Hinter der Fassade ein Feigling

08.07.2013
Erst verehrt und dann verstoßen: Aus einem angesehenen Mitglied der römischen Gesellschaft wird innerhalb kürzester Zeit eine persona non grata, auch weil es ihr an Mut fehlt. Der italienische Schriftsteller Piperno erzählt eine perfekte Geschichte, vielleicht manchmal zu perfekt.
In seinem neuen Roman erzählt der italienische Schriftsteller Alessandro Piperno die Geschichte eines spektakulären Absturzes. Sein strahlender Held Leo Pontecorvo, ein vom Schicksal verwöhnter Liebling der Götter, fällt auf dem Scheitelpunkt seines Erfolges in ungeahnte Tiefen und wird moralisch komplett vernichtet. Dabei hat sich der landesweit geschätzte Kinderonkologe, beliebte Professor und respektable Familienvater nicht einmal schuldig gemacht, sondern schlichtweg falsch verhalten. Eine ausgekochte Zwölfjährige, die Freundin seines zweitgeborenen Sohnes, hat ihn an der Nase herumgeführt und brutal ins Messer laufen lassen. Eine korrupte Krankenhausverwaltung tat ihr übriges.

Piperno beginnt seinen dickleibigen Gesellschaftsroman "Die Verfolgung" mit der Enthüllung des Skandals: An einem idyllisch anmutenden Sommerabend des Jahres 1986 wird Leo Pontecorvo in den Fernsehnachrichten beschuldigt, mit der kleinen Camilla unzüchtige Briefe gewechselt zu haben. Seine beiden Söhne Filippo und Samuel und seine Frau Rachel starren ungläubig auf den Bildschirm, und Pontecorvo bleibt stumm, steigt in das Untergeschoss seines Hauses hinab und ward von Stund´ an nicht mehr gesehen.

Alessandro Piperno, 1972 in Rom geboren, Universitätsdozent für französische Literatur, Proust-Kenner und Verfasser eines Debüts, das zum Bestseller wurde, taucht erneut in das großbürgerliche jüdische Milieu der Hauptstadt ein, dem er selbst entstammt. Er lässt einen jovialen Erzähler auftreten, der den Leser direkt anspricht, gleich zu Anfang das Schicksal des Mediziners vorweg nimmt, die Vorgeschichte nachträgt und die Verstrickungen packend protokolliert.

Virtuos, plastisch und machmal selbstgefällig
Es kommt zur Interaktion zweier Psychopathologien: Camilla hatte sich tatsächlich in den Vater ihres Freundes verliebt und ihm geschrieben. Statt die Grenzüberschreitung zu ahnden, fühlte sich Leo geschmeichelt und antwortete, woraufhin sich das Mädchen in die Rolle einer romantischen Geliebten hineinsteigerte, ohne dass irgendetwas vorgefallen wäre. Aber warum bescheidet sich ausgerechnet der Siegertyp Pontecorvo mit der Rolle des Opfers, die durch Vorwürfe finanzieller Unregelmäßigkeiten im Krankenhaus noch verschärft wird? Als verwöhntes Einzelkind einer jüdischen Mame wurde er zum Feigling erzogen.

Piperno versteht viel vom erzählerischen Geschäft. Mit virtuoser Ironie zeichnet der Autor die Mechanismen der gerade entstandenen Mediengesellschaft nach und entwirft ein plastisches Figurenensemble. Seine opulenten Tableaus, in denen er wortreich schwelgt, bekommen mitunter etwas Selbstgefälliges, oft schnurrt der Erzählfaden des zweiteiligen Familiendramas – für den zweiten Band "Inseparabili" wurde Piperno 2012 mit dem Premio Strega ausgezeichnet – zu glatt herunter. Alessandro Piperno sichert sich ab, indem er aus Leo Pontecorvo ein weinerliches Mamasöhnchen macht. Dass er ein derartig heiß diskutiertes Sujet aufgreift und dem pubertierenden Mädchen den größten Teil der Verantwortung zuschiebt, ist pures Kalkül.

Besprochen von Maike Albath

Alessandro Piperno: "Die Verfolgung"
Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2013
443 Seiten, 22, 99 Euro