Helmut Lethen über sein Buch "Die Staatsräte"

Fiktive Gespräche mit Gründgens

Gustaf Gründgens als Mephisto während einer Aufführung der Hamburger Gründgens-Inszenierung des Faust im Rahmen der Berliner Festwochen im September 1959.
Gustaf Gründgens als Mephisto - also als "Kraft, die stets das Böse will". Während der NS-Zeit passte sich der Schauspieler an das Regime an. © dpa
Helmut Lethen im Gespräch mit Florian Felix Weyh · 24.02.2018
Durch die Nazi-Zeit lavierten Carl Schmitt, Gustaf Gründgens, Ferdinand Sauerbruch und Wilhelm Furtwängler mit Anpassung. In seiner literarischen Doku-Fiktion "Die Staatsräte" verwickelt Helmut Lethen diese nun in fiktive Gespräche, schwankend zwischen "Faszination" und "Entsetzen", wie er sagt.
Florian Felix Weyh: Keinen Roman, sondern ein Sachbuch der Gattung – tja, wie sagt man das jetzt – Doku-Fiction hat jetzt der Germanist und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen vorgelegt. Ihn begrüße ich im Studio Wien, guten Morgen, Herr Lethen!
Helmut Lethen: Guten Morgen!
Weyh: "Die Staatsräte" heißt Ihr Buch und lässt vier historisch sehr bekannte Figuren, nämlich Gustav Gründgens, Wilhelm Furtwängler, Ferdinand Sauerbruch und Carl Schmitt, mehrfach aufeinandertreffen und miteinander debattieren. Das tun diese Leute in ihrer Eigenschaft – und das ist historisch wahr –, dass sie alle vier nach 1933 preußische Staatsräte von Görings Gnaden waren. Aber sie haben sich in dieser Konstellation nie getroffen – oder doch?
Lethen: Nein, sie haben es vermieden, und Sie glauben gar nicht, wie schwer es war, die vier zusammenzuzwingen. Das musste ich erfinden, sie konnten einander nicht leiden. Sie hätten es im Raum wahrscheinlich keine Stunde ausgehalten, das ist die erste Merkwürdigkeit bei diesen Exzentrikern der Volksgemeinschaft.
Weyh: Das heißt, Sie brauchten selber eine starke psychische Kraft, um vier verstorbene Geistesgrößen zueinanderzuzwingen?
Lethen: Ja, das Buch war verdammt schwer zu schreiben. Das Problem ist, ich war kein Schriftsteller, ein Schriftsteller hätte es vielleicht leichter geschafft. Und ich changiere ja eigentlich in der Haltung zwischen einer großen Faszination gegenüber diesen Halunken mit ihrem Kult des Bösen auf der einen Seite und auf der anderen Seite zwischen dem Entsetzen, in welchem Raum der Lebensblindheit sich ihr Esprit entfaltet.

Grauen der Unterwelt in der friedlichen Blase

Das war nicht einfach. Und ich wollte auf keinen Fall einen didaktischen Roman machen, in dem auf der einen Seite die glänzenden intellektuellen Fähigkeiten und auf der anderen Seite das Mordsystem um sie herum … Das sollte kein didaktischer Roman sein. Dennoch sollte quasi das Grauen der Umwelt einsickern in diese herrliche friedliche Blase ihrer Unterhaltungen.
Weyh: Die Blase lässt sich ja nicht aufrechterhalten, wenn … - das ist ja zeitlich gestaffelt, fängt Mitte der 30er-Jahre an, geht dann bis in die Kriegszeit hinein, diese Treffen, die Sie da erfinden, zusammensetzen aus vorgefundenem Material. Aber es lässt sich ja nicht in einer vollkommenen Blase leben. Oder haben die das wirklich geschafft?
Lethen: Das ist die Frage, das ist ja die Frage. Sie hatten ja Kontakte. Die Kontakte hatte vor allen Dingen Sauerbruch, aber auch Schmitt hatte Kontakte. Schmitts Kontakt war unmittelbarer Draht zu seinem Freund, dem preußischen Finanzminister Popitz, der dann den Weg des Widerstands geht, bis 1943 ist er auf der Schauseite des Nationalsozialismus. Aber es passiert etwas gegen das Lebensmotto von Carl Schmitt, ein Lebensmotto, das hieß: Das Leben kräftigt sich am Bösen, Moral leitet es ab in den Tod. Und sein Freund, der preußische Finanzminister, geht aus moralischen Gründen, gleitet ab in den Tod. Und Sauerbruch, das ist ein unglaublicher Filou. Auf der einen Seite stimmt er Menschenexperimenten zu, auf der anderen Seite gibt er sein Haus frei zur Versammlung von Widerständlern. Und er glaubt, als letzter Leibarzt von Hindenburg ist er unangreifbar.
Weyh: Sie schreiben einen sehr treffenden Satz: Ihr Schicksal, sie wollten ihr Leben führen und wurden geführt. Aber die glauben doch die ganze Zeit, dass sie die Zügel in der Hand haben?
Lethen: Ja und nein. Also Schmitt als Staatsrechtler erlebt sein großes Fiasko 1936, wo er von SS-Juristen, die einfach besser dem System passen, abgeschossen wird. Er verliert war nicht seinen Lehrstuhl, er darf weiter publizieren, aber sein großes Verlangen, das Ohr des Machthabers als Souffleur zu erreichen, das ist absolut misslungen. Er schreibt aber weiter, und dann passiert was sehr Merkwürdiges: Seine Schrift von 1939 über Völkerrecht und Großimperium des Deutschen Reiches wird ganz genau wahrgenommen und Hitler zitiert Passagen aus dieser Schrift in einer großen Rede, und Schmitt wird aber verboten, darauf aufmerksam zu machen, dass er eigentlich die Quelle ist. Also er bleibt am Ball!
Weyh: Er ist einerseits geschmeichelt, dass er am Ball ist, andererseits wittert er aber vermutlich doch, dass das einen schlimmen Ausgang nehmen kann?
Lethen: Er ist einer der Ersten, also unter dieser Liga, von denen man weiß, dass er absolut mit einer Niederlage in diesem Krieg rechnet, ab, ja, wahrscheinlich ab Stalingrad.
Weyh: Nun haben wir gerade zweimal über Carl Schmitt geredet, der ist überpräsent, weil er selbst eben so viel geschrieben hat. Was haben Sie für Quellen bei Furtwängler, bei Gründgens oder bei Sauerbruch, wenn Sie die Dialoge nicht erfinden? Sie erfinden ja sehr wenig, sondern sozusagen konstruieren oder collagieren.

Intime Journale von Carl Schmitt

Lethen: Bei Schmitt ist die Lage ja wahnsinnig. Ein Mann, der selbst seine intimen Journale nicht verbrannt hat, das ist ja ganz selten, sodass man bis heute über seinen Fähigkeiten zur Ejakulation Bescheid weiß. Also das gibt es ja in der gelehrten Welt sonst nie. Bei den anderen sind es Memoiren, Literatur und Biografien und die verstreuten kleinen Essays und Aufsätze und Notizen, die man von ihnen weiß. Also das Archivmaterial im Fall Schmitt ist zehnmal so groß wie bei den anderen.
Weyh: Er ist tatsächlich auch – aber vielleicht liegt das daran, weil es das meiste Material ist – die faszinierendste Gestalt für mich als Leser darin. Es gibt da ein Zitat, das muss man vorlesen: Für drei Dinge danke ich Gott – und das hat er erst 1951, also nach dem Krieg geschrieben –, erstens dass ich ein Mensch bin und kein Tier – kann man noch nachvollziehen –, zweitens dass ich ein Mann bin und keine Frau – schon ziemlich widerwärtig –, drittens dass ich ein preußischer Staatsrat bin und kein Nobelpreisträger. Das war ihm unglaublich wichtig, noch sechs Jahre nach dem Krieg!
Lethen: Ja, das ist völlig unbegreiflich. Ich meine, die ersten Staatsräte wurden in der Rhöm-Nacht schon, drei Stück wurden ermordet, und er hat ja wahnsinniges Glück gehabt, dass er quasi da ausgebootet worden ist. Sonst hätte man ihn wie seinen großen Vorgesetzten Frank natürlich in Nürnberg hingerichtet.
Weyh: Hans Frank.
Lethen: Ja. Das ist schon merkwürdig. Bei dem Nobelpreisträger, das zielt auf Ossietzky, …
Weyh: Ah, das erklärt es natürlich, ja.
Lethen: … dem der Nobelpreis zugeordnet war und den das … Das Dritte Reich hat ihn nicht aus dem Konzentrationslager entlassen dafür. Ich habe ja mit allen dreien etwas gemacht, was mir vielleicht auch den Ruf in der "Süddeutschen Zeitung" eingebracht hat, ich hätte einen Ärzteroman geschrieben – was natürlich erstens meinen Selbstverdacht bestätigt, aber auf der anderen Seite auf ein wichtiges Konstruktionsprinzip des Buches hinweist: Ich habe all diese großen Geister mit einem Körperbau versehen. Und Schmitt ist nicht nur ein Theoretiker, sondern er ist auch der Pykniker, das kleine, schwerbäuchige Carlchen. Und der baumlange Furtwängler ist eben Leptosom. Und Gründgens muss ja den Athletiker dann spielen. Und Sauerbruch wendet diese Kategorien alle auf die an und versucht, die einzuordnen als schnelle Orientierungsgabe, tappt aber zunehmend im Dunkeln, er kommt mit diesen Schemata nicht weiter. Und trotzdem, die großen Geister müssen sich im Körperbau bewegen. Damit wollte ich die Sache anschaulicher machen. Und das hat jetzt den Ruf des Ärzteromans wahrscheinlich begründet.
Weyh: Deutschlandfunk Kultur, die "Lesart" mit politischen Büchern. Helmut Lethen, Autor des Buches "Die Staatsräte" ist noch da. Herr Lethen, Sie haben die nicht sehr schmeichelhafte Kritik in der "Süddeutschen Zeitung" gerade erwähnt, mich hat die ja ein bisschen erstaunt, weil mir Ihr Buch sehr gut gefällt. Da ist unter anderem der Vorwurf, dass Sie ein Metabuch geschrieben haben und kein Buch, das genügend Information liefert. Ist das nicht ein bisschen seltsam in unserer Zeit?

"Konformitätsdruck des Nähebereichs"

Lethen: Ja, ich meine, das war ein sehr guter Journalist in der "Süddeutschen Zeitung", der das geschrieben hat, und ich finde, einen Punkt hat er großartig herausgearbeitet, einen Kritikpunkt, den ich selbstkritisch sagen würde, da hat er recht. Er hat gesagt, der Lethen hat es versäumt, den Konformitätsdruck des Nähebereichs miteinzubeziehen, also zum Beispiel der Familien.
Weyh: Die kommen nicht vor.
Lethen: Die kommen nicht vor, die Familie von Sauerbruch nicht, bei Gründgens wäre es schwer gewesen, eine Familie zu erfinden, aber bei Schmitt zum Beispiel, das wäre auch wirklich eine interessante Familienkonstellation gewesen, obwohl dessen Frau Duska ihn ja in antisemitischen Äußerungen noch geradezu übertroffen hat. Das ist richtig. Und dann habe ich mir gedacht, wie kommt es, warum achtet der Rezensent so darauf? Und da dachte ich, das ist eigentlich ganz klar, das ist ja ein großer Mann, der Jens Bisky, das ist seine Geschichte, der Konformitätsdruck des Nähebereichs. Verstehen Sie?
Weyh: Weil er aus der Familie Bisky kommt, der DDR.
Lethen: Das ist quasi, er weiß viel mehr als ich über das Überleben in Diktaturen.
Weyh: Es gibt einen Schlusssatz von Ihnen, den muss ich jetzt sozusagen anschließen, so eine Art Nachwort.
Lethen: Das müssen Sie, klar!
Weyh: Da steht: Marcel Beyer, ein Schriftsteller, fragte mich, ob ich im Buche eher auf eine Verankerung im Jetzt und in der Welt um uns abziele, oder ob ich mich als höflicher Torrero gewissermaßen ganz darauf konzentriere, den Figuren ins Auge zu sehen. Sie antworten dann ein bisschen sibyllinisch: Eine schwierige Frage, man wird sehen, wie ich sie gelöst habe. Herr Lethen, lassen Sie mich nicht sibyllinisch im Regen stehen! Wie haben Sie sie gelöst, hat das was mit uns heute zu tun?
Lethen: Erstens, Marcel Beyer hat später das Buch gelesen und ich war ganz überrascht und stolz, dass er es ein hinreißendes Buch fand. Und Sie sind so höflich, den letzten Satz nicht zu nennen, wo ich sage: Natürlich, das Buch steht unter Strom, es ist auch eine indirekte Auseinandersetzung mit der neuen Rechten, das ist ganz klar.
Weyh: Können wir das ein bisschen präzisieren, inwiefern das eine Auseinandersetzung ist mit dem Faszinosum, den eben so eine totalitäre Staatskonstruktion ausmacht? Zum Beispiel bei Schmitt ja ganz klar zu sehen, dieses Faszinosum!

"Kritischer Blick auf die Studentenbewegung"

Lethen: Zwei Elemente würde ich betonen. Das erste Element ist, dass … Ich habe ein Kapitel, da steht "Gespräch in Plettenberg über die Entscheidung" und "Der letzte Atemzug der heroischen Moderne". Das ist ein kritischer Blick auf die Studentenbewegung, wo es plötzlich so aussah, als wenn es überhaupt auf unsere Entscheidung wie da mal ankäme.
Weyh: Damals.
Lethen: Damals habe ich das gedacht. Und ich glaube, die neuen Rechten denken das heute wieder.
Weyh: Dass so ein Dezisionsmoment da ist?
Lethen: Ja. Ich glaube also, wenn ich sage: der letzte Atemzug der heroischen Moderne, dann gibt es offensichtlich eine ganze Reihe auch einander folgender letzter Atemzüge, bevor man eigentlich den faulen Zauber zu Grabe tragen könnte, das ist die eine … Auf der anderen Seite habe ich mir Gedanken gemacht über die Idee der Volksgemeinschaft und die Identität der Volksgemeinschaft. Und da gibt es ja in dem Gespräch in Carinhall, was ich erfinde, lange Passagen dazu, dass die Volksgemeinschaft …
Das ist wie ein Trichter: Erst schält man aus der Volksgemeinschaft Kommunisten und Sozialdemokraten, dann schält man flächendeckend die Juden ab, dann Roma und Homosexuelle, um einen Punkt der Identität des deutschen Volkes zu erreichen. Und wenn man den erreicht hat, hört man aber: Davon kann keine Rede sein! Die Herrenrasse der SS muss in vielen, vielen Jahrhunderten erst diese Identität des deutschen Volkes herausarbeiten! Und das scheint mir gegenüber dem Ursprungsdenken der neuen Rechten ein ganz, ganz wichtiger Punkt zu sein, das Ritual der Exklusionsmechanismen, wie das sich weiterdreht, bis sich eigentlich gar nichts mehr außer einer kleinen Elite herausfiltert.
Weyh: Also die Exklusion fällt auf mich irgendwann selbst zurück, weil ich mich selbst abscheide in der Totalität?
Lethen: Ja. Und alle vier begreifen plötzlich – 44 lasse ich sie es begreifen –, sie gehören alle zu Zersetzungsgemeinschaften, die aus der Volksgemeinschaft herausgefallen sind.
Weyh: Stichwort, auch das kommt in der Bisky-Kritik vor: Es ist der Sound, den Sie da erzeugen wollen. Das wollten Sie auch, Sie wollten einen Sound einer Zeit erzeugen, einen intellektuellen Sound der Anpassung des manchmal Gewagten und Zynischen, das Kalten?
Lethen: Ja, das wollte ich. Dass es nun so klingt wie ein Ärzteroman, das hatte ich nicht beabsichtigt, aber es erheitert mich, denn Ärzteromane haben ja eine relativ hohe Auflage.
Weyh: Das ist ein schönes Schlusswort, Herr Lethen, vielen Dank! Wir sprachen über "Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich. Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt", Rowohlt Verlag Berlin hat es herausgebracht, 352 Seiten kosten 24 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur/Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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