Herfried Münkler: Imperien

Rezensiert von Thomas Schmid · 22.07.2005
Friedensdividende: So lautete das schöne Wort, das einst die Runde machte. Wir Europäer, so schien es, hatten Glück gehabt, und mit uns fast die ganze Welt. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Dahinscheiden der Sowjetunion hatte sich ein Konflikt in Luft aufgelöst, der zuvor die atomare Selbstzerstörung der Menschheit möglich erscheinen ließ: der Kalte Krieg zwischen Ost und West.
Das letzte aggressive Imperium war nun aber verschwunden, überall würden sich nun Demokratie und Wohlstand ausbreiten, alle würden die Friedensdividende einstreichen. Und es würde sich zeigen, dass der Weg, den wir Europäer nach zwei Weltkriegskatastrophen eingeschlagen hatten, vorbildhaft ist: der Weg der wechselseitigen vertraglichen Bindung, der Weg des allmählichen Verzichts auf Souveränität und zuviel Macht.

Das war ein Traum, ein schöner Traum vielleicht. Doch mit Bosnien, Kosovo, Irak – um nur ein paar Beispiele zu nennen – kehrte das überwunden Geglaubte machtvoll zurück. Empört stellte die friedfertige Öffentlichkeit Europas fest, dass es doch noch ein Imperium gab – eines zudem, das sich offensichtlich mit Lust imperial aufführte: die Vereinigten Staaten. Aus der schönen neuen Ordnung war eine unwillkommene neue Unordnung geworden.

Wer sich in der zurechtfinden will, sollte das neue Buch des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler als Wegweiser nehmen. Der Titel: "Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten". Münkler geht es um Erkenntnis viel mehr als um Moral. Er will das Phänomen Imperium quer durch die Geschichte vermessen, will die Gesetze von Imperien erkunden. Was also ist ein Imperium? Münkler schreibt:

"Imperien sind mehr als große Staaten; sie bewegen sich in einer ihnen eigenen Welt. Staaten sind in eine Ordnung eingebunden, die sie gemeinsam mit anderen Staaten geschaffen haben und über die sie daher nicht allein verfügen. Imperien dagegen verstehen sich als Schöpfer und Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen abhängt und die sie gegen den Einbruch des Chaos verteidigen müssen. Der Blick in die Geschichte der Imperien zeigt, dass sprachliche Wendungen wie die von der ‚Achse des Bösen’ oder den ‚Vorposten der Tyrannei’ nichts Neues und Besonderes sind. – Während Staaten an den Grenzen anderer Staaten Halt machen und es ihnen selbst überlassen, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln, mischen sich Imperien in die Verhältnisse anderer ein, um ihrer Mission gerecht zu werden. Deshalb können Imperien auch sehr viel stärker Veränderungsprozesse in Gang setzen, während die Ordnung der Staaten durch einen strukturellen Konservatismus geprägt ist. "

Eine Stärke von Münklers Buch rührt daher, dass der Autor einerseits als guter Europäer dem imperialen Streben durchaus skeptisch gegenübersteht: eine Welt ohne Imperien, meint man herauszuhören, wäre ihm deutlich lieber. Andererseits begnügt er sich aber nicht damit, die negativen Seiten von Imperien auszuleuchten. Wenn es sie in Geschichte immer wieder gibt, dann muss es dafür Gründe geben, die über Habsucht und den puren Willen zur Macht hinausreichen.

Münkler behandelt Imperien, die schnell entstanden sind und ihre imperiale Kraft schnell wieder verloren. Etwa das Mongolenreich Dschingis Khans – ein "Steppenimperium" wie Münkler sagt, das in rastloser, für die eroberten Gebiete ruinöser Form entstand: Es folgte keine Konsolidierung, keine Struktur – das Reich zerfiel. Ein anderes gescheitertes Imperium ist, in der frühen Neuzeit, das spanische, das es nicht verstand seine – überseeischen – Eroberungen zu festigen und das aufgrund einer unmodernen inneren Struktur den Wettkampf mit den Briten verlor.

Münkler befasst sich aber vor allem mit erfolgreichen, das heißt: über lange Zeit hinweg bestehenden Imperien. Ein Beispiel: das britische Empire. Nur zwei Gründe für den britischen Erfolg seien hier genannt. Erstens wuchs es nicht vom Zentrum des stets im Inneren so umkämpften Kontinents Europa, sondern von der Peripherie aus: Wäre es, im Zentrum gelegen, von den anderen Mächten schnell in Schach gehalten worden, sicherte ihm die periphere Lage eine gewisse unbeobachtete Selbständigkeit – etwas, das auch den jungen Vereinigten Staaten zugute kam. Zweitens setzte das britische Imperium nicht in erster Linie auf Militär und auf territoriale Gewinne, also auf ein Mehr an schraffierten Flächen auf der Landkarte; es setzte vielmehr auf die Flotte, auf Knotenpunkte, auf Handelwege. Es war beweglicher und damit letztlich wirtschaftlich erfolgreicher als Imperien, die auf ein möglichst großes Territoriums aus waren.

Das zweite Imperium von langer Dauer, das Münkler behandelt, ist jenes, mit dem die Vereinigten Staaten eine Seelenverwandtschaft empfinden: das antike römische Reich. Der Autor interessiert sich vor allem für jene Zeit, die in herkömmlicher Sichtweise gerne als die lange Verfallsgeschichte des Imperium Romanum dargestellt worden ist: also die Zeit vom zweiten nachchristlichen Jahrhundert an. Münkler sieht hier nicht Dekadenz und Niedergang, sondern die erstaunliche Fähigkeit, ein Reich auf Dauer zu stellen. Entscheidend ist hier der "augusteische Schwelle", der Zeitpunkt schon bald nach Christi Geburt, an dem Octavian, der spätere Kaiser Augustus, auf Festigung setzte:

"Octavian ordnete das Verwaltungssystem neu, um die Provinzen aus Räumen oligarchischer Selbstbereicherung in effektiv regierte Reichsteile zu verwandeln. Mit dem Überschreiten der augusteischen Schwelle war die Phase der wilden, planlosen Expansion ebenso wie die der damit verbundenen inneren Konflikte und Bürgerkriege beendet, die römische Herrschaft wurde in einen Zustand stabiler Dauer überführt. Es gelang, bei der Bevölkerung der Provinzen eine innere Bindung an das Imperium zu schaffen. Die Truppenstärke des Reichs konnte deutlich reduziert werden, dadurch sanken die Kosten für die Sicherung des imperialen Raums, und so war es möglich, die Steuerlast zu reduzieren. "

Dem römischen Imperium gelang eine große zivilisierende Leistung. Wie jedes dauerhafte Imperium gab es ein Versprechen auf Wohlstand, weitete die Bürgerrechte im eigenen Herrschaftsbereich aus, schuf eine weitgehend korruptionsfreie Verwaltung und überhöhte das ganze mit der Idee der imperialen Mission – ein Phänomen, das auch heute wieder am Beispiel des einzig verbliebenen Imperiums zu beobachten ist: dem amerikanischen.

Die wechselseitige Aufgabe von Souveränität: in Europa hat es funktioniert. Aber wohl nur, weil Amerika, der wohlwollende Hegemon, ein halbes Jahrhundert lang wie der schützende Hirte über dem europäischen Vertragswerkeln stand. Und einiges spricht dafür, dass die Idee einer von den Vereinten Nationen überwachten Staatenwelt aus lauter Gleichen wenig stabil wäre, ja Konflikt und Krieg dann sofort programmiert wären. Die Welt, argwöhnt Münkler, braucht vielleicht Imperien, braucht Schutzmächte, um ein halbwegs sicherer Ort zu sein. Europa, da ist sich der Autor sicher, müsste ein bisschen imperial werden. Ist es aber nicht oder noch nicht. Solange sollte es sich aber nicht moralisch und sonst wie erhaben fühlen über die Vereinigten Staaten, die heute allein die Kraft besitzen, weltweit zu intervenieren – zum Schlechten oder zum Guten. Die Verachtung Amerikas ist wie ein Hamburger: leicht zu genießen, schmackhaft – aber keine gute Wegzehrung.