Helon Habila: "Reisen"

Schmerz und Erlösung

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Cover des Buchs "Reisen" von Helon Habila.
Ein menschlich umsichtiges, politisch kluges und immer wieder sehr ergreifendes Buch: "Reisen" von Helon Habila. © Das Wunderhorn / Deutschlandradio
Von Insa Wilke  · 30.11.2020
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Der nigerianische Autor Helon Habila hat mit "Reisen" einen ebenso überraschenden wie ergreifenden Berlin-Roman geschrieben. Was als realistische Erzählung beginnt, wird zu einer mythischen Parabel.
Über Migranten und Geflüchtete wurden seit 2015 einige Geschichten geschrieben. Von Michael Köhlmeier bis Jenny Erpenbeck, von Abbas Khider bis Olga Grjasnowa haben sich viele deutschsprachige oder im deutschsprachigen Raum lebende Autorinnen und Autoren des Themas angenommen. Mal mit eigener Migrationserfahrung, mal ohne.
Oft spielen ihre Geschichten in der deutschen Hauptstadt und bilden inzwischen eine Untergattung des "Berlin-Romans". Helon Habila fügt dem jetzt eine literarisch besondere Form hinzu. Der Nigerianer, der seit bald zwanzig Jahren als Dozent in den USA unterrichtet, lebte 2013/14 auf Einladung des DAAD ein Jahr in Berlin.
Sein Werk ist hierzulande noch nicht sehr bekannt, obwohl es in den USA viel beachtet und ausgezeichnet wurde. In Deutschland erscheint jetzt sein aktueller Roman mit dem Titel "Reisen".

Tragische Figuren

Habila orchestriert um seinen Erzähler einen Reigen von Schicksalsgeschichten. Und er tut das auf eine Weise, dass man als Leserin oder Leser das Gefühl hat, in einen Transitzustand zu wechseln.
Was als realistische Ich-Erzählung eines nigerianischen Studenten beginnt, der mit seiner US-amerikanischen Frau nach Berlin kommt, um dort an seiner Dissertation über die Berlin-Konferenz von 1884 zu arbeiten, wird am Ende atmosphärisch zu einer mythischen Parabel, die von der Frage handelt, ob man seines Nächsten Schmerz auf sich nehmen und ihn erlösen kann.
Es sind tragische Figuren, die den Weg von Hebilas Alter Ego kreuzen: Mark, die Transperson aus Malawi. Portia, deren Vater dem "professionellen Exil" verfällt und seine Familie in Sambia vergisst. Der Arzt Manu, der als Türsteher in Berlin arbeitet und jeden Sonntag zum Checkpoint Charlie geht, in der Hoffnung, seine Frau und den kleinen Sohn dort zu treffen. Und die somalische Familie, die viel durchsteht und in Bulgarien schließlich an den Zeugen Jehovas zerbricht.
Und da ist, nicht zuletzt, auch der Erzähler selbst, dessen Leben nach einer Fehlgeburt seiner Frau aus dem Gleis gerät. Habila schickt ihn wie eine Trickster-Figur durch einen afropäischen Kontinent, um im Zeitraffer - immer aus einer ganz gegenwärtigen Situation heraus in Rückblenden - die Schicksale seiner Figuren auszudifferenzieren und miteinander zu verknüpfen.

Menschlich umsichtig, politisch klug

Was Helon Habila im Gegensatz zu journalistischen Berichten schafft: Er zeigt die Vielfältigkeit der Gründe, aus denen sich Menschen auf den Weg machen. Überhaupt zeigt er ihre Vielfalt und die ihrer Biografien. Er verleiht verschiedenen afrikanischen Staaten mit ihren spezifischen politischen Konstellationen höchst individuelle Gesichter, und er sieht Berlin mit fremden, oder vielleicht mit afropolitanen, Augen an. "Erfundene Geschichten sind die Währung der Heimatlosen", schreibt Habila.
Man kann mit ihnen für kurze Zeit gegen den Tod spielen. In dieses todernste Spiel seiner Figuren integriert er selbst Kommentare zur Berliner Kunst- und Aktivisten-Szene und zum Rassismus innerhalb des migrantischen Milieus. Das macht sein Buch so schillernd. Und das macht "Reisen" zu einem menschlich umsichtigen und politisch klugen, einem immer wieder sehr ergreifenden Buch, dem Susann Urban im Deutschen den passenden, gegenwärtigen Sound gegeben hat.

Helon Habila: "Reisen"
Aus dem Englischen von Susann Urban
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2020
320 Seiten, 25 Euro

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