Henri Cartier-Bresson: "Man redet immer zu viel"

Der Meister des Augenblicks

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Das Buchcover zu Henri Cartier-Bressons "Man redet immer zu viel"
Spannend, das Jahrhundertleben in Cartier-Bressons eigenen Worten zu erleben. © Deutschlandradio / Schirmer Mosel
Von Eva Hepper · 13.05.2020
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Henri Cartier-Bresson gehört zu den größten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Wie genial und allumfassend er dachte, erfährt man in dem feinen Buch "Man redet immer zu viel", das fünf Gespräche und Interviews über sein Schaffen umfasst.
Henri Cartier-Bresson ist 85 Jahre alt, als Pierre Assouline ihn interviewen möchte. Der große Fotograf aber, damals längst eine Legende, lehnt ab. An "Photo-Talk" hätte er kein Interesse. Doch schließlich räumt Cartier-Bresson ein, dass ein Gespräch – ein Geben und Nehmen also – durchaus möglich sei, denn Neugier auf die Welt und auf andere habe er noch immer. Und so kommt es 1994 doch zum Treffen der beiden Männer und damit zu einem Wortwechsel, der Wesentliches über Arbeit und Leben des Meisters mit der Leica offenbart.

Erstmals in deutscher Übersetzung

Fast dreißig Jahre später erscheint dieses Gespräch nun erstmals in deutscher Übersetzung. Es gehört zu insgesamt zwölf Interviews mit Cartier-Bresson aus fünf Jahrzehnten, die von Kuratoren des "Centre Pompidou" ausgewählt wurden. Geführt wurden die Gespräche für unterschiedliche Magazine; etwa von dem Fotografen Alain Desvergnes (1979), dem Kritiker Gilles Mora (1986) oder den Journalistinnen Yvonne Baby (1961) und Sheila Turner-Seed (1973).
Da fast alle Gespräche seit der Erstveröffentlich nicht wieder publiziert wurden, ist der schmale, feine Band aus dem Schirmer Mosel Verlag eine wahre Kostbarkeit; auch wenn er auf Abbildungen vollkommen verzichtet. Immerhin gibt es bereits viele Regalmeter füllende Bildbände zum Werk des 1908 in Chanteloup-en-Brie geborenen und 2004 in Montjustin gestorbenen Cartier-Bresson.

Ikonische Schwarz-Weiß-Fotografien

Tatsächlich gehören die ikonischen Schwarz-Weiß-Fotografien zum visuellen Gedächtnis: Etwa der triumphierend lächelnde Junge mit den großen Weinflaschen in den Armen, der Mann im Anzug, der über eine Pfütze springt oder die beiden Herren mit Melone und Baskenmütze, die durch eine tuchbespannte Abschirmung spähen.
In den Gesprächen passieren sämtliche wichtige Stationen dieser großen Fotografen-Karriere Revue. Cartier-Bresson erzählt von seiner Herkunft, seinen Anfängen als Maler, ersten Experimenten mit der Kamera, von frühen Reisen nach Afrika, vom Zweiten Weltkrieg und eigener Gefangenschaft sowie von prägenden Einflüssen, von Vorbildern und Freunden, von der berühmten Agentur Magnum und Aufträgen, die ihn schließlich die ganze Welt bereisen ließen.
Es ist ungeheuer spannend, dieses Jahrhundertleben in Cartier-Bressons eigenen Worten zu erleben, zumal sowohl der 40-Jährige wie auch der 85-Jährige mit Leidenschaft und Temperament erzählt. Auch gibt er viel von seiner Persönlichkeit, seinem Denken und Fühlen preis.

Vom Reichtum des Lebens

Die Interviews variieren in ihrer Länge und Qualität. In den besten geht es nicht um technische Details, nicht um die geliebte Leica oder die Wahl des richtigen Objektivs, sondern um weiter gesteckte Themen. Immer wieder etwa spricht der Meister der Schwarz-Weiß-Komposition vom Reichtum des Lebens, der Schönheit wirklichen Sehens und der Poesie der Kunst. Denn, so sein Credo, Fotografie könne man nicht lernen. Es gelte vielmehr, sich um das "intellektuelle Gepäck" zu bemühen, vor allem um Literatur und Malerei. Diese schulten Herz, Hirn und Auge.
So tritt in diesen Interviews ein offener, warmherziger Menschenfreund hervor, der sich den frischen Blick auf die Welt bis ins hohe Alter erhalten hat. Was er denn jetzt den ganzen Tag mache, wo er nicht mehr fotografiere, fragt etwa Pierre Assouline, und "das Auge des Jahrhunderts" antwortet: "Was glauben Sie denn? Ich schaue."

Henri Cartier-Bresson: "Man redet immer zu viel. Gespräche über das Leben, die Kunst und die Photographie"
Aus dem Französischen und Englischen von Marion Kagerer und Michaela Angermair
Schirmer Mosel, München 2020
160 Seiten, 24,80 Euro

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