" aufgeraut, Jüngers publizierte Texte zurückversetzt in ihr Ursprungsstadium einer regelrechten Materialschlacht. Im Blick auf einige von Granatsplittern durchsiebte oder mit Rotwein befleckte Tagebuchseiten eröffnet sich ein neues, unübersichtliches Gelände:

Heike Gfrereis: "Immer wieder kommt er an den Punkt, wo er nicht mehr weiter weiß und alles kaputtmachen muss, um wieder neu anzufangen. Das ist eines seiner Leitmotive, dass der, der etwas schafft, auch zerstören muss. Ganze Textauslöschungen, sei es durch Überstreichungen, Ornamentalisierungen, Überklebungen, fehlende Seiten, auch Ausrisse gibt es in diesen Tagebüchern."

Bislang kannte man den kalten Blick des Naturforschers, das quasi mechanische Kameraauge, mit dem der Egomane ohne jede Betroffenheit etwa das preußisch gedrillte und deshalb - so Jünger wörtlich - "vorzügliche Material" seiner Kompanie betrachtete. Kehrseite und notwendige Voraussetzung dieser Haltung werden nun durch Nachlassfunde deutlich:

Heike Gfrereis: "Die Tagebücher zeigen, welche Mittel Jünger benutzt hat, um sich die Schrecklichkeiten des Krieges vom Leib zu halten. Diese netten kleinen, gezeichneten Granaten, die da neben Pfeifen und Biergläsern auftauchen - Inszenierungen der Albernheit."

Nach dem Krieg widmet sich der Schriftsteller Jünger dann kostbaren Barockbüchern, sammelt Sanduhren, lässt die Käfer seiner sagenhaften Kollektion unter Glas in Gefechtsordnung aufmarschieren wie vorsintflutliche Panzerreiter. Damit versichert er sich einer mythischen, der zeitgenössischen Literatur- oder Stilkritik wie auch jedes moralischen oder gar politischen Einspruchs enthobenen Welt. Nun aber, so Ulrich Raulff, wäre eine Auseinandersetzung fällig:

Ulrich Raulff: "Um einen Autor, der so besessen ist von den Themen des Krieges, der Gewalt, des gewaltsamen Todes, aktuell zu machen. Wir sind ja immerhin eine Nation, die im Krieg ist und die sich damit auseinandersetzen muss - ob sie will oder nicht."

Dafür aber hätte das Literaturmuseum weiter ausgreifen, auch andere Weltkriegsautoren berücksichtigen müssen, von denen kaum noch jemand spricht, weil - "Schreibprozess" hin oder her - alle nur über Jünger streiten.

Link:
Mehr zur Jünger-Ausstellung in Marbach
Mehr zum Thema